Thrill me

"Hold me, thrill me, kiss me, kill me", quietschte es aus dem kleinen Radio, dass sich Nanako auf ihren Schreibtisch gestellt hatte. Die Kiste gehörte eher zur Klasse der Plastikspielzeuge und war ein Fossil im Reich der Cybertechnik von Kaiba Corporation. Jedoch störte sie das herzlich wenig, auch wenn die irritierten Blicke ihrer Mitarbeiter langsam langweilig wurden.

Nach einem Schluck von ihrem Capuccino stellte sie den Becher neben sich auf einen präzise für den Umfang des Bechers freigeschaufelten Platz und griff nach einem der Pinsel. Ihre Hände und besonders ihre Finger waren vom vielen Tuschen und Colorieren schon ganz fleckig, aber sie konnte die Arbeit einfach noch nicht beenden. Würde sie jetzt den Pinsel für länger als einen Schluck Kaffee beiseite legen, dann würde sie ihre Idee verlieren und das Bild bliebe unfertig.

Wieder starrte sie einen Moment auf die Tuschezeichnung. Überall entdeckte sie Fehler und das machte sie wahnsinnig. Wieder fiel ihr Blick zu der Seite, an der ihr Papierkorb stand und sie beugte sich zum wiederholten Male herunter um ein gelbes, zusammen geknülltes Papier aus dem Wirrwarr zu kramen. Wieder las sie die kurze Nachricht und erneut übermannte sie diese übermächtige Wut. Zum duzenden Male heute knüllte sie wütend den Notizzettel zusammen und vergrub ihren Arm tief in den Papierkorb. Nie wieder wollte sie diesen Schwachsinn lesen. Er hatte doch keinerlei Ahnung!

Knurrend lehnte sie sich zurück in ihren Arbeitsstuhl, der laut aufknarrte und dafür ein anderes Geräusch verschluckte. Mit der linken Hand strich sie sich das Haar aus der Stirn und zog am Haargummi in ihrem Nacken, er drückte schon eine ganze Weile. "Komm schon, nur noch ein paar Striche", meinte sie zu sich selbst, doch die Aufmunterung hatte kaum Wirkung. Sie spürte schon, wie die Magie der Skizze zu versanden schien.

Mit dem Zeigefinger schob sie sich die Brille noch einmal hoch und wischte mit dem Pinsel über den Farbklecks auf ihrer Malpalette, als sie einen Schatten auf ihrer Hand bemerkte. Ohne darüber nachzudenken wandet sie den Kopf noch etwas mehr zur Seite und blickte in das Gesicht eines kleinen Jungen, der wie gebannt auf ihre Zeichnung starrte. "Wer zum...", entfuhr es ihr.

Der Kleine wandte den Kopf und sah sie an. Der Raum war dunkel und die einzige Lichtquelle im Raum war ihre Schreibtischlampe, in deren Licht das Gesicht des Kleinen gespenstisch aussah. "Ist das nicht zu dunkel zum arbeiten?"

Vorsichtig strich sie die Spitze des Pinsels am Rand ihrer Farbpalette glatt. "Es ist ausreichend." Langsam zog sie die Fasern des Pinsels über die Zeichnung und betupfte hier und da die Stellen, welche sie für die Farbe vorgesehen hatte.

"Was soll dass denn sein", fragte der kleine Junge, den sie trotz seiner seltsamen Wuschelfrisur als Jungen einzustufen wagte.

Nanako vollendete den letzten Strich, legte den Pinsel beiseite und seufzte: "Musst du nicht schon längst zu Hause sein?" Aus dem Augenwinkel sah sie ihn nicken.

"Schon, aber ich wollte meinen großen Bruder abholen."

"Deinen großen Bruder", wiederholte sie und wischte sich die Hände an einem Lappen ab, was nicht viel half, denn er hatte dieselbe fleckige Farbgebung, wie ihre Hände. Einen Moment betrachtete sie den Lappen, dann ihre Zeichnung und dann den Jungen zu ihrer Rechten. Eigentlich war sie fertig für heute und selbst wenn nicht, sie konnte nicht mit Zuschauern arbeiten. Knarrend erhob sie sich und warf den Lappen in einen Eimer mit noch mehr Lumpen. "Besser ich bringe dich schnell zu ihm, sonst macht er sich noch Sorgen." Der Anblick ihrer Hände war seltsam, als hätte sie den ganzen Tag Ostereier gefärbt und abgehen würde die Farbe auch nicht so einfach.

"Am besten du benutzt was von der Spezialpaste aus dem Spender dort."

Nanako blickte über ihre Hände zu dem Kleinen, dessen Hand in die Richtung zeigte, in der ein kleines Waschbecken an einer Wand hing. Für gewöhnlich arbeiteten dort zwei bis drei Leute und sortierten Farben. Sie hatte nie darauf geachtet, wie die ihre Farbe von den Händen bekamen, sie hatte sich von Anfang an in ihre Arbeit gestürzt. Neugierig ob er Recht hatte, machte sie sich auf den Weg durch die Abteilung und drückte auf den Knopf des Spenders, die Paste, welche auf ihre Hände kleckerte, war wie Scheuermilch nur dickflüssiger. Mürrisch wusch sie sich damit die Hände und welch ein Wunder, die Farbe ging tatsächlich ab, nur ihre Nägel bedurften einer Sonderbehandlung. Na ja egal, dachte sie für sich und trocknete sich die Hände an ihrer Schürze ab, welche sie dann auch gleich von ihren Hüften losband und auf einen Haufen mit zu waschenden Kleidungsstücken warf. "Wie heißt du eigentlich?"

"Mokuba", antwortete der Kleine, der noch immer an ihrem Schreibtisch stand. "Ist das da der blauäugige weiße Drache?"

Wieder an ihrem Tisch folgte sie seinem Fingerzeig auf die Gipsfigur auf dem Regal. "Ja, ich habe gefragt, ob ich sie für ein paar Zeichnungen haben kann."

Mokuba nickte und schulterte seinen Schulrucksack. "Können wir los...?"

"Nanako", vervollständigte sie seine Frage und nickte: "Ja, gleich", antwortete sie, schaltete das Radio aus und leerte ihren Becher. "So, jetzt", schmunzelte sie und nahm ihre Tasche, sowie ihre Jacke.

"Wieso bist du eigentlich in die Abteilung gekommen", fragte sie, als die Beiden den Fahrstuhl bestiegen und während sie nach einem Taschentuch kramte, drückte Mokuba den Knopf für die oberste Etage.

"Ich habe noch Licht gesehen und wollte einfach mal schauen, wer noch da ist."

"Zum Glück nicht Mister Tanaka", brummelte sie und wischte sich mit dem Taschentuch die Stirn ab. Dann packte sie das Tuch in ihre Jackentasche und betrachtete Mokuba, der an die Fahrstuhlwand gelehnt stand und an einer Kette herum fingerte. "Hübscher Anhänger."

Er hob den Kopf und nickte. "Er erinnert mich an meinen Bruder."

"Du musst ihn sehr gern haben", vermutete Nanako und blickte auf die Zahlenanzeige, auf dem ein kleines Licht nacheinander die Etagenzahlen erleuchtete.

"Ja...", flüsterte Mokuba und sah auf den Anhänger.

Das Design erinnert an die Rückseite einer Spielkarte, stellte sie für sich fest, als sie noch einmal einen kurzen Blick riskierte. Den Kleinen überkam ein Gähnen und die Beiden mussten lachen, als der Fahrstuhl endlich in der obersten Etage angekommen war. "Na dann wollen wir mal", verlautete sie und trat nach ihm aus dem Fahrstuhl, dessen Licht ihre Schatten lang in die Dunkelheit warf. Kurz darauf flackerten die ersten Wandbeleuchtungen auf und gerade noch rechtzeitig, denn der Fahrstuhl schloss schleifend wieder seine Türen.

"Da vorne ist sein Büro", meinte Mokuba und rannte voraus.

Hier oben war sie zwar schon einmal gewesen, aber sie hatte noch keine rechte Zeit gehabt sich umzusehen. Sein Bruder musste ein ziemlich hohes Tier sein, wenn sie es sich recht überlegte. Langsam und sich umschauend folgte sie ihm, bis sie die geöffnete Tür des Büros erreichte. Ihr kam alles so bekannt vor, doch es dämmerte ihr noch nicht einmal, als sie in der Tür stand.

Mokuba stand hinter einem Schreibtisch und rüttelte an irgendetwas herum. "Hey, Seto. Wach auf!"

Ein murrendes Brummeln war die einzige Antwort, scheinbar war da jemand eingeschlafen, dachte sie und lehnte sich schmunzelnd in die Tür. Wie zufällig blickte sie auf das Namensschild, das auf dem anderen Türflügel angenagelt war und fuhr zusammen. Ruckartig fuhr ihr Kopf zurück in das Büro hinein und erhaschte gerade noch Setos Gesicht im fahlen Licht der Schreibtischlampe. Wenn das Mokubas Bruder war, dann war Mokuba ein Kaiba.

Seto wischte sich mit einer Hand über das Gesicht und warf einen Blick auf die Uhr. Er war eingeschlafen, musste er feststellen und das nur, weil er seit einiger Zeit diese seltsamen Alpträume hatte deren Höhepunkt ihn heute morgen jäh aus seinen Träumen gerissen hatte. Noch immer etwas träge erhob er sich von seinem Sessel und klappte den Laptop zu, als ihm der Schatten in der Tür auffiel. Das Licht strahlte auf ihren Rücken und so konnte er nur ihre schwarze Silhouette sehen, doch es war eindeutig eine Frau.

Für einen Moment kam sie sich seltsam vor, wie er sie anstarrte und dann wurde es ihr doch zu dumm. Nanako wandte sich um und machte sich auf den Weg zurück zum Fahrstuhl. Je näher sie dem Fahrstuhl kam, umso deutlicher summte sie vor sich hin. "Hold me, thrill me, kiss me, kill me..."

"Wer war das", fragte Seto, als er seinen Mantel überwarf und seinen Laptop in den Koffer packte.

Mokuba saß auf Setos Schreibtischstuhl und baumelte mit den Beinen. "Ich habe sie ganz allein in der Abteilung für Produktentwicklung gefunden und mich etwas mit ihr unterhalten."

Während er die Schnallen des Koffers zuschnappen ließ, betrachtete Seto seinen kleinen Bruder und nickte leicht.

"Ihr Name ist Nanako, hat sie gesagt", fügte er hinzu und erntete einen längeren Blick von Seto, dessen Ausdruck fast schon erstaunt wirkte, wenn man ihn lange genug betrachten konnte.

Seinen Koffer vom Tisch hebend, sah er noch einmal zu Mokuba herunter, bevor er sich mit ihm auf dem Weg nach Hause machte. Als er die Tür zu seinem Büro zuschloss, glaubte er sogar noch eine Spur ihres Parfums wahrnehmen zu können, aber es wäre egal gewesen, dieses Bild von einem frisch aufgeschnittenem Apfel verfolgte ihn schon bis in seine Träume hinein und dass, obwohl sie erst seit wenigen Tagen für ihn existierte. "Wie seltsam", murmelte er.

"Hm?" Mokuba sah zu ihm hoch, als beide im Fahrstuhl standen.

"Ach nichts", versicherte Seto und starrte sein Spiegelbild in der Wand des Fahrstuhles an. Es ist nichts, dachte er noch mal für sich, nur um sich zu vergewissern, dass wirklich nichts war.