Kaiba Land I
Sorgfältig zog sie mit dem schwarzen Kayal eine dicke Umrandung um ihre haselnussbraunen Augen. Das grelle Badezimmerlicht vertuschte jedoch, dass in diesem Braun noch etwas anderes lag. Ein unauffälliger und doch existierender Rotstich, dessen Leuchten nur bei genauem Hinsehen auszumachen war. Aber er existierte irgendwo in ihnen, wie das Glimmen eines Waldbrands, der nur darauf wartete entfacht zu werden.
Wie hypnotisiert starrte sie einen Moment in ihr eigenes Gesicht, dass durch helles Puder und Kayal zu einer puppenhaften Maske geworden war. Blinzelnd senkte sie den Blick, schob die Plastikkappe auf den Kayal und angelt nach dem schwarzen Lippenstift. Als sie erneut in ihr eigenes, verändertes Gesicht sah, war sie sich für einen Moment fremd, doch sie liebte dieses Gefühl und schenkte sich selbst ein kurzes Lächeln. Dann fuhr sie fort mit ihrem Make-up und plante in Gedanken den vor ihr liegenden Tag durch.
Es war Sonntag Vormittag und sie hatte sich schon die ganze Woche darauf gefreut. Dazu hatte sie extra an einem neuen Kleid gearbeitet, dass ihr auch recht gut gelungen schien und nun ungeduldig neben ihr an einem Bügel hing. Nanako hatte zwar viele Leidenschaften, aber keines hatte vergleichbare Rituale in ihrer Wochenplanung. Seit ihrer Jugend liebte sie es Kleider im Lolita Stil zu tragen und mit dem Alter kam nur noch hinzu, dass sie schwarz dem bunten vorzog. Und heute wie jeden Sonntag traf sie sich mit der Gothic-Lolita Gruppe ihrer alten Schule. Die Zeiten der Mittelstufe waren zwar vorbei, aber ihre Dauermitgliedschaft hatte ihr zu einer Menge Respekt innerhalb der Gruppe verholfen und sie war mittlerweile so etwas wie die 'große Schwester' für alle. Daher wurde sie von allen sehr bald nur noch 'Nee-san' gerufen und obwohl ihre Gruppe kein verbindlicher Verein war, hatten sie Nanako zur Anführerin gewählt und überließen ihr damit diverse Rechte, von denen sie aber selten Gebrauch machte. Unter dem Strich verfolgte sie eher die Strategie einer Demokratie, in der alle abstimmen konnten, wer zum Beispiel neu in die Gruppe aufgenommen wurde oder wo sie sich beim nächsten Mal treffen würden. Und dieses Mal hatten sie sich einen ganz besonderen Platz ausgesucht.
Ausgelassen sang sie vor sich hin, als sie in ihr Outfit kletterte und ihr Haar frisierte. Das I-Tüpfelchen ihres Outfits war die kleine Anstecknadel mit dem Drachen, den sie zur Ernennung zur Anführerin von der Gruppe bekommen hatte. Sie erinnerte sie immer daran, dass sie Freunde hatte und eine Aufgabe, sowie eine besondere Vorliebe für Drachen.
Zufrieden sah sie sich im Spiegel an und posierte in ein paar süßen Posen, bevor sie ihren Rucksack in Form eines Sarges überwarf und auf hohen, schwarzen Schnürstiefeln ihre Wohnung verließ. Kurz bevor sie die Tür schloss, sah sie noch einmal zu ihrem Bett hin. Wie lange war diese Nacht schon her? Es schien ihr wie ein Traum und doch hing sein Duft noch immer in diesen vier Wänden. Wie unwirklich kam ihr der Gedanke vor, dass er da gewesen war und doch standen noch immer drei Tassen im Abwasch, in denen ein Rest von Capuccino hing. Sie hatte es einfach noch nicht übers Herz gebracht sie abzuspülen.
Mit einem dumpfen Schmerz in der Brust schloss sie die Tür ab, steckte sich die Ohrstöpsel ihres Discman in die Ohren und machte sich auf den Weg zum Bahnhof.
xXx
Obwohl eine dünne Schicht Schnee gefallen war, waren viele Menschen unterwegs. Sie Sonne strahlte über die gefrorene Landschaft und ein leichter Wind mit eisigem Atem wehte. Nanako stand an eine Mauer gelehnt mit den zwei ältesten Mitgliedern der Gruppe, sie verhielten sich immer wie ihre Bodyguards, nicht nur weil sie Männer waren. Keiner von ihnen benutzte seinen wirklichen Namen und sie hatte es aufgegeben sich die stetig wechselnden Titel zu merken. Das übernahmen ihre Aufpasser nur liebend gern für sie, weil sie dadurch eine Art von Wichtigkeit zu empfinden schienen, wenn sie als Boten zwischen den Anderen und Nanako hin und her huschten. Die drei hielten sich auch eher im Hintergrund und beobachteten aus einiger Entfernung, als sich großartig einzumischen. Manchmal fühlte sie sich von den Beiden verfolgt wie von Schatten und ihre ständige Qualmerei ging ihr schon irgendwo auf die Nerven, aber sie war nicht ihre Mutter und das war auch gut so.
"Hallo Nee-san", zwitscherte ein kleines Mädchen, dass wie immer unbeeindruckt an Nanakos Aufpassern vorbei huschte und sie freundlich grüßte. Sie trug heute ein äußerst süßes Outfit und hatte blondierte Locken, wenn sie auch eher orange wirkten. Alle nannten sie nur 'Baby' und sie war mit Abstand die süßeste Lolita der Gruppe. Wie jeden Sonntag überreichte sie Nanako eine schneeweiße Lilie und blinzelte dabei mit ihren künstlichen Wimpern, dass es jedem Mann das Herz zerrissen hätte, so süß war es.
Nanako verzog ihren Mund kurz zu einem Lächeln und nickte ihr dankend zu. Manchmal fragte sie sich, woher sie nur diese Blumen herbekam und dann erinnerte sie sich daran, dass 'Baby' mal erzählt hatte, dass ihre Eltern ein großes Gewächshaus hatten in dem auch im Winter die exotischsten Pflanzen wuchsen. Liebevoll strich sie mit einer Hand über die Blüte und schnupperte an dem schweren, süßlichen Duft. Lilien, die Boten der Reinheit, Unschuld und des Todes. Diese schöne Blume hatte etwas Groteskes an sich, dass sie liebte.
Seufzend hob sie ihren Kopf und sah in die blauen Augen eines weißen Drachen. Ja, sie waren in 'Kaiba Land'. Seto Kaibas persönliche Vision eines Freizeitparks. Überall liefen Jugendliche mit alten oder neuen Duelldisks rum und kämpften mit grotesk aussehenden Monstern aller Art. Auch einige von Nanakos Gruppe spielten leidenschaftlich gern dieses Spiel. Ihr selbst jedoch gab das Spiel nicht viel. Sie hatte es mal versucht, aber schon bald war sie gelangweilt und hatte ihre gesamte Sammlung ihrem Bruder vermacht. Heute interessierte sie das Spiel auf eine andere Weise und sie zog es zum Beispiel vor lieber neue Designs zu entwerfen.
"Nee-san, es gibt Ärger", flüsterte man ihr ins Ohr und als sie sich aus ihren Gedanken losriss, sah sie auch schon, was los war. Nicht unweit der Gruppe hatte sich ein Tumult gebildet und es schien, als würde da eine Prügelei drohen. Bei genauerem Hinsehen erkannte Nanako das Gesicht eines Jungen, der erst seit einigen Wochen zu ihrer Gruppe gehörte. Sie runzelte die Stirn. Jemand stieß ihn mitten durch die schaulustige Menge, so dass er nicht weit von ihr entfernt auf dem Boden landete. Sofort eilten ein paar Mitglieder auf ihn zu und erkundigten sich nach seinem Zustand. Nanako hingegen drückte sich von der Mauer ab, an der sie gelehnt hatte und ging an ihren Freunden vorbei zu dem Tumult.
"Welcher großkotzige Idiot war das?", brüllte einer ihrer Bodyguards und die Beiden bauten sich zwischen dem Jungen und dem Tumult auf. Sie folgte ihnen in einigen Schritten Abstand.
Der Tumult teilte sich und gab den Blick auf eine schlanke, großgewachsene Gestalt frei. Langsam kam er auf sie zu, doch Nanako hatte schon viel eher ein mulmiges Gefühl gehabt, dass sich jetzt grausam bestätigte. Der Mann, dessen Körpergröße ausreichte um über den Großteil der Anwesenden locker hinweg zu sehen, war kein geringerer als Seto Kaiba.
Für einen Moment stockte ihr der Atem und die Zeit gleich mit. Wenn er sie erkennen würde, dann würde sie ihr Gesicht vor ihm verlieren. Oder viel schlimmer, er würde sie feuern. Ihr wurde heiß und kalt und das in einem so schnellen Wechsel, dass ihr auch noch schlecht wurde. Ihre Knie wurden zu Pudding und ihre Hände, welche zum Glück in Spitzenhandschuhen steckten, waren klatschnass und zitterten. Nur mühsam konnte sie einen Kloß von der Größe eines Fußballs herunter schlucken, aber irgendwie hatte sie das Vertrauen in ihre Stimme verloren.
Setos Blick fixierte nacheinander jeden Anwesenden. Kinder, Gothics, Lolitas und überhaupt, schienen heute nur Spinner hier herum zu hängen. In seiner linken Hand trug er wie eigentlich immer seinen Koffer und die rechte steckte tief in seiner Manteltasche. Jeder schien den Atem anzuhalten und es war, als würde er sich ein Opfer für eine rituelle Erschießung aus der Menge herauspicken. Niemand wagte es zu atmen. Endlich, er schien sich ein Opfer ausgesucht zu haben und langsam setzte er sich wieder in Bewegung. Unendlich lange schien sein Weg an den zu Salzsäulen gefrorenen Menschen vorbei zu seinem Ziel und selbst als er angekommen war, wartete alles noch einen Moment gespannt ab.
Nanakos Nacken schmerzte. Sie musste den Kopf ziemlich weit zurück beugen um ihm ins Gesicht sehen zu können. Ihr Kopf dröhnte, denn er spuckte gerade die verrücktesten Dinge aus. Angefangen von den dämlichsten Fluchtversuchen, über weniger überzeugenden Angriffstaktiken, bis hin zu dem stetigen Donnern des 'Du wirst fristlos gekündigt' - Gedankens. Sie spürte die Blicke der Anwesenden und sie spürte seinen warmen Atem auf ihr Gesicht rieseln.
Sein Blick sagte etwas wie: "Was soll der Aufzug?" Aber er sagte nichts dergleichen. Stattdessen befahl er nur etwas, dass wie "Folgen sie mir" klang und es ließ keine Widerworte zu. So starr er sie ansah, so schnell wandte er den Blick von ihr ab und sah hinter sich. Wie aufs Kommando ertönte der Motor seiner Limousine, welche kurz ins Blickfeld kam und ebenso schnell wieder verschwunden war.
Noch eine Weile sah sie dem schwarzen Blitzen der Limousine nach und bemerkte fast nicht, wie er mit einem eisigen Luftzug an ihr vorbei ging. Erst das stechende Gefühl seines Blickes in ihrem Nacken ließ sie zu sich kommen und als sie sich nach ihm umdrehte, stand er ein paar Schritte weiter und wartete alles andere als geduldig. Hatte er sie erkannt?
'Baby' kam auf sie zu und wisperte ihr die Frage "Alles OK?" ins Ohr. Sie sah sehr besorgt aus.
Doch Nanako lächelte sie nur an. Sie wusste nicht genau woher sie die Kraft hatte für dieses Lächeln und ob es überzeugend war, aber die ganze Gruppe schien deswegen erleichtert aufzuatmen. Geschwind folgte sie dann in die Richtung in die Seto dann schon weitergegangen war. Es war schwer das aufkommende Getuschel zu ignorieren, aber es entfernte sich immer weiter von ihr. Immer weiter und irgendwann war es verschwunden.
xXx
Wie ein leises Flüstern schob sich die Tür des Wagons zu und Nanako versuchte angestrengt es sich auf einer der beiden gegenüberliegenden Sitzbänke bequem zu machen. Es war nicht einfach, denn ihr gegenüber saß ihr Boss und es machte ihn nicht angenehmer, dass er schon einmal eine Nacht bei ihr verbracht hatte.
Langsam setzte sich das Gefährt in Bewegung. Sie saßen in einem Zug in Gestalt eines weißen Drachen, welcher sie tief hinein in 'Kaiba Land' brachte. Ein Blick aus dem Fenster führte ins endlose Schwarz eines Tunneltrakts und Nanako zog es vor ihre Hände zu betrachten, welche verängstigt auf ihrem Schoß ruhten.
Sie sah nicht, wie Setos Gesicht sich immer wieder regte. Es schien als wolle er irgendetwas sagen, aber er brachte es nicht bis zu seinen Mund, geschweige denn über seine Lippen. Und gerade als er vielleicht doch den Mut gefunden hatte, unterbrach sie ihn.
"Wieso haben sie einen meiner Freunde geschlagen?" Langsam hob sie ihren Kopf und sah ihn aus ihren großen, dunkel geschminkten Augen an.
Ihm fiel fast die Kinnlade herunter, doch nur seine Augen weiteten sich ein wenig. Eben noch hatte sie total verschüchtert gewirkt und jetzt sah sie ihn so fest an, dass er sogar einen Funken Wut wahrzunehmen glaubte. Aber er machte keinerlei Anstalten zu antworten.
Plötzlich brach das Licht herein und Nanako blinzelte aus dem Fenster hinaus. Sie war noch nie so tief in 'Kaiba Land' gewesen und sah nun zum ersten Mal aus der Ferne die verschiedenen Landschaften. Bisher war sie immer nur auf dem Vorplatz von 'Kaiba Land' und jetzt war sie direkt auf dem Weg hinein in die Welt aus Hologrammen. Das war also das Paradies für die Spieler von 'Duell Monsters' und sie würde es bald aus der Nähe sehen.
"Spielen sie 'Duell Monsters' Miss Okada?"
Sie wandte den Kopf zu ihm und sah wie er sich eine Duelldisk umschnallte. Sorgfältig, fast schon liebevoll zog er sein Deck hervor und schob es in eine passende Öffnung der Disk. Wie aufs Stichwort stoppte der Wagon und die Türen öffneten sich leise flüsternd. Er sah sie an und schien auf etwas zu warten. In ihr rasselte kurz das 'Miss Okada' durch und wusste, dass er wusste, wer sie war. Umso quälender wurde die Frage 'Was sollte sie hier?' für sie, aber irgendetwas in ihr sagte, dass sie erst einmal abwarten sollte. Alles würde sich früher oder später klären. Zumindest war das der einzigste Gedanke, der sie etwas beruhigte.
"Nein", antwortete sie und bekam sogleich seinen metallenen Koffer vor die Nase gehalten.
"Dann tragen sie das." Wieder ließen seine Worte keine Wiederrede zu.
Sie tat wie ihr geheißen und trat nach ihm aus dem Wagon ins grelle Licht. Dieser Platz, die Haltestelle des Zuges, war eine kahle Stelle inmitten eines Dschungels. Von hier aus sah man nur Wald und Nanako erschrak sich vor der realistischen Wirkung. Seto stand unweit eines Wegweisers und richtete seinen Kragen. Was sie nicht sah oder vielmehr was sie nicht hören konnte war, dass er den Kommunikator benutzte, der in die linke Seite seines Kragens eingearbeitet war. Das aufkommende Surren hinter ihr, ließ sie herum fahren und sie sah gerade noch, wie das Ungetüm von weißem Drachen mitten zwischen den Bäumen im Dschungel verschwand. Warum hatte er sie her gebracht und wieso ist sie ihm gefolgt? Nanako wunderte sich nur noch mehr und erst jetzt fiel ihr auf, dass sie immer noch aussah wie ein Püppchen. OK, hier sollten angeblich auch die seltsamsten Gestalten umher irren, aber sie fühlte sich trotzdem fehlplatziert. Wieder spürte sie wie Seto sie ansah und so machte sie sich auf den Weg ihm zu folgen. Zu ihrem Unglück steuerte er direkt auf das Dickicht der Wälder zu und wenn sie sich nicht beeilte, würde er darin verschwinden.
