Kapitel Zwei
Unerwatetes Wiedersehen
Doch Ron war nicht zugänglich für irgendeine Art von Argumenten. Als er merkte, dass Ginny nicht freiwillig mit ihm kommen würde, packte er sie kurz entschlossen an dem Handgelenk und zerrte sie hinter sich her, zurück zum Schloss. Zurückgelassen wurde ein immer noch etwas benommener Draco, aus dessen Nase immer noch etwas Blut tropfte.
Es dauerte ein paar Tage bis sie sich wieder sahen. Allerdings war dieses Zusammentreffen weder zufälliger Natur, noch beabsichtig.
Es geschah an einem Freitagabend in der Bücherei. Es war kurz vor neun Uhr, Ginny war gerade auf dem weg zu ihrer Tutorstunde. Sie musste ihr Wissen in Zaubertränke verbessern, sonst drohte ihr, dass sie durch die Versetzungstests durchfiel und das konnte sie sich auf keinen Fall leisten. Alle ihrer Familie hatten es vorher geschafft, sogar Ron, der zu der Zeit nun wirklich gänzlich andere Dinge im Kopf hatte, als für die Prüfungen zu lernen. Dumbledore war so freundlich sie in das Tutorprogramm aufzunehmen und nun war sie auf dem Weg zu ihrer ersten Stunde. Sie hatte keine Ahnung wer ihr Lehrer sein würde, sie hoffte, dass es nicht Hermine wäre, denn, so sehr Ginny dieses Mädchen, nun viel mehr schon eine Frau, auch liebte und schätzte als Freundin, sie hatte erlebt, wie Hermine mit Ron und Harry umsprang, wenn es um Hausaufgaben oder Arbeiten ging und sie wollte sich nicht dem gleichen Druck ausgesetzt sehen. So kam es, dass Ginny an einem der hintersten Tische in der hintersten Ecke der verwinkelten Bücherei saß und wartete.
Wie immer war sie zu früh, wenn sie sich verabredete, deshalb nahm sie das Buch, dass sie zu der Zeit gerade las, heraus. Momentan war es „Les Miserables" von Victor Hugo. Es war eine einzige Zumutung, schon allein die Dicke des Buches, es besaß mehr als 1600 Seiten, aber Ginny Weasley konnte so etwas nicht abschrecken. Nein, es zog sie vielmehr in den Bann. Allerdings hatte sie gerade einmal das erste Kapitel des ersten Buches hinter sich gebracht, also noch eine Menge zu lesender Stoff vor sich.
Kurz vor fünf betrat Draco die Bibliothek, ohne Anhang, ohne Pansy, ohne Bodyguards, wirklich ganz allein und ging, nachdem er sich einmal gründlich umgesehen hatte, zielstrebig auf Ginnys Tisch zu. Er schien öfters sich in der Bibliothek aufzuhalten, kannte er sich doch sehr gut aus, Ginnys Platz war nicht für jedermann einsichtbar, nur wer die verwinkelten Ecken kannte wusste, dass dort überhaupt ein Tisch stand.
Vollkommen von ihrem Buch gefesselt, bemerkte Ginny nicht, wie sich eine Person ihrem Tisch näherte, davor stehen blieb und sie beobachtete. Beobachten trifft es nicht ganz, was er nun tat, er studierte sie vielmehr eingehend. Dass sie hübsch anzusehen war, musste er zugeben. Ihr Haar von einem Rot, nicht anders zu beschreiben als Rostrot, eine herrliche Farbe. Heute hatte sie die vordersten Strähnen genommen und hinten zusammengebunden, so dass sie ihr nicht ständig ins Gesicht fielen. Dennoch hatten sich ein paar kleine widerspenstige Locken davon gestohlen, fielen ihr ins Gesicht, umrahmten es. Strähnen ihres Haares fielen ihr über die Schulter, an den Spitzen lockte es sich. Ihre Gesichtszüge von unglaublicher Feinheit, mit einem Mal hatte er das Gefühl, ein Engel säße vor ihm. Er konnte wirklich nicht leugnen, dass sie hübsch war. Weshalb war ihm das zuvor noch nicht aufgefallen?
Er sah sie wohl fünf Minuten lang nur an, bis ihm dann endlich klar wurde, dass er sie anstarrte. Um auf sich aufmerksam zu machen, räusperte er sich. Dann ging er einen Schritt auf sie zu und setzte sich, als wäre es das natürlichste der Welt neben sie.
Erschrocken von diesem unerwarteten Geräusch zuckte sie zusammen, woraufhin sich, unbeabsichtigt, fast unbemerkt, ein Grinsen auf sein Gesicht stahl. Ungläubig sah sie ihn an, ohne ein Wort zu sagen, fast schien es als hätte es ihr die Sprache verschlagen. Doch dies schien nur so, denn kaum hatte er den Mund geöffnet, um sie zu begrüßen, brach auch schon ein Schwall Wörter aus ihr hervor: „Malfoy, was willst du denn hier? Sonst niemand da, dem du auf die Nerven gehen kannst mit deiner ignoranten Arroganz? Im Gegensatz zu dir bin ich nicht zum Spaß hier, ich erwarte jemanden. Würdest du wenigstens einmal menschlich sein und mich jetzt ihn Ruhe lassen und auf der Stelle verschwinden?"
Alles was Draco erwiderte, war ein „bedauerndes" Kopfschütteln. „Tztz, wer wird denn gleich so schnippisch werden. Da will man einmal human sein und einer einsamen Person Gesellschaft leisten und was geschieht? Sie schickt einen fort. Wen erwatest du denn?", erkundigte er sich, vorgebend keine Ahnung zu haben. „Ich wüsste nicht, dass dich angeht, auf wen ich warte. Wenn du glaubst, ich würde deiner Heuchlerei Glauben schenken, dann muss ich dich enttäuschen. Auch wenn es von vielen nicht bemerkt wird, ich bin weder dumm, noch naiv. Also, würdest du mich jetzt bitte in Ruhe lassen?" „Hey, ist ja gut. Glaub mir, ich bin ganz bestimmt nicht freiwillig hier. Dumbledore hat mich hierher geschickt. Ich solle jemandem zu tutoren in Zaubertränke. Nun, hier bin ich. Leider konnte ich mir nicht aussuchen, wem ich helfe, glaube mir, sonst wäre ich garantiert nicht dein Tutor."
Darauf erwiderte Ginny gar nichts. Sie sah ihn einfach nur an, als hätte sie nicht wirklich verstehen können, verstehen wollen, was er gerade gesagt hatte. Sie sah ihn an, als hätte sie ihm nicht einmal richtig zugehört, als wäre sie in einer anderen Welt, von etwas anderen Träumen. Dies geschah in letzter Zeit immer häufiger. Sie träumte sich immer öfter in ihre eigene Welt, die so anders und doch so gleich der war, in der sie leben musste.
„Hey, Erde an Weasley. Bist du noch da? Können wir vielleicht jetzt anfangen? Ich habe nämlich nicht ewig Zeit." Wie aus einer Trance erwachend sah sie ihn an, schüttelte ihren Kopf um ihn frei von jeglichen anderen Gedanken zu machen und nickte „Ja, lass uns anfangen."
Der Rest des Abends verlief ohne irgendwelche nennenswerte Unterbrechungen, zwar fing sie zwischendurch immer wieder an zu träumen, aber er ließ ihr nie genug Zeit um völlig abzudriften, immer wieder fesselte er ihre Aufmerksamkeit mit neuen Ideen und Formeln.
„Okay, das war's für heute.", erleichtert nicht noch mehr Fragen beantworten zu müssen beendete Draco die Sitzung. Auch Ginny war froh, sich nicht länger Gedanken um irgendwelche Zaubertränke machen zu müssen. Rasch raffte sie ihre Sachen zusammen und schickte sich an aufzustehen. „Nächste Woche gleiche Zeit, gleicher Ort?", fragte da Draco. Überrascht sah sie ihn an: „Eigentlich dachte ich, es würde eine Sitzung reichen." „Wie bitte? Du hast noch einiges aufzuholen, wenn du die diesjährigen Abschlussprüfungen bestehen willst. Ich glaube nicht, dass die Lücken und Probleme mit einer Sitzung aufgearbeitet sind. Aber wenn du glaubst es reicht, bitte, mir soll's nur recht sein." „Nein, ich denke schon, dass es gut wäre, wenn wir uns noch einmal treffen würden. Nächste Woche also, gleiche Zeit, gleicher Ort."
