Freitage wie dieser

Wie hoch ist die Gewinnchance im Lotto? Eins zu wer weiß das schon? Wie hoch ist dann die Chance Freitag Nachts gegen Elf Uhr abends die Tür aufzuhalten, nachdem ein völlig durchnässter und verängstigter Taxifahrer daran geklopft hatte und darum bat einmal Telefonieren zu dürfen, nur um dann in das finsterste Gesicht des Jahrtausends hinauf zu schauen und festzustellen, dass es der eigene Chef ist?

xXx

Mit zusammen gebissenen Zähnen hockte Nanako im Halbdunkel in ihrer winzigen Küche vor einem Schrank mit quietschender Tür und suchte Kaffee. Die einzige Lichtquelle war der Fernseher im Wohn- und Schlafzimmer. Darauf lief gerade eine Wiederholung, die sich 'Dokumentation über das Phänomen Kaiba' nannte und es war nicht gerade sehr beruhigend zu wissen, dass ein solcher Kaiba sich gerade die Geschichte seines eigenen Lebens ansah.

"Sind die Tassen OK?"

Nanako hob den Kopf aus dem verstaubten Schrank hervor und über ihre Schulter hin zu einem Schatten mit Wuschelhaar. Er hatte sich über eine Umzugskiste gebeugt und hielt nun zwei graue Tassen in die Höhe. Sie wusste zwar, dass sie keine grauen Tassen hatte, aber in dem Schummerlicht sah alles grau aus. "Hm, die sind in Ordnung, denke ich."

"Super", antwortete Mokuba und brachte sie zur Spüle.

Ohne Kaffee erhob sie sich wieder und warf einen Blick zu dem einzigen Kaffeeähnlichen Getränk, dass sie hatte. Ihren geliebten Capuccino. Wie grausam die Welt doch war, kam es ihr durch den Sinn. Nicht nur schlimm genug, dass sie es nicht mochte, ihren Capuccino zu teilen. Auf der anderen Seite wusste sie nicht, ob er sie feuern konnte, weil der Kaffee bei seinem unangemeldeten Hausbesuch nicht geschmeckt hatte. Vorsichtig warf sie wieder einen Blick durch den Eingang zur Küchennische ins Wohnzimmer hinein.

Dort saß er mit einem Handtuch um die Schultern auf ihrem Bett und starrte in den Fernseher hinein. Sein Mantel und die Jacke von Mokuba hingen zum Trocknen in der Dusche und so hatte er etwas von seiner bedrohlichen Größe verloren. Aber der Blick, mit dem er den Fernseher malträtierte, hätte, wenn Blicke töten könnten, wohl zum sofortigen Implodieren des schwarzen Flimmerkastens geführt.

Unruhig ging sie die wenigen Schritte zur Spüle und lies Wasser in die Tassen laufen. Mokuba stand neben ihr und beobachtete den Wasserkocher. Nachdem sie die Tassen von möglichem Staub befreit hatte und mit einem Teelöffel das Capuccinopulver hinein füllte, fragte sie sich, womit sie das nur verdient hatte.

Klack, das Wasser hatte gekocht.

Sorgfältig goss sie das heiße Wasser in die Tassen, stellte sie auf ein Tablett und folgte Mokuba in das Wohn- und Schlafzimmer hinein. Vorsichtig platzierte sie alles auf dem niedrigen Tisch vor dem Fernseher, nahm eine der Tassen und reichte sie hinüber zu ihrem Bett, auf dem Seto saß. Das blaue Licht des Fernsehers erhellte sein Gesicht kaum und doch war sein Blick deutlich auszumachen. Eiskalt sah er sie an.

Womit habe ich diesen Tag eigentlich verdient, schoss es ihr etwas aufgewühlter durch den Kopf und die Erinnerung an diesen Abend, der so friedlich begonnen hatte, kam ihr wieder in den Sinn.

xXx

Der Tag begann, wie ein ganz normaler Freitag im Dezember. Die Sonne hatte geschienen und den nächtlich gefallenen Schnee in eine glitzernde Eislandschaft verwandelt. So schwer es ihr auch im Winter fiel aufzustehen, so schön war die Entschädigung für ihre kalten Füße. Aber als Nanako die Tür zu ihrer kleinen Karnickelbucht zuschloss, ahnte sie, dass sie heute Abend wieder in eine eiskalte Wohnung kommen würde, denn nicht nur war ihr Zimmer nur unzureichend gedämmt, auch brachte der Winter die Heizungsrohre immer wieder zum vereisen. Ein Wunder, dass sie noch nicht an Lungenentzündung gestorben war, dachte sie und musste durch die grelle Morgensonne zweimal heftig Niesen. "Nur die Sonne, Nana... nur die Sonne", murmelte sie sich selbst zu und putzte sich die Nase auf dem Weg zur Bushaltestelle.

Der Weg zur Kaiba Corporation war lang und mit einer eineinhalbstündigen Zugfahrt nur der halbe Spaß. Vorher musste sie eben noch eine halbe Stunde mit dem Bus zum Bahnhof fahren und das war durchaus eine witzige Sache, wenn man es ein oder zweimal machte. Aber Nanako nahm diese Strecke nun schon seit fast drei Wochen und nichts daran war mehr wirklich witzig. Zum Glück stieg sie am Startbahnhof des Zuges ein und fand im noch leeren Zug genug Platz zum Sitzen und Lesen. Und ebenfalls Glück war es, dass sie erst an einer der letzten Stationen aussteigen musste, denn das Gedränge in Tokyos Zügen zur Rushhour war einfach nur atemberaubend, im negativen Sinne.

Unheimlicherweise war heute sogar die Abteilung ein Ort der Ruhe. Mister Tanaka hatte sich eine Erkältung zugezogen und dadurch seine Stimme verloren. So blieb ihm nichts anderes übrig als mit Mundschutz durch die Gegend zu laufen, wenn er nicht wollte, dass Kaiba ihn feuert, weil er alle Mitarbeiter ansteckte. Und zum Anderen blieb ihm nur das Gestikulieren mit den Händen, was eher in ein witziges Pantomimenspiel verfiel, wenn er sich über irgendetwas mal wieder aufregte. Nanako für ihren Teil hatte es aufgegeben Scharade mit ihm zu spielen und ließ sich überhaupt nicht von seinen stummen Kritiken aus der Ruhe bringen. Was nicht heißt, dass er Grund hatte, sie zu kritisieren.

Das lag auch daran, dass es bereits die zweite Woche war, in der Seto Kaiba nicht mittwochs um Neun Uhr morgens herein geschneit kam, um seine wöchentliche Visite durchzuführen. Nanako hatte von ein paar Kolleginnen gehört, dass Kaiba für etwa zwei Wochen fort wäre, wohl wieder ein neuer Wettkampf und so etwas ließ er sich nie entgehen. So herrschte in der Abteilung zwar reges Treiben, aber die Stimmung war um einiges entspannter als sonst. Sie entdeckte sogar Mister Tanaka, wie er mit einer Praktikantin flirtete, obwohl sie gerade dabei war einen Kopierer in die ewigen Jagdgründe zu schicken.

Kurzum die Woche schien ruhig zu Ende zu gehen.

Nicht einmal das plötzlich aufkommende Unwetter brachte sie aus der Ruhe. So stand sie noch eine ganze Weile in der Haupthalle am Bahnhof und schaute den Krabbeltisch nach einem interessanten Buch für heute Abend durch. Sie wollte irgendetwas Entspannendes und wenn es ein endlos schnulziger Roman gewesen wäre, es wäre ihr egal gewesen.

Ein Blitz erhellte den Himmel.

Endlich hatte Nanako sich für einen Manga entschieden, der so dick wie ein Telefonbuch war und ging mit einer Plastiktüte zusätzlich in Richtung der Bushaltestelle. Ungeduldig wankte sie die halbe Stunde im Bus von einer Kurve in die andere und blickte immer wieder in den Himmel, wenn ein neuer Blitz die Umgebung erhellte und kurz darauf lauter Donner über sie hereinbrach. Nicht einmal die fünf Minuten Weg zu ihrer Wohnung konnten ihr die Wochenendlaune verderben und das, obwohl der Wind so stark war, dass der Gebrauch eines Schirms vergebene Liebesmühe war und sie triefend vom Regenwasser die Tür zu ihren vier Wänden aufschloss.

Rums, die Tür fiel ins Schloss.

Ungeduldig schälte sie sich aus den nassen Klamotten und hängte sie ordentlich auf einem Bügel ins Bad. Auf dem Rückweg in das kleine Wohnzimmer, welches gleichzeitig als Schlafzimmer herhalten musste, schaltete sie den Wasserkocher ein und stopfte einen Beutel Blutorangentee in einen großen Becher. Überall standen noch Umzugskartons rum und das, obwohl sie schon knapp drei Wochen hier wohnte. Nachdem das Wasser gekocht hatte und sie den Becher damit gefüllt hatte, nahm sie eine heiße Dusche. Das war gar nicht so leicht. Die Rohre waren alt und es dauerte ewig bis überhaupt Wasser herauskam, dass mehr als fünf Grad hatte. Also nahm sie eher eine lauwarme Dusche, aber es sollte genügen. Sie wollte gerade den Fernseher einschalten, als nun auch die letzte Lampe ihren Geist aufgab und sie im Dunkeln im Wohnzimmer stand.

"Na ganz toll", murmelte sie und setzte sich mit einem Handtuch um ihre Schultern auf das Bett. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es kurz nach Neun war. Mit der Fernbedienung schaltete sie durch die vorhandenen Kanäle und erinnerte sich an die Ankündigung von gestern Nacht. Irgendwo sollte eine Dokumentation über die Kaiba Corporation laufen. Aber wo? Wieder einmal musste sie sich eingestehen, dass eine Fernsehzeitschrift vielleicht doch keine schlechte Idee gewesen wäre, doch nun war sie einmal zu Hause und nichts auf der Welt würde sie jetzt wieder in das Unwetter da draußen hinaus scheuchen.

"Moment mal", entfuhr es ihr. Sie erinnerte sich, dass sie sich einen Notizzettel geschrieben hatte, mit den genauen Sendedaten. Wo hatte sie den nur hin? Neugierig schaute sie sich um, als etwas in der anderen Ecke des Zimmers aufraschelt und ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Langsam legte sie die Fernbedienung beiseite und sah in die Ecke hinüber.

Plötzlich regte sich ein Schatten. Er raffte sich auf, plusterte sich auf und sprang mit einem riesigen Satz quer durch das Zimmer und schließlich auf ihr Bett. Mit einem verschlafenen Miauen schmiegte er sich an ihren Arm und ließ sich von ihr hochnehmen.

"Guten Abend Kuro-chan. Gut geschlafen?" Nanako setzte die schwarze Katze mit den gelben Augen, welche sogar im fahlen Fernseherlicht zu glühen schienen, auf ihren Schoß und bemerkte, dass etwas in ihrem Fell klebte. "Du Tollpatsch", lachte sie und zog vorsichtig den Notizzettel hervor. Und da stand, was sie wissen wollte. Sofort schaltete sie auf das notierte Programm um, setzte Kuro noch einmal neben sich ab und holte ihren Tee. Als sie zurück kam, hatte es sich die schwarze Samtpfote mit dem dicken Winterfell auf ihrem Kissen bequem gemacht und so sahen sie sich zusammen die Dokumentation an.

Bis dahin schien es ein ganz gewöhnlicher Freitag Abend zu sein.

xXx

Der Himmel war wie ein wildes Tier, dass aufgerissen worden war und nun wild um sich schlug. Ohrenbetäubend waren seine Schreie und sein Blut verteilte sich über der Welt, bis es in Strömen dahin rann.

Eine wahre Untergangsstimmung, dachte er für sich und bemerkte die Hand seines Bruders, wie sie sich in den billigen Bezug der Taxirückbank krallte. Sein Blick flog durch die Kopfstützen nach vorne und sah nichts. Die Frontscheibe war voll von Wasser und es wirkte eher, als würden sie durch einen Teich fahren und nicht durch eine Stadt.

Heute war echt nicht sein Tag.

"Sind wir bald da?" Mokubas Stimme ebbte leise durch das Taxi und wurde fast von dem Geräusch des Wassers verschluckt, welches von den Scheibenwischern mühsam hin und her geworfen wurde.

Der Taxifahrer antwortete nicht. Scheinbar steckte ihm immer noch die äußerst überzeugende Rede Setos im Kopf, mit der er den armen Mann in diese Nacht hinaus gejagt hatte. Er trug weiße Handschuhe, doch seine Finger darunter mussten immer noch zittern wie Espenlaub. Vor dem Beifahrersitz hing die Zeituhr und tickte fröhlich vor sich hin. Sie war wohl die Einzige, der das heftige Weltuntergangswetter völlig Schnuppe war.

Tick, tack, ein Vermögen.

Plötzlich stoppte der Wagen abrupt und schleuderte Seto unsanft gegen die Kopfstütze des Taxifahrers. Zum Glück hatte er flinke Hände und konnte sein Gesicht vor ernsthaften Schäden bewahren. Glück, dass der Taxifahrer gebrauchen könnte, wenn er nicht Setos Laune in die Hände fallen wollte. "Sie Sonntags...", fuhr er ihn an und wurde jäh unterbrochen.

Von draußen schien grelles Licht durch die Seitenfenster ins Innere des Wagens und als der Taxifahrer das Fenster herunterschraubte, blickte begleitet vom Lärm des fallenden Regens, das völlig durchnässte Gesicht eines Polizisten hinein. "Entschuldigen sie, die Straße ist gesperrt. Überflutung", schrie er ins Wageninnere, weil er sich selbst nicht zu hören schien.

Die nervöse Zuckung im Nacken des Taxifahrers verriet Mokuba schon, dass er Angst hatte sich nach Seto umzudrehen und zu fragen was nun werden sollte. Sie hatten schon diesen Weg durch den abgelegenen Teil der Stadt genommen, weil alle anderen Straßen wegen des Wetters verstopft waren.

"Und nun?"

Seto wandte leicht den Kopf und sah aus dem Augenwinkel zu Mokuba herüber. Es war spät geworden und in dieser verlassenen Gegend ein Hotel oder ähnliches zu finden, war wohl vergebene Liebesmühe.

Das Gesicht des Polizisten war aus dem Seitenfenster verschwunden. Scheinbar gab es ein paar verunglückte Wagen auf der überfluteten Straße vor ihnen, die nun versorgt werden mussten.

"Dort drüben", wisperte der Taxifahrer und blickte aus dem heruntergelassenen Seitenfenster in den Regen hinaus. Hinter einem der Fenster dort flackerte bläuliches Licht, Licht welches typischerweise nur ein Fernseher auszustrahlen pflegte. "Soll ich..."

"Jetzt gehen sie schon", blaffte Seto ihn an und so schnell wie der Mann aus dem Auto gesprungen war, schien es, als wäre ein hungriges Tier hinter ihm her.

Mokuba sah aus der offenen Tür hinaus zu dem Licht.

xXx

"Und weiter mit unserer Dokumentation, nach der Werbung", trällerte der Fernseher vor sich hin und gab Nanako Gelegenheit ins Bad zu gehen. Als sie fertig war, betrachtete sie sich im Spiegel und kämmte ihr mittlerweile getrocknetes Haar durch. Das Licht am Spiegelschrank funktionierte zum Glück noch und so konnte sie ihr tizianrotes Haar genau betrachten. Es war innerhalb weniger Jahre bis zu ihrem Po hinabgewachsen und ihr Friseur fragte sie schon, ob es überhaupt noch einmal aufhören würde zu wachsen. Er liebte ihr Haar, wie leicht es war und wie problemlos es Locken oder ähnliche Verunstaltungen annahm. In ihren Spitzen schimmerte noch etwas von den blonden Strähnchen durch, die sie argwöhnisch betrachtete. "Fast wie graues Haar, hm?" Sie schloss gerade die Badezimmertür hinter sich, als es an der Tür hämmerte. Es klang, als würde ein Ertrinkender an das Innere eines sinkendes Schiffes hämmern.

Mit gesenkten Augenbrauen öffnete sie die Tür nach draußen, als genau in diesem Augenblick ein Blitz über ihnen explodierte und sofort einen ohrenbetäubenden Donner folgen ließ. Geblendet von der Helligkeit blinzelte sie die zitternde Gestalt vor ihrer Tür an. "Ja, bitte?"

"Kann... kann ich bitte einmal ihr Telefon benutzen?"

Nanako nickte und ließ ihn eintreten. Der Mann war nicht viel größer als sie und trug weiße Handschuhe. So etwas kannte sie nur von den Fahrern in den Bussen und den Schaffnern. Dieser Mann musste also ein Taxifahrer oder so etwas ähnliches sein. Bevor sie die Tür anlehnte, warf sie einen Blick hinaus und tatsächlich. Vor dem baufälligen Mietkomplex stand ein leuchtend gelbes Taxi, wie ein Warnsignal inmitten des Weltunterganges.

Der Mann hatte sich das neben der Tür stehende Telefon gepackt und nach einigem Warten auch schon wie wild losgebrabbelt. Doch je länger er telefonierte umso nervöser wurde er. Seine Augen wurden größer und größer, bis sie so groß wie Teller waren. Immer wieder blickte er verängstigt in Richtung Tür, so dass Nanako den Eindruck bekam, dass in seinem Taxi der Teufel persönlich sitzen musste. Erst als die Worte Kaiba und Notfall fielen, musste sie kurz schmunzeln.

Was macht so ein reicher Fatzke denn in einem gewöhnlichen Taxi, dachte sie für sich und stellte sich die verrücktesten Sachen vor. Aber sie ahnte, wenn dieser Taxifahrer nicht eine möglichst schnelle und vor allem trockene Lösung fand, würde Mister Kaiba ihn auffressen.

Plötzlich hörte sie, wie der Mann zu erklären versuchte wo er war und als dieser dann noch nervös anfing zu nicken und wie wild zu bestätigen, ahnte sie nichts Gutes.

Der Mann legte den Hörer etwas ruhiger auf die Gabel und sah dann mit einem Blick zu Nanako, der ihr das Herz stocken ließ. "Ich...", begann er zu stammeln. "Es gab einen Unfall, nur einige Straßen von hier. Die Krankenwagen kommen nicht durch und die Zentrale meinte, ich sei der Einzige in der Nähe..."

Nanako hörte nicht mehr zu. Sie stand noch immer in der Tür und blickte in den Regen hinaus. Diese Menschen brauchten Hilfe. "Ich verstehe..."

"Die Zentrale bemüht sich um Ersatz. Ich denke es geht schnell", brabbelte er in einer Tonlage, die sie zu bemitleiden schien.

Knarrend schob sie die Wohnungstür auf und der Mann huschte hinaus zu seinem Taxi. Wie betäubt lehnte sie im Türrahmen und sah zu, wie der Taxifahrer durch die geöffnete Hintertür in den Wagen hineinbrabbelte. Der Regen prasselte hart auf seinen Rücken und er war sicher schon nass bis auf die Knochen und doch schien es Schlimmeres für ihn zu geben. Zum Beispiel allein mit Mister Kaiba in einem Raum zu sein. Niemand, der ihn schreien hört und niemand, der ihm helfen würde.

Da, eine Regung. Der Mann wich von seiner Hintertür zurück und sofort schraubte sich das Haupt Setos in den Himmel, bis er aufrecht stand. Hinter ihm krabbelte Mokuba vom Rücksitz und die Beiden sahen eine Weile zu ihr hinauf. Der Taxifahrer spannte zwei Regenschirme auf und gab einen davon Mokuba. Mit dem anderen versuchte er Seto zu schützen. Der jedoch zog es vor mit riesigen Schritten auf den Mietkomplex zu zugehen, so dass der kleine Fahrer Probleme hatte ihm zu folgen.

Schnell schlüpfte sie in ein paar Pantoffeln und trat aus der Tür auf den überdachten Gang. Schwere Schritte brachten die sowieso schon klapprigen Eisenstufen zum Vibrieren und so spürte sie ihn eher, als sie ihn kommen sah. Zuerst erblickte sie seinen Kopf und das völlig durchnässte Haar, wie er die Treppen hochstieg und näher kam. Im Licht der Blitze funkelten seine Augen jedes Mal ein bisschen furchterregender auf, je näher er ihr kam.

Tropf, tropf, zu ihren Füßen.

Gäbe es einen Preis für den tödlichsten Blick, so hätte Seto ihn jetzt in diesem Augenblick gewonnen und für ewig behalten. Schlimm genug, dass er das Turnier wieder einmal verloren hatte und einen dämlichen zweiten Platz mit nach Hause nehmen musste, hatte sich die Rückreise als einziges Desaster herausgestellt. Und jetzt? Fest presste er die Zähne aufeinander und sah sie an. Hier, am Ende der Welt, zum Zeitpunkt des Weltunterganges traf er sie und sie sah aus, wie ein Engel.

"Guten Abend Mister Kaiba, einen Kaffee?"

Wäre seine Wut ein mächtiger Adler gewesen, so wäre er mitten im Flug gegen eine Glasscheibe geknallt und langsam und quietschend daran herunter geglitten.

"Oh ja, sehr gerne", erklang es hinter Seto. Mokuba klappte gerade seinen Schirm zusammen und grinste sie an. "Ich hoffe wir stören nicht?"

Seto erhaschte einen kurzen Blick auf ihr Lächeln, als sie auch schon vor den Beiden in der Tür verschwunden war. Das Quietschen von Reifen verriet den beiden Jungs, dass der Taxifahrer Gummi gab und nur weg wollte. Selbst durch den dröhnenden Regen hindurch hörte Seto seinen Bruder lachen und er lachte auch noch, als er schon vor ihm in die Wohnung eingetreten war.

Ein kurzes Knurren rollte durch Setos Brustkorb, als er sich endlich dazu aufraffte in die Wohnung einzutreten, wo er eine Karnickelbucht vorfand. Wie der Regen von seinem Mantel, so fiel seine Kinnlade herunter. Es war beinahe dunkel hier drinnen und doch konnte er erkennen, dass diese Bude aus wirklich nicht mehr als vier Wänden zu bestehen schien. Direkt hinter dem Eingang befand sich das Schlafzimmer, welches wohl auch als Wohnzimmer genutzt zu werden schien. Zumindest verriet ihm das der flackernde Fernseher neben dem Bett.

Beiläufig wie immer, schlüpfte er aus seinen Schuhen und betrat das vermeintliche Wohnzimmer. Von links klangen die Stimmen Mokubas und des Mädchens her und von dem was er verstand, waren sie im Badezimmer und suchten Handtücher. Als er einen Blick nach rechts warf, erblickte er einen kleinen Herd, scheinbar die Küche. "Ist das alles?" Er wandte den Kopf dem Duft von Apfel entgegen.

Ihr Blick war geradeaus in die Küche gerichtet und in ihrer Hand hielt sie ein Handtuch. Für einen Moment schien sie zu überlegen, zog es dann aber vor, ihm einfach das Handtuch in die Hand zu drücken. "Ihren Mantel bitte", murmelte sie und hielt ihre Hände auf.

Seto sah, wie Mokuba ohne seine Jacke aus dem Badezimmer kam und an ihnen vorbei in die Küche ging. "Ich suche schon mal ein paar Tassen", verlautete er, immer noch grinsend.

Langsam schälte er sich aus seinem Mantel, dessen Schnitt seine Schultern noch besser zur Geltung brachte und als er ihn ausgezogen hatte, sah er etwas mehr wie ein normaler Mann um die zwanzig aus. Abwartend sah er zu, wie sie etwas von seinem unantastbaren Image ins Badezimmer brachte und dort zum Trocknen aufzuhängen schien, als ihm etwas auf den Fuß trat. Mit einschüchterndem Blick starrte er nach unten auf seinen rechten Fuß und blickte in die starren, gelben Augen einer Katze. Mürrisch hob er den Fuß und schob das Fieh weg, um sich wenige Schritte später auf das gemachte Bett zu setzen. Der Klang seines Namens ließ ihn aufschauen und er erblickte sich selbst im Fernseher. Diese Szene kannte er, die waren doch erst vor ein paar Wochen bei ihm gewesen.

Nanako schlurfte aus dem Badezimmer heraus und fand Kuro vor ihrem Bett wieder, wie sie diesen Mann namens Seto Kaiba anstarrte. Sie konnte ihr nur zustimmen, irgendwo hatte er etwas Faszinierendes an sich. Die Dunkelheit verschleierte ihr Schmunzeln, mit dem sie in die Küche ging um Mokuba dabei zu helfen Kaffee zu machen.

xXx

"Was ist das", brummelte er und warf einen undefinierbaren Blick auf die Tasse.

"Capuccino."

"Dieses süße Zeug?"

"Wenn sie nicht wollen", antwortete sie kalt und wollte schon ihre Hand mit der Tasse zurück ziehen, als er sie mit seinen Eigenen umschloss. Langsam löste sie ihre Hand von der Tasse und beobachtete ihn, wie er seine Nase darüber hielt. Es ging ihm wohl ähnlich wie ihr. Hauptsache etwas Heißes zu trinken. Auf ihre Hand starrend kniete sie an dem niedrigen Tisch vor ihrem Bett, während Seto zögerlich von dem heißen Getränk probierte. Mokuba hatte sich derweil neben sie an den Tisch gesetzt und schaute neugierig in den Fernseher. Das grollende Schnurren von Kuro ließ sie aufblicken. Die freche Katze hatte sich doch tatsächlich an ihren Chef rangemacht und war gerade dabei es sich auf seinem Schoß bequem zu machen. Auch Mokuba neben ihr warf kurz einen amüsierten Blick zu der Samtpfote und seinem Bruder.

Ring, ring, das Klingeln des Telefons.

Nanako erhob sich und ging zu dem krankhaft klingelndem Telefon. Als sie abhob erklang die routinierte Stimme einer Frau, die ihr versicherte, dass es ihr schrecklich Leid täte, aber die Straßen seien nach Polizeianordnung bis etwa morgen früh gesperrt. Erstarrt lauschte sie dem Rauschen in der Leitung zwischen den Sätzen der Frau. "Wir werden jemanden schicken, wenn die Straßen wieder frei sind", fügte die Frau hinzu und verabschiedete sich dann nach unzähligen Entschuldigungen von ihr.

"Wer war das", wollte Mokuba wissen, welcher sich die Katze geschnappt hatte und diese nun kraulend neben Seto auf dem Bett saß.

"Die Taxizentrale", antwortete Nanako müde und erklärte ihnen so gut es ging, was sie verstanden hatte.