Kapitel 24 oder die Flucht in den Fangorn

Am Abend des dritten Tages erreichten wir den Rand des Fangornwaldes. Unsere Reise war bis auf einige scheue Tiere begegnungslos geblieben. Die letzten beiden Tage waren wir in sehr raschem Tempo voran gekommen. Nelladel, Niniéls Stute konnte lange Zeit mit Ancórdar mithalten. Sie war nicht von seiner Größe und Stärke, doch sie war geschwind und sehr ausdauernd.

In der letzten Nacht hatte ich versucht, in Gedanken Legolas zu erblicken, doch ihn umgaben nur graue Schatten. So sehr ich mich auch konzentrierte, ich konnte kein klares Bild vor mir sehen. Ich überlegte lange, was das bedeuten könnte. Doch auch in meinen Träumen bekam ich keine Antwort.

Als der Wald vor uns immer größer wurden, verlangsamten wir das Tempo. In gemächlichem Schritt näherten wir uns den Bäumen. Wie eine dichte Decke aus Moos zog sich das Dach des Fangorn am Nebelgebirge entlang. Die Bäume waren nicht von der Größe der Mallorn, doch sie waren von einer Macht umgeben, die mich erzittern ließ. Große, mächtige Stämme hatten sie und weit waren ihre Äste ineinander verzweigt. Tief mußten ihre Wurzeln reichen. Nicht der schwerste Sturm schien ihnen etwas anhaben zu können. Majestätisch aber auch bedrohlich lag er vor uns. Kein Licht drang aus ihm hervor.

„Niniél, warst du schon einmal im Fangorn?"

„Nein. Ich bin das erste Mal hier. Aber es ist mir viel berichtet worden. Meine Mutter hat mir als Kind immer Geschichten vom Fangorn erzählt. Der Hüter der Waldes geht in ihm um und sorgt dafür, dass die Bäume für sich bleiben. Wie über eine Herde Schafe, so soll er über die Bäume wachen. Wild und unberechenbar könnten sie werden, wenn er nicht auf sie achten würde."

„Ich habe von einem Baumhirten gehört. Sein Name war Baumbart, ein Ent."

„Woher kennst du seinen Namen? Bist du schon mal einem Ent begegnet?"

„Nein, aber ich habe von ihm gelesen. Er ist ein Freund von Gandalf und hat die Hobbits mit zum Enthing genommen."

„Deine Worte sind sehr wunderlich. Wer ist Gandalf, was ist ein Enthing und von welchen Hobbits sprichst du?"

„Oh, verzeih mir bitte. Ich habe in einem Buch eine Geschichte von Hobbits gelesen, die durch diesen Wald gekommen sind, und sie wurden von dem Ent mit zu einer Versammlung anderer Ents genommen. Die Versammlung nennt man Enthing. Und Gandalf ist ein Zauberer, Gandalf der Graue. Hast du noch nie etwas von ihm gehört?"

„Nein, mir ist nur Saruman bekannt. Er bewohnt den Orthanc im Nan Curunir. Das Tal des Zauberers. Die meisten nennen es aber Isengart. Er soll ein sehr mächtiger Zauberer sein. Aber soweit mir bekannt ist, wird er Saruman der Weiße genannt. Von einem Grauen Zauberer habe ich noch nie etwas gehört. In welchem Buch hast du von den Hobbits gelesen? Mir ist keines bekannt, in dem von Hobbits die Rede ist. Lord Elrond hat mir erzählt, dass das Land der Hobbits nur wenigen bekannt ist. Und dass die Halblinge weit reisen ist mir noch nie zu Ohren gekommen."

„Es ist ein besonderes Buch, von dem hat auch Lord Elrond noch nie etwas gehört. Aber es ist nur eine Geschichte, es ist erfunden, was in ihm steht."

War es das eigentlich wirklich? Ich war in Mittelerde, aber keiner sprach von Sauron, Mordor oder dem Ring. Könnte es vielleicht sein, das es die Ringe der Macht gar nicht gegeben hatte? Hatte das letzte Bündnis von Menschen und Elben im Kampf gegen Sauron am Ende des zweiten Zeitalters gar nicht stattgefunden?

„Niniél, wie heißt der König von Rohan?"

„König Brytta, aber er wir von seinem Volk nur Léofa genannt. Er ist sehr beliebt und immer hilfsbereit gegenüber Bedürftigen. Er wurde im Jahre 2752 der dritten Zeitalters zum König und seither geht es den Menschen in Rohan immer besser. Warum fragst du?"

„Ich…, ähm..., eigentlich hat diese Frage keinen bestimmten Grund."

Eines wurde mir auf einmal bewusst. Keiner der Menschen und Hobbits, die ich aus dem Herrn der Ringe kannte, war schon geboren. Nicht einmal Bilbo war schon auf dieser Welt. War der Ring vielleicht noch gar nicht gefunden?

„Sag bitte Niniél, was kannst du mir über Mordor erzählen?"

Mit weit aufgerissenen Augen sah sie mich an. Meine Frage schien sie erschrocken zu haben.

„Wie meinst du das? Was soll ich dir von Mordor erzählen? In diesen Zeiten gibt es nichts von einem Reich zu berichten, in dem nur Schrecken und Finsternis herrscht."

„Ich wollte nur wissen, was sich in Mordor befindet."

„Dort befindet sich nur Grauen. Niemand spricht darüber. Und keiner, der sich dorthin begibt, kehrt je wieder. Mein Vater sagte mir, dass Gondor im Krieg mit Mordor steht, aber er wollte nicht sagen, warum. Und du solltest nicht offen über dieses Reich sprechen. Das bringt nur Übel mit sich. Und jetzt lass uns ein Lagerplatz suchen."

Sie schien mir nun nicht mehr in der Stimmung, weitere Fragen zu beantworten. Ich mußte mich mit ihrer Antwort begnügen und versuchte mich an einige Artikel zu erinnern, die ich gelesen hatte. Doch in der Zeit vor dem großen Ringkrieg kannte ich mich nicht so gut aus.

Als der Morgen langsam dämmerte erwachte ich. Es war kühl geworden über Nacht und ich fror trotz Umhang und Decke. Ich ließ meinen Blick über die Ebene schweifen. Silbern schimmerte das Wasser des Anduin am Horizont und nur schwach konnte ich die Bäume des Düsterwaldes sehen. Wo Legolas wohl jetzt sein würde? Plötzlich schreckte ich hoch. Dort, vom Fluß her kommend, da bewegte sich etwas. Schwarze Flecken und sie schienen in unsere Richtung zu kommen. Ich kniff meine Augen zusammen und versuchte, mehr zu erkennen. Sie kamen von Anduin, doch noch mußte ein anderer Fluß vor ihnen liegen.

„Niniél, wach auf! Da hinten kommt etwas auf uns zu!"

Schläfrig erhob sie sich. Sie schirmte ihre Augen ab und sah in die Richtung, in die ich deutete.

„Es tut mir leid, aber meine Augen sind nicht so gut wie die deinen. Ich kann nichts erkennen."

„Sieh doch. Da hinter dem Fluß. Was ist das für ein Fluß, ist das der Limklar?"

„Ja, das ist er. Ihn kann ich noch schwach erkennen, aber weiter kann ich nicht blicken. Was siehst du dort? Beschreibe es mir bitte."

Ich stand auf und ging einige Schritte in die Richtung des Limklar. Ich schirmte meine Augen gegen die aufgehende Sonne ab. Ich war selbst erstaunt, daß ich so weit sehen konnte. Wahrscheinlich wurde ich zunehmenden elbischer, wenn ich schon weiter sehen konnte, als Niniél.

Ein ungutes Gefühl überkam mich und ich strengte mich an, so klar wie nur möglich die schwarzen Flecken zu sehen. Doch es waren keine schwarzen Flecken mehr. Ich konnte Umrisse von sich bewegenden Wesen sehen, und sie kamen am Fluß entlang auf uns zu. Und sie schienen sehr schnell unterwegs zu sein.

„Ich kann es nicht genau erkennen, aber ich würde sagen, das sind keine freundlichen Zeitgenossen. Und sie kommen auf der anderen Seite des Limklar genau in unsere Richtung. Auch wenn wir sofort losreiten, werden sie uns am Flussübergang sicher eingeholt haben. Niniél, was machen wir denn jetzt? Wir stehen hier wie auf dem Präsentierteller."

„Das hat uns gerade noch gefehlt. Das sind sicher Orks auf Streifzug. Mein Vater hat mir berichtet, dass sie oft in der Ebene vor dem Fangorn jagen gehen."

„Aber hier gibt es doch wenig Tiere. Auf was machen die Orks hier Jagd?"

Doch ihr Blick reichte mir schon als Antwort. Sie jagten Menschen. Und wir waren kurz davor, das nächste Jagdgut zu werden. Langsam machte sich Panik in mir breit. Es mußten mindestens 10 Orks gewesen sein. Zu viele um es allein mit ihnen aufnehmen zu können. Rasch packten wir unser Nachtlager zusammen und saßen auf unsere Pferde auf. Ich blickte ängstlich zu Niniél herüber. Ich wußte, was sie vor hatte. Es gab für uns nur eine Möglichkeit, der Gefahr noch rechtzeitig zu entkommen. Wir mußten durch den Fangorn fliehen.

Wir ritten in leicht westliche Richtung näher an das Nebelgebirge, immer weiter auf den Fangorn zu. Ich konnte nun die Orks klar erkennen und auch Niniél konnte sie sehen. Der Schrecken in ihren Augen wurde größer, je näher sie uns kamen. Wir spornten unsere Pferde noch mehr an und preschten auf die ersten Bäume des Fangorn zu. Doch noch bevor wir einen Fuß in den Wald gesetzt hatten, scheuten die Pferde. Ancórdar stieg, bäumte sich auf und protestierte lautstark gegen unser Vorhaben. Auch Nelladel wollte nicht in den Wald gehen. Wir hatten Mühe, uns auf den Pferden zu halten. Doch es gab keinen anderen Weg. Ich konnte nun schon das Gekeife und Geschrei der Orks hören. Ich sprang aus dem Sattel und versuchte, Ancórdar zu beruhigen. So sanft wie es meine zitternden Hände zuließen, strich ich ihm über den Hals.

„Ancórdar, mein Freund. Ich weiß, dass es dir nicht behagt, in diesen Wald zu gehen. Aber wir haben keine andere Wahl. Du mußt uns jetzt helfen. Wenn du gehst, wird auch Nelladel mit gehen. Bitte laß mich jetzt nicht im Stich, hörst du? Dass, was da auf uns zukommt wird schlimmer sein, als dieser Wald. Ich vertraue auf deine Kraft, uns wird im Fangorn nichts zustoßen. Hilfst du mir?"

Mit gespitzten Ohren hatte er meinen Worten gelauscht. Auch Nelladel hatte sich dadurch beruhigen lassen. Ich stieg wieder in den Sattel und wartete auf eine Reaktion von Ancórdar. Er blickte in die Richtung, von der die Orks kamen. Dann schüttelte er seinen Kopf, schnaubte leise auf und setzte sich in Bewegung, in den Fangorn. Nelladel folgte ihm, ohne dass Niniél sie dazu antreiben mußte. Zuerst gingen wir nur zögerlich zwischen den mächtigen Bäumen hindurch, doch dann erhöhte Ancórdar von allein das Tempo und bald ritten wir im leichten Galopp unter den Bäumen hindurch. Es wurde immer finsterer, je weiter wir in den Wald gerieten. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in mir breit und ich hatte den Eindruck, dass die Luft immer stickiger und auch dünner wurde. Doch so unwohl ich mich auch in diesem Wald fühlt, ein gutes hatte es, dass wir hineingeritten waren. Ich konnte die Stimmen der Orks nicht mehr hören und langsam beruhigte ich mich wieder. Ich vertraute voll auf Ancórdar und begann ein wenig von meiner Umgebung wahr zunehmen.

Einen Wald wie diesen hatte ich noch nie zuvor gesehen. Viele Wurzeln der Bäumen wuchsen nicht unter der Erde und der Boden war teilweise geradezu durchzogen von ihnen. Doch Ancórdar hatte keine Mühe, einen sicheren Weg durch das Wurzelwerk zu finden. Die Bäume machten einen sehr alten Eindruck auf mich. Was ich bisher über den Fangorn gelesen hatte, wurde in ihm in jedem Maße gerecht. Erstickend und unheimlich war er und ein Gefühl der Ablehnung kam mir von den einzelnen Bäumen entgegen. Es mußte wirklich Leben in ihnen stecken.

Nach kurzer Zeit erreichten wir den Limklar. Wir ritten weiter Flussaufwärts. In einer Karte hatte ich einmal gesehen, dass es dort eine Furt geben mußte.

Das Atmen fiel mir und auch Niniél zusehends schwerer. Das es eigentlich heller Tag war, davon konnten wir dort nichts sehen. Erst, als wir dem Flusslauf immer weiter aufwärts gefolgt waren, lichteten sich die Baumkronen ein wenig und vereinzelte Sonnenstrahlen fielen auf das Wasser. Der Weg führte stetig bergauf. Und je höher wir kamen, um so leichter fiel uns das Atmen wieder. Langsam verflog auch das letzten Fünkchen Angst vor den Orks in mir. Ich war mir sicher, dass sie uns nicht in den Wald folgen würden. Auch Niniéls Gesicht hellte sich ein wenig auf.

Wir sprachen sehr wenig und wenn nur flüsternd. Gespannt lauschten wir dem Flüstern der Bäume im Wind. Aber es war nicht einfach nur ein Rascheln der Blätter. Es schien eine Art Melodie zu sein. Und sie kam von allen Seiten um uns herum und es war mir, als würde sie uns folgen. Ich fühlte mich immer mehr beobachtet.

Ich konnte nicht mehr sagen, wie lange wir schon im Fangorn waren. Ich hatte keine Aussicht, den genauen Stand der Sonne zu sehen. Auch Niniél konnte nicht sagen, ob es schon Mittag war. Dann kamen wir an die erhoffte Furt. Doch bevor wir den Fluß durchschritten, rasteten wir. Wir nutzen die Gelegenheit und füllten unseren Wasservorrat wieder auf. Als wir uns auf eine mächtige Wurzel am Fluß gesetzt hatten, musterte ich die Bäume, die um uns herum standen.

„Niniél? Kannst du es auch fühlen?"

„Was genau meinst du? Ich bin mir meiner Gefühle hier nicht sicher. Es ist sehr seltsam in diesem Wald."

„Sie beobachten uns. Sie wollen nicht, dass wir hier sind. Sie sind zornig."

„Du sprichst von den Bäumen? Beobachtet fühle ich mich schon länger. Aber ich kann nicht sagen, dass es von den Bäumen kommt. Ich finde den ganzen Wald unheimlich."

Schweigend aßen wir weiter an unserem Brot.