Prolog

Der Himmel verdunkelte sich zu einem kalten Abendrot und die Sonne stach in Form eines kleinen, grellen Lichtpunktes durch die aufkommenden Wolken kurz bevor sie am Horizont entlang rollte und herunterzufallen drohte. Ein Schwarm Krähen flog schreiend an der großen Fensterfront des obersten Stocks im Turm der Kaiba Corporation vorbei und ihre Schatten hüllten das spärlich eingerichtete Büro für einen Moment in flackerndes Dämmerlicht. Seto war selbst noch am späten Abend über seine Arbeit gebeugt und darin vertieft, er merkte nicht einmal, wie jemand die Bürotür am anderen Ende des Zimmers aufschob und auf Schnürstiefeln über den Marmorboden klackerte. Selbst als ein Schatten in seinem Augenwinkel auftauchte und dort in eine regungslose Haltung der Erwartung wechselte, rührte er sich nicht und las ungerührt weiter in der vor ihm ausgebreiteten Akte.

Zahlen surrten durch seinen Kopf. Seine Gedanken huschten wie wild durch seinen Kopf und er hatte völlig den Kontakt zu seiner Umwelt verloren. In einer Sphäre aus Ruhe und dem allgegenwärtigen Duft von Leder hatte er sich eingeschlossen und ganz die Zeit vergessen. Plötzlich brach der Strom seiner Gedanken ab und von irgendwoher drang der Geruch von Frühling in seinen Kopf. Zu sich kommend zog er einmal scharf die Luft ein und fühlte sich kurz an einen frischen Obstkorb erinnert, als er seine Augen nach links neben sich rollte und auf die silbrig glänzende Schnalle eines Gürtels fallen ließ. Für einen Moment irritiert blickt er weiter nach oben, bis er zu dem Gesicht kam.

"Ich wollte nicht gestört werden", brummte er ungeduldig und funkelte sie an.

Ungerührt sah sie ihn über die randlose Brille an. Sie trug wieder diese sacht blau schimmernde, schwarze Bluse und die Nadelstreifenhose, welche durch einen raffinierten Schnitt ihre Rundungen noch besser zur Geltung brachte. Unter ihrem Arm trug sie eine dicke, ockergelbe Akte, welche sie ohne etwas zu erwidern hervorzog und vor ihn mitten auf die Daten legte, welche er gerade noch gelesen hatte.

"Was soll das?!" Er war kurz vor einem Ausbruch und wandte den Kopf auf die Akte, wollte sie nehmen und quer durch das Büro werfen, als sein Blick über die Digitaluhr auf seinem Schreibtisch flog und ihn abrupt stoppen ließ. "Wie spät ist es", fragte er ungläubig.

"Es ist 21 Uhr Mister Kaiba. Hier sind wie bestellt die Entwürfe für die neuen Spielkarten." Ihre Stimme war wie ein Sieb, durch das seine Wut hindurchfiel und nur noch sein Geschäftssinn blieb darin stecken. Eine Hand auf den Schreibtisch gestützt öffnete sie mit drei ihrer blau lackierten Finger die Akte und schlug sie auf.

Seto zog seinen ledernen Bürosessel näher an den Schreibtisch und beugte sich über die übergroßen Darstellungen der Motive. Langsam und vertieft blätterte er durch die Akte und der Schatten in seinem Augenwinkel bewegte sich keinen Millimeter vom Fleck. Es hatte etwas beruhigendes an sich, dieser Duft nach frischem Obst und in seinem Kopf bildete sich immer mehr das Bild eines frisch aufgeschnittenen Apfels, aber es war alles andere als hilfreich. Es störte ihn und das machte ihn nervös. Wirr blickte er auf und starrte sie an. "Danke, das wäre dann alles", sagte er kalt und erwartete schon den ängstlichen Gesichtsausdruck, den viele seiner Angestellten bekamen, wenn er seine Stimme auf Eis legte.

Doch sie sah ihn einfach nur über die randlose Brille an, nickte leicht und verließ dann die unmittelbare Nähe seines Schreibtisches. Ruhig ging sie den langen Weg durch das spartanisch eingerichtete Büro in Richtung der großen Flügeltür, als sie ihre Hand schon um den blank polierten Stahlgriff gelegt hatte und das Rascheln von Papier an ihr Ohr drang. Sie spürte einen kurzen Stich in ihrem Nacken und als sie sich umwandte, erkannte sie, dass er sie anstarrte.

"Wer zum Henker sind sie?"

Der Hall seiner Stimme klang noch eine Weile in dem fast leeren Büro nach und dann herrschte wieder Stille zwischen den Beiden. Ihre Hand löste sich von dem kalten Stahl des Türgriffes und traf sich mit ihrer Rechten zu einer Verbeugung, bei der sie sich tief nach unten neigte. "Okada Nanako, Mister Kaiba. Ich bin neu in der Abteilung für Produktentwicklung." Einen Moment blieb sie verbeugt, als erneut das Rascheln von Papier an ihr Ohr drang. Vorsichtig hob sie den Kopf und sah, dass er sich wieder in die Entwürfe vertieft hatte. Er sah nicht mehr das kurze Schmunzeln auf ihren Lippen, dass sie kurz übermannte, bevor sie sich zur Tür umwenden, diese öffnen und hinausgehen konnte.

Noch einen ganzen Moment, nachdem die Tür zugefallen war, herrschte Totenstille. Nachdenklich hob Seto kurz seinen Kopf hin zu der Tür, durch die sie verschwunden war und seine Lippen formten geistesabwesend noch einmal ihren Namen. "Okada."