Kapitel 2

„Grishhâk, setz dich sofort wieder hin!" Doch alles Schreien half nichts, das junge Mädchen war bereits aus dem Saal gestürmt und hatte die große Eichentür hinter sich zugeschlagen. Seufzend sah ihr der Fürst der Nazgûl hinterher. Seit zehn Jahren lebte seine Enkelin nun schon bei ihm, aber es war ihm noch nicht gelungen, in ihr das Interesse für Strategie und Kriegsführung zu wecken. Statt zu lernen verbrachte Grishhâk ihre Tage lieber im Hof der Festung und übte sich mit den Orks in Schwertkampf und Bogenschießen.

Er ging zu einem der großen Fenster und sah hinunter. Es dauerte einen Moment, dann öffnete sich eine Pforte und das blonde Mädchen rannte auf den Hof. Er schüttelte den Kopf und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

Keuchend blieb Grishhâk zwischen den anwesenden Orks stehen und sah sich um. In einer Ecke sah sie ihre Freundin stehen und lief auf sie zu. „Hei, wo kommst du denn schon her?", wurde sie von Moscha begrüßt. „Dachte, du müsstest lernen." Bei ihrem letzten Wort verzog das Orkmädchen angewidert das Gesicht.

„Bin gegangen." Mit verschränkten Armen lehnte sich Grishhâk an die Mauer. „Weiß auch nicht, wieso er's immer wieder versucht. Sollte doch bald merken, dass ich nicht will." Sie seufzte tief, doch dann hellte sich ihre Mine auf, als sie einen jungen Ork auf sich zukommen sah.

„Du schon wieder", schnaubte Moscha verächtlich, als sie ihren großen Bruder erkannte. „Kannst du uns nicht einfach mal in Ruhe lassen?"

Der Ork ignorierte sie und wandte sich an Grishhâk. „Ai, Kleine, Zeit zum spielen?" Demonstrativ legte er seine Hand auf den Knauf des an seinem Gürtel baumelnden Schwertes. Genervt verdrehte seine Schwester die Augen, doch über Grishhâks Gesicht huschte ein kaltes Lächeln. Vielleicht würde der Tag doch noch besser werden, als sie zuerst gedacht hatte…

Derweil herrschte weiter nördlich in den Hallen des Elbenkönigs reges Treiben. „Gwaithion!" Entnervt folgte der Berater Thranduils dem Ruf seines Königs und betrat dessen Arbeitszimmer.

„Ihr habt gerufen?" Der Elb verneigte sich leicht.

„Ah, da seid Ihr ja! Ich brauche Euren Rat in dieser Angelegenheit." Zwar schien Thranduil äußerlich ruhig zu sein, doch Gwaithion kannte ihn nun lange genug, um zu erkennen, dass der so gefasst wirkende Elb sich stark zusammenreißen musste, um diesen Schein aufrecht zu erhalten. Noch bevor Gwaithion etwas sagen konnte, sprach der König weiter. „Schon wieder ein Orkangriff auf einen unserer Wachtposten. So kann das einfach nicht weitergehen."

Der Berater nickte. „Doch was wollt Ihr tun? Dol Guldur angreifen?" Der Elb musste schlucken, als er den Gesichtsausdruck seines Königs sah. Die Entschlossenheit, die in Thranduils Augen zu sehen war, machte ihm Angst. Er kannte diesen Blick. Thranduil hatte sich bereits entschieden und nicht mal Gwaithion würde ihn mehr von seiner Entscheidung abbringen. Er ließ die Schultern hängen. „Ich halte das nicht für die richtige Lösung."

„Ich habe Euch nicht gerufen, um meine Meinung zu beurteilen, sondern weil Ihr mein bester Stratege seid und ich mir mit einer Taktik noch nicht sicher bin. Kommt her." Gwaithion folgte der Handbewegung Thranduils und beugte sich ebenfalls über eine Karte Düsterwalds. Die Karte zeigte neben den wenigen bekannten Wegen durch den großen Wald auch die geheimen Pfade der Elben. Zwei davon führten nach Dol Guldur, auch wenn sie schon lange nicht mehr benutzt wurden. Der eine wand sich im Bogen um die Festung, um dann auf den Hauptzugangsweg zu stoßen, während sich der Andere von der entgegen gesetzten Richtung näherte.

„Wenn wir direkt angreifen, haben wir keine Chance, überhaupt das Innere der Festung zu sehen", meinte Gwaithion nachdenklich. Er fuhr mit dem Finger den Weg zur Rückseite Dol Guldurs nach. „Wir könnten unseren Angriff zweiteilen. Ein kleiner Teil greift von hinten an und lenkt so die Feinde ab, während der Rest versucht, von vorne in die Festung einzudringen."

„So in etwa habe ich mir das auch vorgestellt." Thranduil beugte sich seufzend über die Karte.

„Ai, da draußen ist was!"

„Wo soll da was sein?"

„Na, da draußen im Wald, da bewegt sich was."

„Blödsinn, was soll sich da schon… ach du Scheiße, das sind Elben!"

Plötzlich kam Hektik in die Orks, die gerade Wachdienst auf der äußeren Mauer Dol Guldurs hatten. „Macht nichts, bis ich wieder da bin!", rief ein ziemlich massiger Ork, der aufgrund seiner Körperkraft das Sagen hatte, und lief los, um dem Fürsten der Nazgul Bericht zu erstatten. Mit Schwung stürzte er in den Versammlungssaal der Festung, ließ sich auf die Knie fallen und neigte den Kopf nach unten. Als er gerade anfangen wollte, vom Angriff der Elben zu erzählen, lenkte ein leises Räuspern aus einer Ecke seine Aufmerksamkeit auf sich.

„Der ist gerade raus auf den Hof gegangen." Verwirrt sah er die Orkfrau an, die gesprochen hatte. Sie trug im Gegensatz zu den anderen Orks der Festung weder Waffen noch Rüstung, sondern war in ein Kleid aus grobem, schwarzen Stoff gekleidet. Auch ihre Harre waren nicht verfilzt, sondern zu einem dicken Zopf geflochten. Bei ihrem Anblick stand der Wachork etwas unbeholfen auf und verneigte sich leicht. Es war nicht ratsam, Laruscha, die Schülerin des Hexenmeisters, zu verärgern. „Aber du kannst mir auch sagen, was du ihm zu berichten hast", sagte sie mit einem Unterton in der Stimme, der dem Ork zu verstehen gab, dass er ihr besser gehorchte. Er atmete ein paar Mal tief durch, dann erzählte er ihr vom Angriff der Elben.

„Holla, spinnst du?" Wütend warf Grishhâk ihr Schwert auf den Boden und stürzte sich auf Pradish, der abwehrend die Hände hob, doch zu spät. Das Mädchen hatte ihn einfach mit umgerissen und versuchte nun, ihn am Boden festzunageln. Pradish stöhnte genervt auf und gab sich Mühe, wieder auf die Beine zu kommen und Grishhâk abzuschütteln, die jedoch um einiges wendiger und flinker war, als der größere Ork. Erst, als die beiden Kontrahenten das schrille Lachen Moschas hörten, ließ Grishhâk los. „Mach das nicht noch mal." Mit einem bösen Funkeln in der Augen hob sie ihr Schwert wieder auf und befestigte es sicher an ihrem Schultergurt.

Ein Stückchen von den Dreien entfernt stand in Schatten gehüllt der Fürst der Nazgul und sah den Kindern beim Kämpfen zu. Plötzlich trat der Junge Grishhâk gegen das Bein, woraufhin diese ihr Schwert wegwarf und sich auf den Ork stürtzte. ‚Sie lässt sich einfach noch zu leicht ablenken', dachte er, als er bemerkte, wie sich ihm jemand näherte. „Was hast du zu sagen, Laruscha?", fragte er, ohne sich zu der Orkfrau umzudrehen.

„Wir werden angegriffen. Einer der Wachen hat es mir gerade erzählt. Es sind Elben und sie kommen von Osten." Mit einigen wenigen Schritten baute sie sich neben ihrem Lehrmeister auf und betrachtete ebenfalls den vor ihnen liegenden Hof. Einen Moment lang schwiegen Beide, dann meinte Laruscha leise: „Irgendetwas stimmt da nicht."

Der Hexenkönig nickte bedächtig. „Da kannst du Recht haben. Von Osten aus haben sie keine Chance gegen unsere Festung. Wenn Thranduil diesen Angriff leitet, muss etwas nicht stimmen, oder er ist sehr viel dümmer, als ich bis jetzt annahm." Wieder richteten Beide ihre Aufmerksamkeit auf Grishhâk und Pradish, die inzwischen dazu übergegangen waren, sich zu raufen.

„Sie ist gut geworden", meinte Laruscha und deutete mit einem Nicken auf Grishhâk, als diese gerade wieder von ihrem Freund abließ und ihr Schwert aufhob.

„Aber nicht gut genug." Mit einem Ruck wand sich der Hexenkönig von dem nun beendeten Kampf ab und bedeutete Laruscha, ihm zu folgen, während er sich wieder dem Tor zum Inneren der Gebäude näherte. „Sie ist zu leichtfertig."

Die Orkfrau strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht hinters Ohr, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte und folgte ihm in das Dunkel des Turmes. „Sie ist noch jung, sie wird es noch lernen."

Der Nazgul blieb stehen und sah auf Laruscha. „Dann soll sie jetzt die Gelegenheit dazu haben. Bring sie zu mir." Mit diesen Worten wandte er sich wieder um und ließ Laruscha alleine zurück. Diese seufzte und machte sich auf den Weg, Grishhâk zu ihrem Großvater zu bringen.

„Grishhâk! Grishhâk, hierher!"

„Ich komme ja schon!" Grishhâk verdrehte die Augen und winkte ihren Freunden Moscha und Pradish noch einmal zu, bevor sie auf Laruscha zulief, die am Rand des Hofes mit verschränkten Armen auf sie wartete. „Bin ja schon da."

„Wurde auch langsam Zeit", kam es von der Orkfrau zurück, als sie dem Mädchen in die Festung folgte. „Der Herr will dich sprechen."

Grishhâk stöhnte. „Ich war doch gerade schon bei ihm. Ist es, weil ich weggerannt bin? Dann kann ich auch gleich wieder gehen."

Laruscha legte ihre Hand auf die Schulter der Jüngeren, um ebendies zu verhindern. „Nein, ich glaube, es ist etwas anderes", meinte sie, als sie vor der Tür zum Versammlungssaal angekommen waren. Sie öffnete sie und beide traten ein.

„Ah, Grishhâk." Der Hexenkönig saß hinter dem großen Tisch, der einen Großteil des Saales ausmachte. „Da bist du ja wieder." Er zeigte auf einen Stuhl in seiner Nähe. „Setz dich, ich habe etwas mit dir zu besprechen."

„Aber wieso muss er ausgerechnet mich schicken?" Zornig stampfte Grishhâk durch den dichten Wald. Keuchend stolperte die um einiges größere Moscha hinter ihr her.

„Jetzt mach doch mal langsamer, ich komme kaum nach!" Doch Grishhâk setzte ihren Weg unbeirrt und fluchend fort, ohne auf ihre Freundin zu achten. Irgendwann wurde es Moscha zu bunt und sie bleib an einen Baumstamm gelehnt stehen. „Grishhâk, warte, oder du kannst alleine gehen!"

Abrupt blieb Grishhâk stehen und drehte sich um. „Ach, und du willst dann hierbleiben? Das traust du dich doch sowieso nicht." Mit einem Ruck drehte sie sich um und lief weiter in den Wald hinein. „Du musst noch viel lernen... Deine Technik verbessern... Dich nicht so leicht ablenken lassen... Was fällt dem eigentlich ein, mich wie ein Kleinkind zu behandeln?"

Wütend ballte sie ihre Hände zu Fäusten, als sie sich an die Worte des Nazgulfürsten erinnerte. Sie konnte nicht verstehen, wieso es ihre Fähigkeiten schulen sollte, Spion für ihren Großvater zu spielen. Sie hätte sich lieber mit den Anderen auf den Kampf vorbereitet. Es wäre ihr Erster gewesen. Aber nein, sie musste sich durch dieses dämliche Gestrüpp schlagen und die Feinde ausspionieren. Grishhâk war wirklich in Höchststimmung.

Ein Wiehern erklang plötzlich neben ihr und ein junger Hengst kam aus dem Gebüsch gelaufen und blieb vor Grishhâk stehen. Die zuckte erschrocken zusammen, doch der Schimmel ging mit gesenktem Kopf auf sie zu, bis sie ihn berühren konnte. Ein Lächeln huschte über Grishhâks Gesicht, als sie das weiche Fell unter ihrer Hand spürte. Sie kannte das Pferd. „Sheafur", flüsterte sie und drückte ihren Kopf an den des Pferdes. „Da bist du ja."

„Das kann ja wohl nicht wahr sein!"

Erschrocken drehte sich Grishhâk um. „Moscha..."

„Lässt du mich einfach im Wald stehen! Ich glaub, du bist jetzt völlig durchgedreht..." Das wütende Orkmädchen stockte mitten im Satz, als sie das Pferd sah. „Sag mal, wo hast du das jetzt her?"

Grishhâk kletterte auf den Rücken Sheafurs und sagte: „Erzähl' ich dir später, ich muss los." Dann beugte sie sich über den schlanken Hals des Hengstes und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Anmutig verschwanden Reiter und Pferd im Wald, eine vor Staunen erstarrte Moscha zurücklassend.