Kapitelchen 2

Als Harry frisch geduscht hinunter in die Küche kam, fand er einen reich gedeckten Tisch vor. Neben den vielen Leckereien lagen, außer dem Paket, welches die Adlereule ihm vor etwa einer halben Stunde gebracht hatte, noch sechs weitere Pakete, jeweils mit einer kleinen Karte versehen.
Am liebsten hätte sich Harry sofort auf die Pakete gestürzt, aber er wollte sich zusammen reißen. Selbst wenn niemand sein Verhalten mitbekommen hätte, auch Dobby war nirgends in der Küche zu sehen, er war doch kein kleines Kind mehr. Immerhin ging er so langsam auf die dreißig zu, dachte er sich.
Bei diesem Gedanken musste er unwillkürlich grinsen.
Erst kürzlich hatte er Hermine diese Worte an Ron gerichtet sagen hören, als jener sich über einen Sieg im Zauberschach gegen sie so sehr gefreut hatte.
Dabei hatte er fast den Stuhl in zwei gebrochen, auf dem er kurz zuvor noch gesessen hatte.
Harry konnte Hermine verstehen; Ron gewann ausnahmslos jedes Mal dieses Spiel und man konnte schon daran verzweifeln.
Wieder einmal riss sich Harry aus seinen Gedanken und setzte sich an den einladend aussehenden Tisch, um jedoch sofort wieder aufzuspringen, als ein lauter Knall die Stille der Küche zerriss.
Hektisch blickte Harry umher, denn er wusste was dieses Geräusch zu bedeuten hatte. Ein Zauberer war so eben in die Nähe seines Hauses apperiert.
Gerade machte Harry sich auf den Weg zur Haustür, um draußen nach dem Rechten zu schauen und eventuell den Verursacher des Geräusches zu entdecken, als es plötzlich an der Tür klopfte.
Der kleine Schauder, der sich über Harry gelegt hatte, verschwand nun wieder und er ärgerte sich leicht über sich selbst. Die Zeiten waren längst nicht mehr so schlecht; es war nicht zu befürchten, dass ihm noch jemand etwas Böses wollte. Zumindest nicht in dem Maße, wie es einige Jahre gewesen war.
Warum also geriet er bei jeder Kleinigkeit in Panik? Jedenfalls wollte jemand, der friedlich an seine Tür klopfte, sicher nichts Böses von ihm.
So setzte er also, nachdem er kurz gestockt hatte, seinen Weg zur Haustür fort.
Am Ende des langen Flures öffnete er die Tür.
„Professor Dumbledore", rief er und bemerkte, dass seine Stimme nun fast wieder so jungenhaft klang, wie einst, als er zum ersten Mal die Gründe von Hogwarts betreten hatte.
„Albus", korrigierte ihn der weißhaarige Mann mit dem langen Bart.
Harry erwiderte daraufhin nichts, denn er konnte ihn einfach nicht beim Vornamen nennen, gleich wie nah sie sich waren, für ihn blieb er immer Professor Dumbledore. Der beste Schulleiter, den die Zaubererwelt je gesehen hat, wiederholte er die Worte in seinem Kopf, die Hagrid bei ihrem ersten Zusammentreffen gesagt hatte.
Einen Moment standen die beiden voreinander und betrachteten sich nur schweigend, Harry vor Freude wild grinsend und Dumbledore wie immer freundlich lächelnd und dabei doch so alles durchbohrend.
Dumbledore fand als erster seine Sprache wieder: „Einen frohen Geburtstag und ein angenehmes, von Leid freies neues Lebensjahr, wünsche ich dir Harry".
Während er sprach streckte er Harry seine Hand entgegen und einen kleinen Moment wünschte sich dieser mehr als alles andere auf der Welt eine Umarmung von diesem Mann. Doch im nächsten Moment wunderte er sich über sich selbst und ergriff seine Hand.
„Dobby hielt es wohl für eine gute Idee mich zu einem Geburtstags-Frühstück zu dir einzuladen", sagte Dumbledore und machte Anstalten Harrys Hand loszulassen.
Doch Harry packte seine Hand umso fester; er hatte das Gefühl es nicht ertragen zu können sie loszulassen.
Dumbledore blickte einen Moment erstaunt, doch im nächsten Augenblick hatte sich Harry schon überwunden loszulassen.
Er verstand nicht, was mit ihm los war, wollte jetzt aber nicht weiter darüber nachdenken, also sagte er nur: "Vielen Dank Professor; es war wirklich eine gute Idee von Dobby sie einzuladen, ich freue mich sehr".
Vielleicht etwas zu sehr, schoss es Harry durch den Kopf.
„Kommen sie doch rein; das Frühstück steht schon bereit".
Als die beiden in der Küche angekommen waren, wunderte es Harry, dass er nicht schon vorher das zweite Gedeck bemerkt hatte, denn Dobby aß nie mit ihm gemeinsam; er war der Meinung dies gehöre sich für einen Hauselfen nicht.
„Fühlt sich Dobby noch immer so wohl bei dir?", fragte Dumbledore, offensichtlich etwas unangenehm berührt, weil er merkte, dass Harry heute keinen besonders klaren Kopf hatte.
„Und ob", sagte Harry. „Ich denke es war das richtige ihn damals aus Hogwarts heraus zu holen".
„Hermine erzählte mir kürzlich, dass er bei dir eine eindeutig bessere Bezahlung bekommt", sagte Dumbledore, seine rechte Augenbraue hochziehend.
„Oh ja, allerdings. Zugegebenermaßen aber nur, weil Hermine mich sonst nie in Ruhe gelassen hätte. Dobby hätte unter anderen Umständen niemals zugestimmt", antwortete Harry lächelnd und bemühte sich nicht wieder mit den Gedanken abzuschweifen und an die Gründungs-Tage B.ELFE.Rs zu denken.
„So nun aber genug Smalltalk", sagte Harry und deutete auffordernd auf den köstlich gedeckten Tisch.

Nachdem die beiden satt und zufrieden ihre Servietten auf die Teller fallen ließen, betrachtete Dumbledore Harry aufmerksam, doch der bemerkte dies nicht, denn er blickte neugierig von einem Paket zum nächsten.
„Möchtest du nicht deine Geburtstagspost öffnen?", fragte Dumbledore, dem natürlich Harrys sehnsüchtige Blicke nicht entgangen waren. Doch vor Dumbledore wollte Harry seine Aufregung noch weniger, als vor allen anderen zeigen und so richtete er nun seinen Blick auf Dumbledore.
„Das hat Zeit". Er machte eine kurze Pause, um erneut den Blick über die Pakete schweifen zu lassen und sprach dann weiter.
„Wir haben uns lange nicht mehr gesehen, es gibt doch bestimmt einige interessante Neuigkeiten". Harry zielte mit dieser Feststellung auf etwas ganz bestimmtes ab und wartete nun gespannt, ob sein ehemaliger Schulleiter den Wink verstehen würde. „Sicher, sicher", sagte dieser und hielt einen Moment inne, offensichtlich abwägend, was er erzählen sollte.
„Du hast sicher schon von der traurigen Tatsache erfahren, dass Professor Sprout Hogwarts verlassen hat, um zusammen mit ihrem Mann nach Australien überzusiedeln?", fragte er dann.
Harry nickte nur und wartete weiter, ob Dumbledore ihm die, für ihn weitaus interessanteren Neuigkeiten verraten würde.
„Ich habe mich trotz des Abschiedsschmerzes natürlich sehr darüber gefreut einen so begabten Ersatz für sie gefunden zu haben", erzählte Dumbledore weiter.
„Neville ist ebenfalls sehr glücklich darüber", erwiderte Harry knapp.
Dumbledore schaute ihn freundlich an und machte nicht den Eindruck, als hätte er das Bedürfnis noch etwas loszuwerden, darum entschied sich Harry selbst die Initiative zu ergreifen.
„Es geht das Gerücht um, dass in nicht all zu langer Zeit noch jemand seinen Posten in Hogwarts aufgeben wird", sagte er und schaute sein Gegenüber ernst an, um sich auch nicht die kleinste Reaktion in dessen Gesicht entgehen zu lassen.
Dumbledores Gesicht schien augenblicklich zu versteinern; dann senkte er den Kopf und betrachtete seine Hände, die er zusammen gefaltet auf den Tisch gelegt hatte. „Ich hatte ihn gebeten diese Sache vertraulich zu behandeln".
„Es ist also wahr?", fragte Harry aufgebracht.
Nach einer kurzen Pause antwortete Dumbledore, blickte dabei jedoch weiterhin auf seine Hände, was Harry von ihm gar nicht kannte.
„Ich fürchte ja, Harry".
Hagrids trauriges, gerötetes Gesicht, als er ihm die Sache anvertraut hatte, kam Harry in den Sinn.
„Er hat es nicht mit Absicht getan, wissen sie. Er würde sie nie verraten. Er hatte ein bisschen was getrunken und brauchte jemanden, um sein Herz auszuschütten, denn er ist noch geschockter als ich von dieser Angelegenheit. Und da ich nun mal sein
bester …".
Dumbledore unterbrach ihn und hob endlich seinen Kopf.
„Es ist in Ordnung Harry. Er hält mir schon seit Jahren die Treue und früher oder später hättest du es sowieso erfahren." Er seufzte und sprach dann weiter: „Lass es mich erklären; ich habe meine Gründe".
Wieder nickte Harry nur.
Er hatte die Hoffnung gehegt, Hagrid hätte etwas falsch verstanden oder die Sache überdramatisiert, doch nun hatte er erfahren, dass dies nicht der Fall war.
Dobby wäre sicher enttäuscht zu hören, dass Harrys Wunsch beim Kerzen auspusten nicht in Erfüllung gegangen war.
Aber noch war es nicht zu spät, dachte er. Er konnte noch versuchen ihn zu überzeugen.
„Ich bin alt Harry. Hogwarts sollte nicht weiter von einem so exzentrischen Zausel wie mir geführt werden. Der Nachwuchs ist nun an der Reihe. Minerva McGonagall wird eine erstklassige Schulleiterin abgeben, wenn sie sich bereit erklärt meinen Posten zu übernehmen".
Einen Moment war Harry davon belustigt, dass Dumbledore seine Kollegin als Nachwuchs bezeichnet hatte.
„Aber sie können Hogwarts nicht im Stich lassen, es braucht sie; die Schüler brauchen sie", sagte er dann.
„Ich lasse Hogwarts doch nicht im Stich, Harry. So lange ich noch auf Erden wandeln darf, werde ich immer für die Schüler und auch die Lehrer Hogwarts da sein, wenn ich gebraucht werde. Die wirklich schlimmen Zeiten scheinen vorbei zu sein, also wird es Zeit für mich zu gehen."
Harry wollte weiter protestieren, doch durch ein leises Klopfen am Küchenfenster wurde er abgelenkt.
Wieder hatte eine Eule den Weg zu Harrys Haus gefunden. Harry stand auf, jedoch nicht ohne Dumbledore einen trotzigen Blick zu versetzen, der ihm bedeuten sollte, dass ihr Gespräch noch nicht beendet war.
Als er das Fenster geöffnet hatte, flog die grau-weiße Eule, deren Art Harry nicht zu bestimmen vermochte, direkt auf Dumbledore zu und landete vor ihm auf dem Küchentisch.
Dieser band nun den Zettel von dem Bein, welches ihm die Eule entgegenstreckte, los, streichelte einmal kurz liebevoll über den Kopf des Tieres, so dass es den Eindruck machte, als ob sie ihm nicht unbekannt wäre und entfaltete dann den Zettel.
Harry war es gar nicht recht mitten in ihrem Gespräch unterbrochen worden zu sein. Er hatte das Überraschungsmoment nutzen wollen, um ihn doch noch umzustimmen. „Ich muss dich leider schon verlassen", sagte Dumbledore nachdem er den Brief gelesen und in seiner Umhangtasche verstaut hatte.
„Aber …", begann Harry, doch Dumbledore unterbrach ihn erneut.
„Es tut mir wirklich leid, Harry, aber es handelt sich um eine unaufschiebbare Angelegenheit. Ich würde mich freuen, wenn du uns mal wieder in Hogwarts besuchen würdest, du wirst sicher überrascht sein wie viel sich verändert hat." „Einverstanden, ich werde sobald wie möglich vorbei schauen", erwiderte Harry und reichte Dumbledore die Hand.
Kurz darauf war Dumbledore, begleitet von einem lauten Knall, verschwunden.
Noch immer entsetzt und traurig darüber, dass Dumbledore tatsächlich sein Amt niederlegen wollte, stand Harry noch einen Moment unentschlossen mitten in der Küche.
Dann fiel sein Blick erneut auf die vielen Päckchen auf dem Küchentisch und endlich machte er sich daran diese auszupacken.
Ein Paket enthielt eine weitere buntverzierte Torte, die ihm Mrs. Weasley geschickt hatte.
Das nächste Paket war von Dobby und als er es öffnete kamen ein paar verschiedenfarbiger Socken zum Vorschein.
Wie jedes Jahr, dachte Harry lächelnd. Das Schlimme war nur, dass er dadurch, dass Dobby bei ihm wohnte auch gezwungen war die vielen Paare selbst gestrickter Socken, die er inzwischen zu seinem Eigentum zählen konnte, auch tatsächlich zu tragen, um Dobby nicht zu enttäuschen.
Er schnappte sich einen Briefumschlag, der an dem winzigsten Paket festgebunden war und öffnete ihn. Bisher hatte er die beiliegenden Briefe nur überflogen mit der Absicht sie später in Ruhe noch einmal sorgfältig zu lesen, doch bei diesem Brief stockte er, als er das Wort Hochzeit las.
Noch einmal fing er an den Brief zu lesen, diesmal aufmerksamer.

Lieber Harry,
wir wünschen Dir alles Gute zum Geburtstag und hoffen, dass Du diesen Tag angenehm verbringen wirst. Anbei eine kleine Aufmerksamkeit von uns, wir sind sicher, sie gefällt Dir. Bei dieser Gelegenheit wollen wir Dich herzlich zu unserer Hochzeit einladen; eine förmliche Einladung mit den genauen Daten wirst du in den nächsten Tagen erhalten. Noch mal alles Liebe.

Herzlichst Neville und Ginny

Harry war entsetzt. Ginny würde heiraten.
Fast eine Ewigkeit hatte Ginny augenscheinlich ein Auge auf ihn geworfen gehabt und Harry hatte dies meist einfach ignoriert. Doch jetzt schien sein Herz bei dem Gedanken zu zerreißen, dass er keine Chancen mehr hatte sie für sich zu gewinnen. Der Kuss, den er damals am Ende seines siebten Schuljahres von ihr bekommen hatte, war besser gewesen, als alles was er bisher erlebt hatte. Nicht einmal fliegen war schöner, dachte er.
Aber er hatte ihr danach gesagt, dass er kein Interesse an ihr habe und dies auch nicht besonders feinfühlig ausgedrückt, so dass sie weinend davon geeilt war.
Doch in Wahrheit mochte er sie sehr; es war zu dieser Zeit einfach viel zu viel passiert und er hatte keinen Kopf für derartig banale Dinge wie Liebe.
Ein lautes „Ha" entfuhr Harry, als er sich erinnerte, wie dumm er damals gewesen war.
Tatsächlich, nicht Neville war nun der Dumme, sondern er.
Wie konnte Ginny sich in einen solchen Tollpatsch verlieben, dachte Harry und diesmal tat es ihm nicht sofort leid.
Aber er mochte Neville zu sehr, um ihn dafür zu hassen, dass er sein Leben mit Ginny verbringen würde und er, Harry, weiter allein blieb. Es war nur ihm selbst zuzuschreiben und das wusste er nur allzu gut.
Um sich abzulenken, öffnete er nun das Geschenk von dem zukünftigen Ehepaar. Eine kleine Kiste kam zum Vorschein auf dessen Rückseite ein kleiner Beschreibungstext zu lesen war.
„Der Zacho ist der einzig wahre Freund des Suchers. Durch seine neuartige, unzerstörbare Halterung, zeigt er ihm in jeder Situation während des Quidditch-Spieles den aktuellen Spielstand, so dass der Sucher sich voll auf das Spiel konzentrieren kann, ohne dem Stadionsprecher lauschen zu müssen oder seine Blicke an die Anzeigetafel zu verschwenden."
Das war ein äußerst praktisches Geschenk und Harry wunderte sich, dass er noch nie etwas von diesem Gerät gehört hatte.
Nacheinander öffnete er die weiteren Pakete, die zumeist allerlei nützliche magische Hilfsmittel enthielten. Von Fred und George bekam er einige seltsam aussehende Kekse, die er allerdings nicht probieren würde, so lange er nicht wusste, welche Wirkung in ihnen steckte.
Als er das Buch mit dem Titel „Neuentdeckte Geschöpfe", das er von Hagrid bekommen hatte, zur Seite legte, bemerkte er, dass nur noch ein Paket unausgepackt auf dem Tisch lag.
Es handelte sich um jenes, dass die Adlereule am frühen Morgen gebracht hatte.
Nachdem Harry den, für seinen Geschmack viel zu langen (er wollte endlich das Geschenk aufmachen) Brief von seinen Kollegen zu Ende gelesen hatte, grinste er über beide Ohren.
Jeder seiner vielen Kollegen hatte einen kleinen Absatz mit ihren persönlichen Glückwünschen an ihn gerichtet.
Besonders hatten ihn die Sätze von Moody gefreut.
Ich werde ein ganz großer werden, dachte Harry, na hoffentlich hatte er damit recht. Endlich schnappte er sich nun das, liebevoll in Geschenkpapier eingewickelte, Paket und betrachtete einen Moment die kleinen Zauberergestalten, die mit ihren Mini-Zauberstäben winzige Blumensträuße hervor zauberten.
Dann hielt er es nicht länger aus.
Bonny Acute hatte geschrieben, dass sie dies für ein äußerst nützliches Geschenk hielt und es am liebsten selber behalten hätte.
Er riss das Papier auf und hatte eine Art Deja-vu-Erlebnis.
Vor einigen Jahren, damals war es jedoch zu Weihnachten gewesen, hatte er schon einmal etwas Derartiges ausgepackt. Damals hatte ihn Ron aufklären müssen, um was es sich handelte; heute wusste er dies natürlich, denn er hatte es unzählige Male benutzt – bis zu dem Tage an dem es zerstört worden war.

Alle starrten auf Neville, der mit gesenktem Kopf immer und immer wieder seine Augen über die Zeilen des Briefes in seiner Hand streifen ließ.
Noch vor ein paar Minuten hatte er sich so sehr über die ankommende Eule gefreut. „Die muss meine Großmutter geschickt haben", hatte er fröhlich gerufen.
„Ich habe dir doch gesagt, dass sie dein Weihnachtsgeschenk nicht vergessen hat", hatte Ron daraufhin gesagt und ihm dabei auf die Schulter geklopft.
Doch nun war das glückliche Lächeln auf Nevilles Gesicht verschwunden.
„Neville, was …", begann Harry, doch Hermine bracht ihn mit einem viel sagendem Blick zum Schweigen.
Ginny schritt langsam auf Neville zu; ihr Gesicht hatte jegliche Farbe verloren. Plötzlich ließ Neville die Hand, in der er den Brief hielt, sinken, woraufhin Ginny erstarrte, als wage sie es nicht ihm noch näher zu kommen.
Langsam hob Neville den Kopf und nun sah Harry, dass seine Augen voller Tränen waren, doch nur eine einzelne bahnte sich den Weg über seine paustige Wange. Energisch wischte sich Neville über das Gesicht.
Als er den Arm wieder sinken ließ, wirkte sein Gesicht wieder etwas gefasster, jedoch erschreckend fremd, auf Harry.
Nun ließ er den Brief fallen, rannte auf die Rückseite des Gemäldes der fetten Damen zu, schwang es geschickt, wie man es kaum von ihm gewohnt war, zur Seite und verschwand aus dem Gryffindor-Gemeinschaftsraum.
Harry wollte sofort hinter ihm her, doch Hermine packte ihn am Arm und riss ihn so grob zurück, dass er fast mit ihr zusammengestoßen wäre, weil er dies nicht erwartet hatte. Verdattert schaute er sie an.
„Nein Harry, lass ihn lieber allein".
„Aber wir wissen nicht was passiert ist und er schien mir nicht besonders klar im Kopf. Was ist, wenn er Dummheiten anstellt?", unterstützte Ron seinen Freund.
„V-vielleicht sollten wir den Brief lesen", sagte Ginny mit zittriger Stimme.
Keiner der Drei antwortete, aber ihre Köpfe drehten sich fast gleichzeitig in Richtung des Briefes, der nun leicht zerknittert auf dem Boden des Gemeinschaftsraums lag. „Nein", sagte Hermine energisch und sprach damit auch Harrys Gedanken aus. „Nein, wir warten einfach, er wird schon wieder zurückkommen."
„Zumindest kann ihn niemand bei etwas Verbotenem erwischen; wir sind ja ganz allein im Schloss", sagte Ron und setzte sich in den nächsten Sessel. Er schien als einziger nicht wirklich beunruhigt zu sein.
Aber Harry war sich nicht sicher, ob die Tatsache, dass sie allein im Schloss waren, nicht eher negativ war. Er fühlte sich in Hogwarts nicht sicher ohne Dumbledore.
Er und McGonagall waren eigentlich die einzigen gewesen, die außer Ron, Hermine, Ginny, Neville und Harry in den Weihnachtsferien im Schloss bleiben sollten. Professor Sprout und Professor Flitwick hatten eine kleine Projektreise mit den anderen Schülern, die über Weihnachten nicht nach Hause konnten, unternommen.
Harry und seine Freunde hatten dankend abgelehnt; ihnen war es nur recht, dass sie das Schloss fast ganz für sich allein haben würden.
So konnten sie ungestört über die Angelegenheit des Ordens reden, insoweit ihnen das überhaupt möglich war, da sie noch immer kaum eingeweiht wurden.
Nur Neville war wieder einmal für seine Vergesslichkeit bestraft worden; er wollte den Ausflug um jeden Preis miterleben, da es in eine recht unerforschte Gegend Schottlands gehen sollte, in der er neue Sträucher und Pflanzen zu entdecken hoffte. Doch er hatte die, von seiner Oma unterschriebene, Einverständniserklärung nicht rechzeitig abgegeben und die Lehrer wollten keine Ausnahme machen.
Auch Snape hatte sich seit einigen Tagen nicht im Schloss blicken lassen, was Harry ebenfalls nur recht sein konnte.
Filch war vom Schulleiter überredet worden endlich einmal Urlaub zu machen, also hatten sie in den Ferien auch vor ihm Ruhe gehabt.
Kurzzeitig erschien ein Bild von Filch in Hawaiihemd und dunkler Sonnenbrille auf der Nase und Mrs. Norris, ein Eis in der Pfote haltend, wie sie auf einer sonnigen Promenade entlang spazierten, vor Harrys Augen. Doch auch diese seltsame Vorstellung konnte ihn nicht aufmuntern.
Er machte sich große Sorgen um Neville, er hatte ihn noch nie so gesehen.
Ginny riss ihn aus seinen Gedanken, als sie sagte: „Was ist bloß passiert?"
Wieder reagierte niemand auf ihre Worte, denn auch sie hatten keine Antwort.
Auch Ginny und Hermine setzten sich nun in die gemütlichen Sessel des Gemeinschaftsraumes.
Nur Harry blieb stehen, wo er war und zupfte sich nervös am Kinn.
Nach ein paar weiteren Minuten des Schweigens, ging er zum Fenster und schaute hinab auf das Gelände Hogwarts.
Seine Augen blieben an Hagrids Hütte hängen.
Warum konnte nicht der übliche Rauch aus seinem Kamin kommen, der ihnen stets sagte, dass Hagrid zu Hause war? Es würde die Situation immens erleichtern.
Aber es hatte schon seit Wochen keinen Rauch gegeben und wieder einmal hatte Professor Raue-Pritsche das Amt der Lehrerin für Pflege magischer Geschöpfe übernommen.
Kurz vor seiner Abreise hatte Hagrid sich hastig beim ihm verabschiedet.
Er sagte, er dürfe ihm nichts Genaueres mitteilen. Er verriet nur, dass er erneut in Diensten des Ordens unterwegs sein würde.
Und genau das war auch alles, was ihnen Dumbledore vor ein paar Stunden bei ihrem überstürzten Aufbruch gesagt hatte.
„Es gibt Probleme den Orden betreffend", hatte er gekeucht, während er sich seinen Reiseumhang überwarf.
„Wir lassen sie nur ungern allein Potter, aber wir verlassen uns darauf, dass sie sich alle vernünftig benehmen werden. Sicher wird zumindest einer von uns morgen wieder da sein", hatte Professor McGonagall hinzugefügt.
Es hatte jedoch nicht den Eindruck auf Harry gemacht, dass sie von ihren Worten selbst besonders überzeugt gewesen war, denn sie hatte Dumbledore daraufhin Hoffnungs heischend angeblickt.
„Und bleibt unter allen Umständen zusammen. In diesen Zeiten ist selbst Hogwarts nicht sicher", hatte Dumbledore gesagt und den Fünfen einen sorgenvollen Blick zugeworfen. Als er Harrys in Falten gelegte Stirn bemerkt hatte, zwang er sich zu einem recht aufgesetzten und dennoch Mut machendem Lächeln und die beiden Professoren waren verschwunden.
Wir hätten Neville nicht gehen lassen dürfen, dachte Harry bei der Erinnerung an Dumbledores letzte Worte vor seinem Aufbruch.
Langsam brach die Dunkelheit über den Tag herein und Harry ließ erneut den Blick schweifen.
„Wir können nicht länger waren", sagte Hermine fast flüsternd, woraufhin sich Harry zu seinen Freunden umdrehte.
Ron schaute zum wiederholten Mal auf seine Armbanduhr und Harry bemerkte kurz, dass sein Arm stark zitterte. Offenbar hatte nun auch er ein ungutes Gefühl.
„Ich lese jetzt diesen Brief", sagte Harry unvermittelt in die Stille hinein und sein Tonfall lies keinen Widerspruch zu.
Mit zwei großen Schritten war er bei dem Brief, der noch immer am Boden lag, weil keiner den Mut gehabt hatte ihn auch nur anzufassen.
Gespannt schauten alle auf Harry, als er begann den Brief zu lesen. Harry las ihn zweimal und erst beim zweiten Mal verstand er die Bedeutung wirklich.
„Seine Großmutter…", sagte er dann mit kaum zu vernehmender Stimme.
Er brauchte nicht weiter zu sprechen, jeder im Raum verstand.
Irgendwie hatte er - und den anderen war es offenbar nicht anders gegangen - sich schon vorher etwas Derartiges gedacht, aber er hatte den Gedanken schnell verscheucht.
Nach einigen Minuten des betreten Schweigens sprach wieder jemand:
„Wir müssen ihn suchen", kam es von Hermine.
„Das haben wir doch gleich gesagt", meinte Ron entrüstet und schaute Hermine strafend an; sie ignorierte ihn jedoch, wofür Harry sehr dankbar war, denn einen Streit konnten sie in dieser Situation wirklich nicht gebrauchen.
„Am besten einer von uns bleibt hier, falls er wiederkommt. Er sollte jetzt nicht allein sein", sagte Harry mit steinerner Miene.
Nach seinen Worten sprach wieder niemand ein Wort, doch alle Köpfe drehten sich in Ginnys Richtung, die Fingernägel kauend auf dem Sofa saß und vor sich hinstarrte. Als sie die Blicke der Drei bemerkte, sprang sie auf und rief erbost: „Nein".
„Oh doch Ginny", grinste Ron.
Sauer warf sich Ginny wieder in ihren Sessel, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte wieder starr geradeaus.
„Am besten wir ziehen schon vorsorglich unsere Umhänge an, falls er … na ja, nicht im Schloss zu finden ist", sagte Hermine mit einem etwas mitleidigen Blick auf Ginny. „Auf dem Gelände war nichts von ihm zu sehen", sagte Harry daraufhin.
Hermine versetzte ihm einen genervten Blick, der ihm sagte, dass es besser war, ihren Worten folge zu leisten.
Er fing Rons Blick auf und nickte in Richtung Jungen-Schlafsaal.
Gemeinsam gingen sie schnellen Schrittes auf diesen zu und Harry konnte hinter ihnen Hermine etwas tröstendes zu Ginny sagen hören.
Er betrat zuerst den Schlafsaal, dicht gefolgt von Ron, und schnappte sich seinen warmen Winterumhang, der auf dem Bett lag und blieb, auf Ron wartend, in der Tür stehen.
Ron wühlte sich zwischen Bergen von Wäsche hindurch, die in einem wilden Stapel vor seinem Himmelbett verteilt lagen und fluchte vor sich hin.
Harry überlegte inzwischen, wo sie am besten zuerst nach Neville suchen sollten.
Er hatte eine dunkle Vorahnung, dass die Suche gefährlich sein würde, doch er versuchte sich einzureden, dass dies nur durch Dumbledores übertriebene Worte hervorgerufen wurde.
Aber waren diese Worte wirklich übertrieben gewesen?
Immerhin trieben Lord Voldemort und seine treuen Gefolgsleute noch immer ihr Unwesen da draußen.
Harry ging erneut auf sein Bett zu, bückte sich und zog seinen Koffer unter dem Bett hervor. Aus dem Koffer entnahm er ein feinsäuberlich zusammengelegtes Bündel; seinen Tarnumhang.

Harry zog langsam den Tarnumhang aus dem Geschenkpapier.
Er sah genau aus, wie jener, den ihm einst Dumbledore zukommen lassen hatte. Genau wie jener, unter dem sein Vater, ebenso wie er selbst, viele Male verschwunden war.
Er wollte nun nicht länger über die Geschehnisse an dem Tag, an dem seine fast einzige fassbare Erinnerung an seinen Vater zerstört worden war, nachdenken.
Er legte den Tarnumhang zurück auf den Tisch und fing gerade an, das Geschirr zusammen zu räumen, als etwas wie aus dem Nichts in der Küche auftauchte.
Ein lautes Klirren ertönte, als Harry einen Teller fallen lies.
Er hatte keine Sekunde gezögert und nun stand er kampfbereit, den Zauberstab auf ihn gerichtet, vor Dobby.
Als er diesen erkannte lies er den Zauberstab sinken und entspannte seine Glieder. Wow, Tonks hatte Recht, dachte Harry. Es fehlte nicht viel und bald war er so paranoid wie Mad-Eye Moody.
Dobbys Augen wirkten noch größer als sonst.
„Harry Potter hat Dobby erschreckt", sagte er mit zitternder Pieps-Stimme.
„Tut mir wirklich leid", sagte Harry entschuldigend lächelnd, während er den Zauberstab zurück in die Tasche steckte.
Dobby schien sich wieder etwas zu beruhigen und entfernte mit einem kleinen Schlenker seiner Hand die Scherben des Tellers vom gefliesten Fußboden.
„Hat Harry Potter Dobbys Geschenk gefallen?", fragte er, als er das bunte Paar Socken auf dem Küchentisch entdeckte.
„Oh ja, hat mir sehr gefallen", sagte er, fügte im Gedanken ein „Wie immer" dazu, sagte jedoch stattdessen „Vielen Dank".
Nachdem Dobby seinen Herren einen Moment glücklich angestrahlt hatte, sagte er: „Dobby muss ihnen jetzt die Augen verbinden".
„Aha", erwiderte Harry fragend und beobachtete, wie Dobby ein schwarzes Tuch aus seiner schmuddelig-wirkenden Hose zog.
Als Dobby zu ihm kam und an seinem T-Shirt zupfte, beugte er sich gefügig zu ihm hinunter ohne Fragen zu stellen und ließ sich von dem Hauself die Augen verbinden.
Zweimal fragte Dobby, ob das Tuch auch wirklich nicht zu fest saß und beide Male verneinte Harry dies geduldig.
Dobby schaute ihn zweifelnd an, was Harry natürlich nicht sehen konnte und ergriff dann die Hand seines „Arbeitgebers".
Langsam führte er ihn aus dem Haus und Harry spürte die warme Sonne auf sein Gesicht scheinen und den blumigen Duft des blühenden Gartens in die Nase steigen. Dobby versuchte nicht einmal ihn in die Irre zu führen, sondern führte ihn prompt nach rechts durch den Garten, in Richtung des Hauses Nr. 13.
Die Ahnung, die Harry schon seit Beginn von Dobbys Maskierungs-Aktion hatte, festigte sich nun zunehmend, denn ein Geburtstagsgruß mit dem er fest rechnete, hatte auf seinem Küchentisch natürlich noch gefehlt.
Harry stolperte plötzlich über etwas, dass er nicht identifizieren konnte und fiel beinahe auf alle Viere.
Dobby entschuldigte sich kleinlaut und Harry glaubte zu hören, dass er sich selbst eine Ohrfeige gab. Früher einmal hätte er bei so einer Kleinigkeit mehr selbstzugefügte Prügel ertragen müssen, heute aber beließ er es wohl dabei.
„Wir sind da, Harry Potter", sagte der Hauself und blieb stehen.
Auch Harry tat dies und wartete, was als nächstes passieren würde.
„Sie können jetzt die Augenbinde abnehmen", sagte Dobby nach einem Augenblick. Harry machte sich verzweifelt an dem Knoten des Tuches zu schaffen.
Als er ungeduldig aufstöhnte, hörte ein leises Kichern, das eindeutig nicht von Dobby kam.
Endlich hatte er es geschafft den Knoten zu öffnen, zog sich nun das Tuch vom Gesicht und öffnete vorsichtig die Augen.
Zuerst konnte er nichts erkennen, da ihm die Sonne genau in die Augen schien, doch nachdem er ein paar Mal nervös geblinzelt hatte, konnte er die Welt um sich herum wieder erkennen.
Vor ihm stand ein Geburtstagsgeschenk, das sich wohl so ziemlich jeder Zauberer wünschen würde und gleich daneben Lumos mit seinen Besitzern.
Grinsend schauten ihm seine besten Freunde Ron und Hermine Weasley ins Gesicht.