Chapter 5: „Liebe?"

Die Gassen waren menschenleer. Kein Wunder, schließlich war es weit nach Mitternacht. Der Regen hatte stärker zugenommen. Yais Kleidung war durchnässt. Das Wasser tropfte ihr von der Nasenspitze. Chaud hatte sich langsam wieder gefasst und stützte sich leicht an ihrer Schulter. Ein Stück roter Stoff war um seinen Hals gebunden und dichtete die Schnittwunde ab. Er fühlte sich schwach, versuchte diese Tatsache jedoch so gut wie möglich zu verstecken. Er hatte Yai in diese schwierige Lage gebracht und spürte, wie sehr sie sich um ihn sorgte, obwohl er sie nicht verstehen konnte… Warum tat sie das alles für ihn? Empfand sie etwa etwas für ihn? Oder war das die Revanche für die Aufzugsgeschichte? Er wollte es genauer wissen. „Yai? Warum tust du das alles für mich…?" Yai hatte sich vollkommen auf die dunkle Straße konzentriert und suchte vergeblich, nach einem sicheren Unterschlupf. Chauds Frage warf sie aus dem Rahmen. „Was..? Warum fragst du das jetzt? Ist doch im Moment egal! Wir sollten uns erstmal vor diesem wahnsinnigen verstecken." Als sie zu Chaud aufsah bemerkte sie, dass er sie ansah. Ihre Wangen färbten sich leicht rötlich, doch eifrig schüttelte sie den Kopf. „Warum guckst du mich so an?" fragte sie zittrig. „Es ist nichts…." antwortete er matt und wendete seinen Blick ab. „Da! Dort können wir uns verstecken!" lenkte Yai ab und deutete auf eine Lagerhalle, die wohl nicht mehr benutzt wurde. Zusammen schoben beide die rostigen Eisentüren zur Halle auf und schlossen sie hinter sich. Auch hier war es stockfinster. Es gab weder Kerzen noch sonstige Lichtquellen. Yai tastete durchs Dunkel und sie hatte Glück. Eine alte Wolldecke lag in der Ecke. Chaud setzte sich auf einen Stapel alter Zeitschriften und lehnte sein Ohr wachsam an die Tür. Yai reichte ihm die Decke. „Hier! Du erfrierst ja noch!" murmelte sie „Deine Kleidung ist doch vollkommen durchnässt und Fieber hast du auch noch…" Chaud schaute zur Decke und dann zu Yai. „Du zitterst doch selbst…Nimm du sie lieber!" sagte er leise. Seine blauen Augen funkelten selbst in der Dunkelheit. Yai konnte seinen Augen einfach nicht widerstehen, so sehr sie sich auch bemühte seinem Blick auszuweichen. Da sich Yai nicht rührte und immer noch zitterte, beschloss Chaud was zu unternehmen. Als wäre es nichts, nahm er Yai wie ein kleines Mädchen auf die Knie und wickelte sie beide in die modrige, aber warme Decke ein. Yai stutzte. „Was soll das..?!" rief sie panisch. „So bleiben wir beide warm, oder?" erklärte Chaud und drückte Yais Kopf an seine Brust. Es war so warm und angenehm, bei ihm zu sein.

Yai kuschelte sich unbewusst an seinen nassen und weichen Körper, der eine ungeheure Wärme verbreitete. Etwas peinlich berührt sah sie nach einer Weile hoch. Was tat sie da eigentlich? Was dachte er sich eigentlich? Beide rührten sich nicht. Chaud nutzte die Stille zur Erholung, während Yai bei jedem kleinsten Geräusch eine Gänsehaut bekam. Die Balken über ihnen knarrten, ab und an lief eine Ratte quiekend durch den Raum, irgendwo fuhr ein Krankenwagen vorbei. Diese scheinbare Stille machte ihr Angst. Jetzt erst realisierte sie, in welcher Lage sie war. Sie war in höchster Lebensgefahr, konnte zu niemandem und war ganz auf sich allein gestellt. Yai war hoffnungslos überfordert. Wie sollte sie das alles schaffen? Sie spürte wie ihre Augen glasig vor Tränen wurden, doch sie konnte sich das Weinen nicht länger verkneifen. Sie fühlte sich so allein.

„Du hast wirklich eine große Stirn…" flüsterte Chaud ihr plötzlich ins Ohr und grinste, als er Yais Tränen bemerkte. Yai verdrängte sofort ihre Tränen und setzte ein Schmollgesicht auf. Das war ja wohl eine Frechheit! Sie war empört. „Ja und? Das hast du schon mal gesagt! Der Herr wird auch nicht kreativer!" kaum hatte sie ihren Satz zu Ende gesprochen, merkte sie, dass er sie sanft auf die Stirn küsste. Vollkommen überrumpelt sah sie zu ihm hoch. „Sie lud grade so zum Küssen ein…." ergänzte Chaud freudig und drückte Yai noch näher an sich. Yai lief röter als rot an, brachte aber kein Wort heraus. „Weißt du…Yai….Ich habe auch Angst. Ich sagte dir doch, dass jeder einmal Angst hat, aber vergiss eins nicht; Du bist nicht allein. Ich bin doch bei dir…" Chaud hob ihren Kopf ein wenig nach oben, sodass sie in selber Höhe waren und küsste sie erneut, doch diesmal auf den Mund. Yais Herz klopfte mit einem Mal, rasend schnell. Das war ihr erster Kuss! Aber war es auch sein erster? Bestimmt nicht! Ein Typ wie Chaud hatte doch sicher schon dutzend Freundinnen gehabt. Verlegen drehte sie ihren Kopf von ihm weg. Er spielte doch nur mit ihr! Der Gedanke machte sie verrückt. Sie war sich doch selbst nicht sicher, was sie für ihn empfand. Vielleicht wollte sie das gar nicht. „Hör auf…." murmelte sie „…solche Spiele find ich gar nicht witzig. Es macht dir doch Spaß mich zu ärgern!" ihre Stimme klang schärfer als sie erwartet hatte. Chaud lehnte seinen Kopf zurück an die Wand „….Tut mir leid…aber es war kein Spiel. Für mich jedenfalls nicht…" Chauds Worte verursachten einen riesigen Kloß in Yais Hals. Meinte er das ehrlich? Aber was machte es schon…selbst wenn es wahr wäre. Sie liebte ihn doch nicht! Oder? Ihre Augen wanderten langsam nach oben. Im Halbdunkeln sah sie das ernste Funkeln in seinen Augen. Sie waren so wunderschön. Dieser Kuss, war er auch nur so kurz, war ebenso schön. Wie eine Wärmewelle hatte er ihren ganzen Körper berauscht. Plötzlich tat es ihr leid, dass sie sich abgewendet hatte. „Chaud?" „..hm?" Chaud schloss seine Augen und atmete tief aus. Yai konnte spüren, wie anstrengend das alles für ihn war. Würde er in so einer Situation ernsthaft scherzen? „Meintest du das wirklich…" sie zögerte einen Moment, bis er die Augen wieder aufschlug. Das gab ihr neuen Mut „...wirklich ernst?" Chaud lächelte schwach und streifte ihr sanft durch die feuchten Haare. „Das überlasse ich dir…" Liebevoll nahm er Yai in den Arm und schlief erschöpft ein. „Ja….ich glaube es einfach…" flüsterte sie vor sich hin und konnte den Schlaf auch nicht mehr widerstehen. Wie aussichtslos die Lage schien, wie sehr sie sich auch fürchtet oder fror, tief in ihrem Herzen war sie sich dennoch sicher…ja! Sie hatte sich in Chaud verliebt.