Kapitel 16 oder Lothlórien
Zärtlich Lippen küssten mich wach. Ich schlug die Augen auf und sah in Legolas lächelndes Gesicht.
„Hast du gut geschlafen?"
„Wie schon lange nicht mehr. Muss wohl an dem Ort hier liegen."
„Da hast du recht. Der Wald Lóriens wird von der hohen Herrin von allem Übel abgeschirmt. Wenn es einen wirklich sicheren Ort in Mittelerde gibt, dann ist es hier. In Lórien dauern die alten Zeiten selbst in der Gegenwartfort. Jeder, der schon einmal hier war, sagt, das er keinen schöneren Ort kenne. Dir wird es sicher genauso gehen."
„Dieser Ort scheint wirklich etwas besonderes zu sein. Ich habe noch nie solch wunderbare Bäume gesehen. Ich habe von einem Hügel geträumt, dicht bewachsen mit sattem Gras. Zwei Baumkreise standen an der Spitze des Hügels, der äußeren Rinden waren schneeweiß, der innere Kreis bestand aus sehr hohen Mallornbäumen. Sie leuchteten weithin sichtbar in einem wunderschönen Gold. Ganz oben, an der Spitze der höchsten Bäume schimmerte ein weißes Fleet hervor. Und überall, auch an den Hängen des Hügels wuchsen goldgelbe, sternförmige Blumen, und zwischen ihnen wippten auf langen Stängeln Weiße und zart Grüne."
„Du hast das Herz des alten Königreiches gesehen, Caras Galadhon, die Stadt der Galadhrim. Und die Blumen, das sind gelbe Elanor und die blassen nennen wir Niphredil. Heute Abend werden wir dort eintreffen. Dann wirst du Caras Galadhon mit eigenen Augen sehen."
„Ich hatte im Traum das Gefühl, als ob ich selber davor stand und es mir ansah."
Legolas senkte den Blick und holte hörbar Luft.
„Elrond sagte mir, du warst schon öfters hier gewesen. Du erinnerst nur nicht mehr."
Und
wieder einmal beschlich mich das Gefühl, nicht in diesen Körper
zu gehören. Es gab so viel, was Melian schon erlebt und getan
hatte, von alle dem ich aber nichts wusste. Die Tatsache, das ich in
meinen Träumen wohl auch Vergangenes sah, ließ mich das
ungute Gefühl wieder abschütteln. Ich würde mit der
Zeit schon herausfinden, wie Melians...., meine Vergangenheit aussah.
Wir standen auf und kletterten auf ein anderes Fleet rüber,
wo man uns schon zum Frühstück erwartete. Wie ich dort
erfuhr, waren einige Elben ausgesandt, um Haldir und Terrinath
abzuholen. Und wie nicht anders erwartet, war Niniél natürlich
mit ihnen mitgeritten. Eigentlich wollte ja Legolas mitreiten, doch
man sagte ihm, das es nicht nötig sei. Bei Tage war die Ebene
nicht gefährlich.
Nach dem Frühstück machten wir uns auf den Weg. Da die Waldelben von Lórien zu Fuß unterwegs waren, führten wir unsere Pferde. Wir gingen immer wieder über grüne Lichtungen, wo uns die Sonne ins Gesicht schien. Das Land fiel leicht, aber stetig ab. Legolas erklärte mir, das die Stadt der Galadhrim von einem Graben und einer grünen Mauer umgeben war. Die Tore der Stadt lagen nach Südwesten hin. Wir müssten also ein Stück an der Mauer entlang gehen, bis wir das Tor erreichen würden. Die Galadhrim wohnten, anders als in Bruchtal, auf Fleets. Viele der Fleets waren aber so groß, das ganze Häuser auf ihnen platz fanden.
„Ganz oben, auf dem größten Fleet, dort wohnt die Herrin von Lórien mit Celeborn, ihrem Gatten. Ihr Haus ähnelt aber ehr einem Palast, so groß ist es. Von dort aus hält Lady Galadriel schützend ihre Hand über ganz Lórien."
Ich freute mich unheimlich, Galadriel endlich kennen zu lernen. Sie war sicher eine Elbin, die wie die war, die ich in meinem Traum gesehen hatte. Groß, stolz, alterlos und wunderschön.
Gegen Mittag machten wir eine kurze Rast auf einer Lichtung. Wie uns berichtet wurde, hatte man Haldir und Terrinath bereits unversehrt gefunden und war mit ihnen am Rand des Waldes angekommen. Sie würden morgen bei Mittag wieder zu uns stoßen. Auf mein nachfragen hin sagte man mir, das Haldir wohl auf sein und eine kleine Elbin sich überglücklich um ihn kümmern würde.
Nachdem wir uns ein wenig ausgeruht hatten, gingen wir weiter. Ich hatte mir die Stiefel ausgezogen und ging barfuss über den Waldboden. Es war ein herrliches Gefühl, das Moos, das Gras und die gefallenen Blätter unter den nackten Füßen zu spüren. Ich fühlte mich leicht, als ob ich über den Boden schwebte. Legolas amüsierte sich köstlich über mich, wie ich mit Ancórdar an der Hand führend durch den Wald tanzte. Ich muß ein echt komisches Bild abgegeben haben, doch es machte mir so viel Spaß, das ich ihm verzieh, das er mich als junges, verliebtes Reh betitelte.
Am späten Nachmittag erreichten wir den Hügel von Caras Galadhon. Wie Legolas gesagt hatte, umzog eine große, grüne Mauer den Hügel. Vor ihr war ein tiefer Graben, in dem sich schon langsam die Dunkelheit des Abends schlich. Eine mit weißen Steinen gepflasterte Straße führte am äußeren Rand des Grabens entlang. Es dämmerte bereits, und überall flammten Lichter auf, bis der ganze Hügel von Sternen durchglüht zu sein schien.
Von der Steinsraße ragte eine weiße Brücke über den Graben. Dahinter war das große Stadttor in die Mauer eingelassen.
Ein Waldelb klopfte und geräuschlos öffnete sich das Tor. Wir durchschritten die tiefe Gasse, die durch die beiden Enden der Mauer entstanden war, und befanden uns in der Stadt der Bäume. Ich sah niemanden, doch von überall kamen Stimmen und von oben rauschte Gesang nieder, wie ein warmer Sommerregen. Wir gingen über viele Wege und Treppen nach oben. Ein weiter Rasen überzog die Höhe, an deren Südseite der mächtigste aller Bäume stand. Wie silbergraue Seide schimmerte der dicke, glatte Stamm. An ihn gelehnt stand eine große, weiße Leiter und zwei Elben mit langen , hellen Mänteln standen davor.
Arwen verabschiedete sich von uns und auch die Wachen verschwanden. Legolas und ich versorgten unsere Pferde und das von Haldir. Ein kleiner Stall lag etwas abseits vom Rasen. Als wir wieder aus dem Stall heraustraten, kam ein Elb auf uns zu.
„Lord Celeborn und Lady Galadriel erwarten Euch."
Wir gingen zur Leiter und steigen langsam auf. An vielen Fleets kamen wir vorüber, um den Stamm herum verteilt, durch manche führte die Leiter auch hindurch. Als wir ganz oben ankamen stockte mir der Atem. Nicht vom Aufstieg, wobei der auch nicht ganz mühelos war. Das Fleet, oder bei den Elben auch Talan, war wirklich riesengroß. Und das Haus, das darauf stand, würde ich auch als einen Palast bezeichnen. Als wir eingetreten waren, befanden wir uns in einem Raum von ovaler Form. Der Mallornstamm befand sich in der Mitte des Raumes und bildete so eine mächtig Säule. Sanftes Licht erfüllte den Raum, grün, silberne Wände und eine goldene Decke vollendeten das Bild. Viele Elben hielten sich hier auf, und erstarren in ihren Gesprächen, als sie uns sahen. Wir gingen auf die Thronsessel zu, die vor dem Baumstamm standen. Die Elben, die dort saßen, erhoben sich und kamen ein paar Schritte auf uns zu. Die Elbin, Galadriel, war wie ihr Gatte ganz in weiß gekleidet. Wie dunkles Gold schimmere ihr Haar, silbrig hell das von Celeborn.
Ihr Alter konnte man nur in der Tiefe ihrer Augen zu erkennen glauben.
Geblendet von ihrer Schönheit fehlten mir die Worte, als Celeborn und Galadriel mich und Legolas begrüßten. Sie war es, die mir im Traum erschienen war. Sie war die Elbin, die mich leiten wollte, die mir zeigen wollte, die Kraft und die Stärke in mir zu entfesseln.
„Seid gegrüßt, Lady Melian, Tochter der Valar und Prinz Legolas, Sohn des Thranduil."
Galadriel kam auf mich zu und nahm meine Hand. Tief sah sie mir in die Augen, als ob sie mich durchleuchten wollte. Mir war, ich hörte ihre klare, klangvolle und doch für eine Frau recht tiefe Stimme, zu mir sprechen.
„Sei willkommen, Tochter der Valar, die ihrer Erinnerung beraubt wurde. Euch wohlbehalten hier wieder zu sehen, das läßt mir das Herz leichter schlagen."
Celeborn richtete sein Wort an Legolas.
„Euer Weg war nicht unbeschwert und mit knapper Not entgingt Ihr einem weiteren Angriff. Und auch nicht frei von Verlust war Eure Reise. Doch lasst Euch das Herz nicht schwer werden und ruht nun in unserem Heim. Bewachte Grenzen werden kein Übel zu Euch tragen, so lange Ihr hier weilt. Ein Haus hat man für Euch und Lady Melian bereitet. Seid unsere Gäste, so lange es Euer Wunsch ist."
Legolas verbeugte sich vor ihm und sah zu mir und Galadriel rüber. Diese entließ mich lächelnd aus ihrem Blick und strich mir über die Hand.
„Geht nun, Tochter meiner Freundin, und wandelt, wie es Euch beliebt. Zur Morgenstunde werde ich Euch treffen und wir werden gemeinsam über Euren weiteren Weg Rat halten."
„Ich danke Euch."
Ich senkte meinen Kopf vor ihr und Celeborn und ging dann mit Legolas wieder aus dem Haus. Ein Elb begleitete uns vom Talan und zeigte uns, wo wir untergebracht waren. Ein kleines Haus auf einem Fleet, nicht unweit des Pferdestalles, war für uns bereitet. Es machte einen gemütlichen, wenn auch etwas kargen Eindruck. Ein großer Raum, die Wände in grün, mit kleinen Fenstern. Ein großes Bett stand an der einen, ein Schreibtisch und einige Schränkchen an der anderen Seite. Durch eine Tür im hintersten Teil des Raumes gelangte man in ein kleines Bad.
Auch wenn das Haus nicht auf der Höhe vom Palast war, so konnte man auch von hier aus über die ganze Stadt schauen. Als der Elb fort war setzte ich mich an den Rand des Fleete und schaute mich um. Die unzähligen Lichter an den Bäumen und Fleets ließen die ganze Stadt in einem silbrig grünen Glanz erstrahlen. Wie Glühwürmchen sahen die Lichter der Elben aus, die zwischen den Bäumen wandelten. Die Stadt war voll mit Elben, doch spiegelte sie in diesem Moment eine Ruhe und Friedlichkeit aus, wie eine Sommerwiese bei sternklarer Nacht. Ein Gefühl kam wieder in mir hoch, das ich in den letzten Tagen des öfteren gespürt hatte.
Heimweh. Auch wenn ich mich hier inzwischen an der Seite von Legolas sicher fühlte, war es doch immer nur ein Traum von mir gewesen, wirklich hier zu sein. Ein Traum, der sich auf gewisse Ereignisse, und kurze Zeit beschränkte. Doch mittlerweile war ich schon über acht Tage hier. Und ich hatte nicht das Gefühl, das sich das bald ändern würde. Meine Gedanken richteten sich auf meine Familie und meine Freunde. So, wie ich meine Freundin kannte, hatte sie sicher die wildesten Theorien, wohin ich verschwunden war. Aber es gab eine in meiner Familie, die vielleicht wußte, wo ich war. Meine kleine Schwester hatte sich schon vor langer Zeit von meinem Mittelerdefieber anstecken lassen, und gemeinsam hatte wir schon viele Stunden damit verbracht, uns Geschichten über uns in Mittelerde auszudenken. Und wenn sie das Buch gefunden hatte, und es sich wirklich mit meiner Geschichte füllte, dann wusste sie, was passiert war. Das die anderen ihr sicher kein Wort glauben würden, das leuchtete mir schon ein, aber vielleicht konnte sie mir helfen, wieder zurück zu kommen.
„Woran denkst du grad? Du siehst so traurig aus. Gefällt es dir hier nicht?"
Legolas hatte sich neben mich gesetzt und ich lehnte mich an ihn.
„Mir gefällt es sehr gut hier. Es ist so friedlich und ich werde mich sicher wohl fühlen."
„Aber ..?"
„Ich hab das Gefühl, als ob ich nicht hier her gehöre. Nicht nach Mittelerde. Für mich ist das alles so... fremd."
„Weil dir deine Erinnerung fehlt. Wenn du morgen mit Lady Galadriel sprichst, dann wird sie dir sicher helfen, deine Vergangenheit wieder zu finden. Laß uns jetzt schlafen gehen."
Wie sollte ich meine Vergangenheit wiederfinden, wenn es nichts gab, woran ich mich hätte erinnern können. Melian war doch eine von mir ausgedachte Person, wie kann die eine Vergangenheit haben? Aber das war mir dann auch egal. Galadriel hatte gesagt, zur Morgenstunde wollte sie mich treffen. Das hieß, wenn die Sonne aufging. Warum mußten die Elben auch bloß Frühaufsteher sein. Gemeinsam gingen wir ins Haus und legten uns schlafen.
