Kapitelchen 4

Nachdem Hermine sich zu Ron gekniet und ihm tröstende Worte ins Ohr geflüstert hatte, rappelte er sich nun langsam wieder auf.
„Was ist geschehen?", fragte er jetzt fast flüsternd.
„Ich weiß nichts genaues", antwortete Moody knapp.
Hermine trat langsam von Rons Seite und löste Sirius aus der Umarmung Harrys.
Harry brachte keinen Ton heraus, erhob sich jedoch leise wieder.
Rons Gefühle und Gedanken schienen plötzlich in eine ganz andere Richtung zu gehen, als zuvor, denn er sagte gut gelaunt:
„Ach bestimmt hat sie sich nur mit einer Freundin zum einkaufen getroffen und dann die Zeit vergessen. Sicher taucht sie gleich wieder auf".
Er blickte sich um, wie Harry es nach Sirius Schrei getan hatte und in seinem Gesicht breitete sich Enttäuschung aus, als habe er wirklich damit gerechnet sie zu entdecken.
Moody schaute ihn fast mitleidig an, machte aber keine Anstalten etwas zu erwidern.
Zum dritten Mal an diesem Tag ertönte ein lauter Knall.
Neville tauchte an der Seite Harrys auf.
Er hatte noch nie erlebt, dass Neville so punktgenau apperiert war; beim letzten Mal war er mitten in einem Gebüsch voller Brennnesseln gelandet, doch diesmal schien er die Konzentration aufgebracht zu haben, die dafür von Nöten war.
„Du", schrie er Harry ins Gesicht, der erschrocken ein paar Schritte zurück wich.
„Neville, beruhig …", begann Hermine, doch der Rest ihrer Worte ging im Geschrei von Neville unter.
„Du bist Schuld, du allein".
Er zog einen Zauberstab aus der Umhangtasche und richtete ihn auf Harry, der nur weiterhin erschrocken da stand.
„Expelliarmus", erklang Moodys dumpfe Stimme.
Neville flog rücklings auf den Boden und sein Zauberstab direkt in Moodys Hände.
„Wage es ja nicht noch einmal", krächzte er, streckte Neville jedoch helfend seine freie Hand entgegen, um ihm auf die Beine zu helfen.
Neville würdigte ihn jedoch keines Blickes und kam allein wieder auf die Beine, den Blick dabei unablässig auf Harry gerichtet.
Es schien etwas mehr Hass in seinem Blick zu stecken, doch Harry hatte sein Gesicht schon einmal zuvor in dieser ernsthaften Art und Weise gesehen.

Harry dachte wieder an das so anders wirkende Gesicht Nevilles und ein Schauder lief ihm über den Rücken, der nicht von der Kälte herrührte. Er glaubte Nevilles Schmerz nachfühlen zu können, denn auch er hatte erst vor kurzem einen sehr nahen Menschen verloren; am Ende des letzten Schuljahres.
„Harry nun komm schon", sagte Ron und stieß ihm mit den Ellenbogen in die Rippen. „Wir haben Ginny gesagt, dass wir uns beeilen", fügte Hermine hinzu.
„Wir sind einfach zu groß geworden, um alle hier drunter zu passen", antwortete Harry genervt und riss an dem Tarnumhang, um seinen linken Arm darunter zu verbergen.
„Jetzt bin ich halb zu sehen. Mensch, reiß nicht so an dem Ding", sagte Ron und zog seinerseits an dem Umhang, woraufhin Harrys Arm wieder zum Vorschein kam.
„Ach vergesst es, das geht so nicht".
Hermine schlängelte sich aus dem Gewirr von Armen und Stoff hinaus und blickte in den dunklen Wald, der nun schon direkt vor ihnen lag.
„Meint ihr wirklich, dass er in den verbotenen Wald gegangen ist?", fragte Ron mit zittriger Stimme, als auch er sich von dem Umhang befreit hatte.
„Da er nicht im Schloss zu finden war, können wir es jedenfalls nicht ausschließen", antwortete Hermine und auch in ihrer Stimme war etwas Angst zu hören.
„Hätten wir bloß noch die Karte des Rumtreibers", sagte Harry und begann den Tarnumhang zusammen zu falten, doch dann ließ er ihn unwillkürlich fallen.
Jemand hatte geschrieen; jemand, der nicht allzu weit von ihnen entfernt sein konnte. Fast im selben Augenblick fing es ohne Vorwarnung an zu schneien; das erste Mal in diesem Winter.
„Neville", rief Harry und rannte auf den Wald zu.
Ron und Hermine tauschten einen entsetzten Blick und eilten dann hinter ihm her. Keiner von ihnen bemerkte, dass jemand die ganze Zeit über hinter ihnen gestanden hatte, nun den Tarnumhang aufhob und ihn freudig musterte.

Harry achtete nicht auf die Sträucher und stacheligen Pflanzen, die ihm sein Gesicht zerkratzten.
Ein zweiter Schrei war zu hören gewesen, als er erst ein paar Meter im Wald gewesen war.
Er folgte den, nach Todesangst klingenden Schreien Nevilles und wilde Theorien kreisten ihm durch den Kopf.
War Neville auf Grawp getroffen?
Hatte Voldemort es geschafft auf das Gelände Hogwarts zu kommen?
Nein, sicher nicht, dann wäre er bereits tot und könnte nicht mehr schreien.
Der feine Schnee entwickelte sich langsam zu einem echten Hindernis. Harry konnte durch seine Brille kaum noch etwas erkennen, aber er rannte einfach weiter und weiter.
Als er nach einer, für ihn elend langen Zeit, an eine Lichtung kam, sah er Neville.
Er lag, alle Viere von sich gestreckt, auf dem kahlen Boden und starrte von Schrecken erfüllt eine Hexe an, die vor ihm stand.
Bellatrix Lestrange hatte ihren Zauberstab auf Neville gerichtet, schaute nun aber fröhlich Harry entgegen.
Harry war zu entsetzt um seinen Zauberstab, den er schon während ihrer gesamten Suche in der Hand hielt, schnell genug zu heben.
Mit einem locker dahin gesagten „Expelliarmus" entriss sie ihm seinen Zauberstab, doch er schaffte es auf den Beinen zu bleiben.
„Der kleine süße Harry Potter", säuselte Lestrange und ihr Lächeln wurde noch breiter. „Es ist mir leider nicht vergönnt, dich selber zu erledigen".
„Sie sind doch nur zu feige", rief Harry unbedacht, doch sie schien von seinen Worten unbeeindruckt.
„Wenn du das meinst, werde ich wohl schnell das Gegenteil beweisen müssen. An dem Beispiel deines dicken Freundes hier?"
„Nein", schrie Harry verzweifelt, weil er ohne seinen Zauberstab nichts unternehmen konnte.
Doch sie richtete ihren Zauberstab genau auf Nevilles Herz und sagte: „Avada Ke…". „Stupor", erklangen plötzlich zwei Stimmen gleichzeitig hinter Harry und im nächsten Augenblick wurde Lestrange nach hinten katapultiert.
Ron und Hermine traten außer Atem an Harrys Seite und fragten, ob alles in Ordnung war.
Harry blickte verwirrt umher. Wo hatte Lestrange seinen Zauberstab?
Er hatte sie nicht die ganze Zeit beobachtet, weil er den Blick nicht von dem so in Gefahr schwebenden Neville hatte lassen können.
Harry hörte etwas im Gebüsch vor ihm rascheln, doch nichts geschah.
Alle drei rannten in Richtung Lestranges, nur Neville lag immer noch entsetzt auf dem Waldboden.
Als ob ihm erst in diesem Moment klar geworden wäre, wen er da überhaupt vor sich gehabt hatte, durchfuhr Harry plötzlich eine tiefe Woge des Hasses, als er vor der ohnmächtigen Hexe stand.
Dies war die Mörderin von Sirius Black, seinem Paten.
„Gib mir deinen Zauberstab", sagte er zu Ron ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.
„Was hast du vor?", fragte Hermine ängstlich und schüttelte an Ron gewand leicht den Kopf ohne, dass Harry dies bemerkte.
„Ich habe schon einmal einen Mörder entkommen lassen. Dies passiert mir kein zweites Mal", erwiderte Harry und starrte Lestrange angewidert an.
„Nein Harry, sei doch vernünftig. Das würde dir nichts bringen. Dann wärst du nicht besser als sie alle. Dann wärst du nicht besser als V-v-voldemort."
Hermines Worte hatten eine von ihr ungeahnte Wirkung auf Harry.
Es würde ihm tatsächlich nichts bringen, sich an dieser Frau zu rächen.
Das einzige, was ihm vielleicht ein besseres Gefühl verschaffen würde, war die Rache an Voldemort selbst, dem Urheber als dieser schrecklichen Dinge.
„Okay, du hast Recht. Bin wohl ´nen kleinen Moment etwas durchgedreht, als ich sie sah", sagte er.
„Wie ist sie bloß dem Zauberministerium entkommen?", fragte Ron und schien erleichtert von Harrys erneutem Sinneswandel.
Doch niemand wusste eine Antwort auf diese Frage.
Hermine fesselte die ohnmächtige Todesserin mit Hilfe ihres Zauberstabes und Harry suchte verzweifelt nach dem seinen, doch er fand ihn nicht.
„Was machen wir jetzt mit ihr?", fragte Ron.
Statt zu antworten sagte Hermine: „Mobilcorpus".
„Gute Idee Hermine. Bring sie ins Schloss, aber pass gut auf. Ich suche mit Ron meinen Zauberstab", sagte Harry. „Ach und nimm Neville mit", fügte er hinzu, als er aus dem Augenwinkel bemerkte, dass Neville endlich aufgestanden war.
„Wusste gar nicht dass du das kannst", sagte Ron zu Hermine, während er den Schnee von Neville abklopfte.
„Du weißt vieles von mir nicht", erwiderte sie schnippisch und Ron warf Harry einen fragenden Blick zu, der daraufhin die Schultern zuckte und weiter den Waldboden nach seinem Zauberstab absuchte.
Hermine und Neville waren schon seit einigen Minuten verschwunden, als Ron verlauten ließ, dass er gleich erfrieren würde.
Als Harry gerade glaubte seinen Zauberstab gefunden zu haben, erklang plötzliche eine Stimme aus dem Dickicht hinter ihm.
„Purgatoriusorium".
Direkt vor Harry entflammte ein Feuer, doch er konnte nicht erkennen, was dort brannte, denn die Flammen blendeten ihn.
Er wollte sich umdrehen, um den Schöpfer des Feuers auszumachen, doch seine Beine verweigerten ihm den Dienst.
Das Feuer schien sich von ihm weg zu bewegen und war nun schon einige Meter entfernt. Auch Ron schien nicht handeln zu können, er stand wie angewurzelt neben Harry und schaute gebannt auf das Feuer.
Erneut erklang die Stimme hinter Harry: „Finite Incantatem".
Das Feuer hört auf einen Schlag zu brennen auf und nun konnte Harry sehen, was vor ihm stand. Doch richtig musste es heißen, dass er sehen konnte WER vor ihm stand.
Luna Lovegood schien von Entsetzen gepackt durch Harry hindurch zu starren.
Sie war völlig unversehrt; das Feuer hatte sich lediglich durch Harrys Tarnumhang gefressen und sie verschont.
Endlich bewegten sich Harrys Beine wieder und er eilte ihr entgegen, doch im gleichen Moment sagte die unbekannte Stimme erneut etwas und Harry konnte nichts mehr für Luna tun.
„Avada Kedabra"

Wieder holte Neville etwas aus seiner Umhangtasche.
„Hier", sagte er, doch auch wenn er nicht mehr schrie, klang seine Stimme erschreckend feindselig. Er streckte Harry einen Umschlag entgegen, doch Harry bewegte sich nicht.
„Nimm ihn, los. Nimm ihn schon".
Harry streckte seine Hand aus und packte den Umschlag, wobei er kurz Nevilles Hand berührte. Neville schaute angewidert auf die Stelle an seiner Hand, an der Harry in berührt hatte. Harry nahm dies Stirn runzelnd zur Kenntnis und schaute dann auf den Umschlag.
An Harrylein, stand in großen feinsäuberlich geschriebenen Buchstaben auf ihm. Harry blickte erneut zu Neville.
„Lies den Brief", sagte Neville und es klang, als könne er sich nicht länger zwingen ruhig zu bleiben.
Harry tat wie ihm geheißen und holte einen kleinen Zettel aus dem Umschlag.
Neville hatte das Wort Brief benutzt, doch der Zettel enthielt nur eine winzige Notiz.
Du kommst nicht mit allem durch!
Was sollte das bedeuten?