4. Kapitel

Amons Flucht

´Plop. Plop. Plop.´

Durch ein regelmäßiges Geräusch und ebenso regelmäßige Berührungen auf meinem Gesicht wachte ich auf. War die Nacht schon wieder vorbei? Hatte ich überhaupt länger als ein paar Minuten geschlafen? Es kam mir nicht so vor. Vehement ich wehrte ich mich dagegen die Augen zu öffnen „Ooh – lasst mich noch ein wenig schlafen! Nur noch ein wenig. Ich werde auch rechtzeitig zum Früh..."Ich riss die Augen auf. „Ooh nein..."– und schloss sie wieder. Die Erinnerungen an die letzten Tage schlichen sich zurück in meine Gedanken.

´Plop. Plop.

Ich zischte wütend, öffnete dann aber widerwillig die Augen wieder. Ich sah nach oben. Von der lehmigen Decke tropfte ein stetiger Rinnsal aus feinen, hellbraun gefärbten Wassertröpfchen auf mich herab. Missmutig schlug ich mit der Hand nach einem herabfallenden Tropfen, doch ich verfehlte ihn und er landete direkt in meinem Auge, das sofort wie Feuer zu brennen begann.

Mit dem linken Handrücken immer noch das Auge reibend erhob ich mich schließlich von dem kalten, feuchten Steinboden und sah mich um. Ich stand in einem fast vollkommen dunklen Gang, der schon alt war und keine Reichtümer mehr barg. Aus diesem Grunde war er verlassen, die Männer mit ihren Hacken und Spaten hatten schon längst neue, ergiebige Stellen zum Graben gefunden.

Und genau deshalb hatte ich diesen Weg gewählt um zu verschwinden – er war lang, doch der Ausgang lag ebenfalls einsam und geschützt.

Ich sollte mich auf den Weg machen. Ich kannte die genaue Tageszeit nicht, doch ich hoffte den Ausgang in der Dunkelheit zu erreichen. Ich brummte und setzte mich in Bewegung, die Augen auf meine Füße gerichtet. Es waren Zwergenfüße in schweren Stiefeln, darüber hing eine dunkelbraune Hose aus stabilem Stoff, deren Beine so weit ausgestellt waren, dass sie sie beinahe wie einen unedlen, mit lehmverzierten Rock aussehen ließen. Nicht dass ich jemals einen Rock getragen hätte...

Die rhythmischen Bewegungen meiner Füße versetzten mich langsam in einen tranceähnlichen Zustand.

So wanderte ich immer und immer weiter durch die Dunkelheit.

Der schwere Rucksack , der meine sieben Sachen und genügend Verpflegung für die nächste Zeit enthielt, machte mir immer mehr zu schaffen. Ich brauchte eine Pause. Mit letzter Kraft hob ich den Rucksack von meinem Rücken und stellte ihn auf den Boden, dann lehnte ich mich an eine lehmige Wand und ließ mich an ihr zu Boden gleiten.

Mit geschlossenen Augen wühlte ich in meinem Rucksack. Endlich! Herzhaft biss ich in eine dicke Scheibe kross gebackenes Brot mit einer dicken Scheibe Mettwurst darauf. Ich entspannte mich. Doch plötzlich schreckte ich auf. War da ein Geräusch gewesen?

Ich spürte auf einmal eine Anwesenheit ganz in meiner Nähe. Der Bissen Mettwurstbrot, den ich gerade gekaut hatte, blieb mir im Hals stecken. Sollte dieser verlassene Teil der Miene nun vom Bösen bewohnt sein?

Langsam, ganz langsam hob ich den Kopf... ... und sah einem mir nur allzu bekannten Zwerg in die Augen. Sein strenger Blich durchbohrte mich, doch er machte mir keine Angst. „Was willst du?", zischte ich.

Wut stieg in mir auf. Er würde versuchen mich zurückzuholen, das wusste ich, doch das würde ich nicht mitmachen. „Amon! Wie kannst du...?"Er ballte die Fäuste. „Die ganze Familie ist in Aufruhr – Kirons einzige Tochter ist verschwunden – vier Tage vor ihrer Hochzeit! Ihr könnte sonst was passiert sein! Viele werden losgeschickt um nach ihr zu suchen – und dann... du... hier..."

Er brach ab. Ich biss die Zähne zusammen. „Lass mich gehen!", sagte ich ohne die Zähne auseinanderzunehmen.

„Du verstehst doch nicht was du da tust!"

Ich stieß einen empörten Laut aus. „Du weißt, dass ich ihn nicht liebe – und nicht nur das, er ist mir zuwider! Ich kann ihn nicht leiden!"

„Aber du musst das verstehen..."Mein großer Bruder ließ sich neben mir nieder. „Nur ein Drittel aller Zwerge sind weiblich! Wir beschützen die Frauen unseres Volkes..."Er blickte mich an. „...aber wir können es uns unserem Volk zuliebe nicht erlauben, dass sie nicht heiraten und keine Kinder bekommen!"

„Ja.", erwiderte ich und meine Stimme zitterte vor Wut. In mir brodelte es.

„Genau das ist es, was mich anwidert, Gijon. Ich bin sechsunddreißig Jahre alt und endlich unabhängig. Ich will weg von hier, verstehst du? Mal sehen was es noch so gibt in Mittelerde – ein bisschen von diesem Abenteuerquatsch... Und vielleicht werde ich zurückkommen und Kinder bekommen, auf die das Volk der Zwerge stolz sein wird. Eines Tages.

„Ich stand auf, ließ meinen Bruder dabei jedoch nicht aus den Augen. „Oder...", fragte ich herausfordernd, weil ich wusste wie wichtig es ihm bei aller Strenge war, „dass ich mein Leben lang unglücklich bin?"

Eine kleine Pause entstand, dann stand Gijon ebenfalls auf. Er öffnete den Mund und ich war gespannt auf seine Reaktion auf meine Worte, mit denen ich wahrscheinlich seine Hoffnung dass seine kleine Schwester doch noch diesen unter den Mitgliedern unseres Zwergenstammes hoch geachteten Mann heiraten und so ihre Eltern unglaublich stolz und glücklich machen würde, zunichte gemacht hatte.

Doch er sagte nichts. Stattdessen schloss er den Mund wieder und drehte sich langsam von mir weg.

„Ich habe dich also nicht gefunden.", sagte er plötzlich, „es tut mir Leid, doch ich schätze, dass du die Grenze bereits überquert hast."

Es dauerte eine Weile bis ich verstand. „Du wirst mich gehen lassen und für mich lügen?"Gijon senkte den Kopf. „Danke!", flüsterte ich und noch nie in meinem Leben hatte dieses Wort meine Gefühle so sehr ausdrücken können wie in diesem Augenblick.

„Macht dich DAS glücklich?"Er drehte sich wieder zu mir um und sah mich nun direkt an, doch ich wandte meinen Blick ab. „Guck mich bitte an, Amon." Zaghaft wanderte mein Blick zurück zu seinen Augen. Sie blitzen wie Fackeln in der Dunkelheit der Miene. „Pass gut auf dich auf bei diesem Abenteuerquatsch.", sagte er und begann auf einmal zu Lachen. „Ich wusste, dass es einmal so mit dir kommen wird, Schwester. Es musste so kommen."

Aus irgendeinem unerfindlichen Grund konnte ich aus Gijons Worte nichts erwiedern. Also schwieg ich.

„Mach gut kleine Schwester, und bleib nicht zu lange fort."Damit schob er mich zur Seite und ging.

Regungslos verharrte ich noch so lange, bis das Echo seiner schweren Schritte nicht mehr zu hören war, dann machte ich mich auf den Weg zum Ausgang.

„Ich hab´s geschafft!"

Lachend hüpfte ich von der niedrigen Stufe, die den Ausgang der Höhle markierte, hinunter und reckte die Arme in die frostig kalte Nachtluft.

Wie ich gehofft hatte war ich in der Dunkelheit noch eine Weile geborgen, sodass ich tatsächlich schon weit über die Grenze gekommen sein würde wenn der Tag hereinbrach. Fröhlich vorwärtshüpfend setzte ich meinen Weg fort und summte dabei leise ein zwergisches Lied.

„Huch!"Ich hatte in meiner Freude wohl nicht genug auf den Weg geachtet, denn ich hatte nicht einmal bemerkt wie ich an das Ufer der Rotwasser gelangt war. Ich war einen großen, moosbedeckten Stein hinuntergerutscht und stand nun mit den bis zu den Knöcheln im Wasser.

„Iiiih – meine Stiefel laufen voll!"

Mit einem Satz war ich wieder ins Gras gesprungen. Meine Füße waren nun klitschnass und kalt.

Ich sah mich um. Der Stein, von dem ich eben gerutscht war, war wirklich massiv und bot Schutz vor dem beißenden Wind, ebenso vor den Blicken von Zwergen, die auf der Suche nach mir waren. Also beschloss ich, dass ich eine Pause machen könnte um etwas zu essen, zu ruhen und meine klammen Füße zu wärmen.

Doch ich wurde wieder einmal gestört. Ein Geräusch ließ mich vor Schreck zusammenfahren. Das Geräusch von knirschendem Kies am Ufer des Flusses.

Und es kam noch etwas hinzu – ein melancholisches Lied, gesummt von einer tiefen Zwergenstimme.

Langsam stand ich auf. Diese Stimme kam mir so seltsam bekannt vor!

Ich lugte vorsichtig über die verwitterte Kante des Steins hinweg und...

Das konnte nicht sein! Was machte er hier? Und wo wollte er hin?

Ich hatte Angst um den Plan meiner Flucht, der beinahe unerwartet perfekt aufgegangengen war, doch ich konnte meine Neugier nicht überwinden.

Schon hallte meine Stimme durch die Nacht. „Khibun!"