4. Geheimnisse
Noch immer saßen die beiden auf der Bank, starrten nur wortlos geradeaus. Die Sonne verschwand allmählich hinter dem Horizont und hüllte das Meer in ein warmes Rot.
Soeben hatte James mit seiner Erzählung geendet. Er hatte ihr erzählt, warum er, Jessie und Mauzi auf diesem Schiff waren und wohin sie wollten. Auch sie hatte erzählt, dass die Insel Sagi ihr Ziel sei und daraufhin hatten beide sich angeschwiegen, wohlwissend, dass dies einige Probleme beinhalten würde.
Seitdem hatten sie nichts mehr gesagt, nur stumm vor sich hingestarrt, jeder in Gedanken versunken.
Eine Frage lag Misty auf der Seele, doch wusste sie nicht so recht, ob sie sie wirklich aussprechen sollte.
Noch immer wehte ein leichter Wind, wehte Misty durchs Haar und zerzauste es ein wenig. Sie bemerkte es kaum. Umso mehr jedoch bemerkte sie die warme Hand, die ihr plötzlich eine Strähne aus dem Gesicht strich und Misty blickte auf, in James' grüne Augen.
„Worüber denkst du nach?", fragte er sanft. Misty wandte den Blick wiederum ab.
„Du bist nicht gern hier auf diesem Schiff, nicht wahr?", kam es ihr schließlich über die Lippen.
„Ich hasse Schiffe." Es war eine einfache und direkte Antwort und eigentlich hätte Misty damit zufrieden sein können, denn schließlich wurde ihre Frage dadurch beantwortet. Doch…
„Warum?" Sie hatte diese Frage gestellt, ehe es ihr bewusst geworden war und im gleichen Augenblick schämte sie sich dafür. Es ging sie schließlich überhaupt nichts an. Und überhaupt, warum unterhielt sie sich mit James, mit einem Mitglied des Team Rocket?
„Das letzte Mal, dass ich auf so einem widerlichen Ding war, war damals auf der M.S. Anne. Na ja, und was damals passiert ist, weißt du ja selbst." Misty nickte stumm.
Wieder vergingen einige Minuten des Schweigens.
„Aber…", doch Misty unterbrach sich sofort selbst, als sie bemerkte, dass sie schon wieder zu einer Frage ansetzte. James lächelte sie an.
„Was? Frag ruhig!" Misty war ein wenig rot geworden und blickte so weiterhin zu Boden, um James nicht ansehen zu müssen, ihm nicht in die smaragdgrünen Augen sehen zu müssen.
„Warum… seid ihr dann hier, ich meine…" Es war Misty leicht anzusehen, dass sie nicht wusste, wie sie ihre Frage formulieren sollte. „Ich meine… wenn Ash oder Tracey Angst vor Schiffen hätten, dann wären wir jetzt nicht hier, weil…"
„Weil ihr Rücksicht auf einander nehmt." Misty nickte. „Bei uns entscheidet aber meistens Jessie. Was sie sagt, wird gemacht." James seufzte. „Und ich interessiere sie nicht." Es lag in diesem Augenblick soviel Traurigkeit in seiner Stimme, dass Misty sich abwenden musste, damit sie nicht noch anfing zu weinen.
Er tat ihr leid, das konnte sie nicht leugnen. Schrecklich leid sogar.
Fast automatisch legte sie ihre Hand auf seine und guckte nicht weniger verwundert als er, als sie es bemerkten. Doch dann wandte sich ihr Gesichtsaudruck zu einem Lächeln.
„James", sie drückte seine Hand ein wenig, „du schaffst das schon!" Auch er lächelte nun und nickte schließlich zaghaft.
„Ich werd's versuchen." So sahen sie sich noch einen Moment in die Augen bis Misty schließlich ihren Blick schüchtern abwandte und ihn zu der Uhr an ihrem Handgelenk schweifen ließ.
„WAS?", hektisch sprang sie auf, noch immer das Zifferblatt ihrer Uhr anstarrend, das ihr verriet, dass sie sich nun schon seit zwei Stunden nicht mehr bei Ash und Tracey hatte sehen lassen. „James, es tut mir leid, ich muss los! Ash und Tracey warten bestimmt schon auf mich!"
„Ist schon OK." Er lächelte weiterhin. „Du brauchst dich nicht entschuldigen. Schließlich sind wir ja keine Freunde oder so was, also dem anderen gegenüber zu etwas verpflichtet." Misty nickte zaghaft und rannte dann schnellen Schrittes davon.
'Wir sind ja keine Freunde oder so was'
Natürlich waren sie das nicht! Viel eher traf es sogar der Begriff Feinde!
Und warum, warum schmerzten diese Worte dann so sehr in einem kleinen Punkte ihres Körpers – in ihrem Herzen?
„Mensch, wo warst du denn so lange? Wir haben schon angefangen, uns Sorgen zu machen!" Es war Ash, der dies sagte und auch Tracey schien ein wenig besorgt. „Äh, Misty, hast du geweint?" Verwundert berührte Misty ihre Wange und musste feststellen, dass sie tatsächlich ein wenig feucht war. Der Wind schien ja doch schon recht scharf zu wehen, wenn er ihr sogar die Tränen in die Augen trieb.
„Nein, es ist nichts", antwortete sie daher. „War wohl nur der Wind."
„Na wenn du meinst." Ash klang nicht unbedingt überzeugt, doch wenn er weiterfragen würde, würde Misty nur wieder einen Streit mir ihm anfangen und das wollte er lieber vermeiden. Misty schwieg nun, als ihr Blick plötzlich zu dem schlafenden Togepi, das in Traceys Armen lag, fiel. Sie hatte ihm das Baby-Pokémon vorher anvertraut, da es sich auf ihrem Rundgang wohl nur gelangweilt hätte.
„Hat es dir viel Ärger gemacht?", fragte sie und deutete auf das schlafende Pokémon.
„Ach weißt du, eigentlich…" Ash grinste.
„Ich bin mir sicher, Tracey leiht es sich jederzeit gerne wieder aus." Misty sah ihn verwundert an.
„Wieso?"
„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viele Mädchen ihn angesprochen haben, weil sie Togepi so niedlich fanden." Ash grinste weiterhin und auch Misty konnte es sich nicht weiter verkneifen. Tracey errötete ein wenig.
„Und, wen hast du so getroffen?", fragte er schnell, um abzulenken.
„Ich?" Misty zögerte die Antwort ein wenig hinaus, indem sie ihr Togepi wieder an sich nahm, wohl darauf bedacht, es dabei nicht zu wecken. „Ich, äh, habe niemanden getroffen." Misty war nicht ganz wohl dabei. Warum log sie auch?
„Niemanden? Auf diesem großen Schiff?"
„Na ja, halt niemanden, den wir kennen." Misty war keine gute Lügnerin, hoffte aber, dass Ash und Tracey sich nun zufrieden geben und nicht weiter fragen würden. „Jungs, ich bin echt müde."
„Wir zeigen dir gleich, wo unsere Kabinen sind", sagte Tracey. „Ich denke, wir haben auch ein wenig Schlaf verdient."
Misty nickte stumm.
