Kaiba Land II

Schon eine ganze Weile starrte sie auf seinen Rücken. Scheinbar in Gedanken versunken ging er ein paar Schritte weiter vorne vor ihr her und sie betrachtete wie seine gleichmäßigen Schritte seinen Mantel hin und her schwanken ließen. Immer wieder blitzte die Duelldisk an seinem linken Handgelenk auf und immer wieder gab es das knirschende Geräusch seiner Schuhe auf dem Boden. Sie mussten schon eine ganze Weile durch diesen Laubwald irren. Nanako hatte bereits den Dschungel gesehen, war am Rande einer glühenden Wüste entlanggekeucht und sie hatte die weiten Grasebenen überschaut. Doch im Endeffekt hatte sie nur Kämpfe aus der Entfernung beobachtet. In der Dokumentation, welche sie erst an diesem Wochenende gesehen hatte, haben sie auch über diesen Ort berichtet, welcher eine Symbiose zwischen Cybertechnik und realen Aspekten war, sowie eine Kombination aus hypermodernen Kampfarenen, einigen Rätselspielen und sogar kompletten Abenteuern. Doch sie hatte dieses Spiel zu spielen aufgegeben und auch die kurz in ihr aufkommende Lust noch einmal die Karten zwischen den Fingern zu spüren, konnte sie nicht wirklich begeistern.

Der Abstand zwischen ihr und Seto wurde allmählich immer größer. Er hatte ab und zu noch einmal einen Blick über seine Schulter zu ihr zurück geworfen, scheinbar um zu prüfen, ob sie gut mit seinem Koffer umgeht, doch seit geraumer Zeit steuerte er nur noch schnurstracks durch die Landschaften, ohne ihnen auch nur einen Funken Aufmerksamkeit zu schenken.

Ihre Füße wurden schwerer und ihre Schritte träger. Die Zeit hatte sie ganz und gar vergessen, in ihr wuchs die Lust nach ihrer Armbanduhr zu kramen, welche sie sicher verstaut in ihrem Rucksack trug. Doch sie hatte schon genug Probleme mit Seto Schritt zu halten und wenn sie nicht aufpasste, würde er hinter der nächsten Wegbiegung im Dickicht des Waldes verschwinden. Mühsam schleppte sie seinen Koffer, welcher sie noch kleiner zu machen schien, so sehr zog er nach unten.

Was hatte er darin gelagert?
Steine?!

Doch noch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, surrte ein grelles Quieken gepaart mit blendendem Licht an ihr vorbei, so dass sie stehen bleiben musste und völlig perplex dem Ding eine Weile nachsah. Noch einen Moment dauerte es, bis der riesige Lichtpunkt in ihrem Blickfeld verblasst war und auch das Klingeln in ihren Ohren nachgelassen hatte. Verwundert runzelte sie ihre Stirn und wollte schon weitergehen, als es passiert war. Seto war weg.

Regungslos stand sie wie angewurzelt an ein und derselben Stelle und sah regungslos auf ein und denselben Punkt unweit von ihr. Mit einem Mal verließen sie die Kräfte und sie sackte in sich zusammen. Durstig und ausgepowert saß sie mitten auf dem Waldweg zwischen den hohen Bäumen, durch die nur spärlich Licht fiel und schimmernde Flecken um sie herum auf den Boden zauberten. Ein leichter Schwindel ließ sie zittern und Sterne sehen. Wie lange war sie denn nur schon unterwegs? Sich den Rucksack vom Rücken schnallend und eine Flasche Tee heraus ziehend, entschloss sie sich mal eine Pause einzulegen. Sie konnte sich auch noch später auf die Suche nach Seto machen. Obwohl vorher noch gründlich auszudiskutieren blieb, wieso sie das überhaupt tun sollte.

Wie sie so an der Flasche nuckelte fiel ihr Blick auf seinen Koffer, den sie ja freundlicherweise tragen durfte. Was da wohl alles drin war? Sorgfältig sah sie sich um und vergewisserte sich, dass niemand außer ihr in der Nähe war und streckte eine Hand nach dem Verschlussmechanismus aus. Das Zahlenschloss stand auf irgendwelchen Nummern und sie hoffte, dass es die richtige Kombination war. Mit gekreuzten Fingern schob sie die beiden Knöpfe nacheinander nach außen. Zwar brauchte sie doch einen beachtlichen Teil ihrer Kraft, doch es reichte und zu ihrer Freude schnappten die Schlösser auf und der Koffer öffnete sich einen Spalt. Wieder blickte sie um sich und nuckelte noch einmal an der Flasche. War auch wirklich niemand hier? Langsam hob sie den Deckel an und erblickte schon bevor er endgültig geöffnet war ein ganzes Sortiment von Karten. An einige konnte sie sich sogar erinnern, aber so eine Masse hatte sie selten zu Gesicht bekommen. Als sie den Deckel ganz aufgeschoben hatte, erleuchteten die Lichtflecken auch den Rest des Inhaltes und sie erblickte eine in Samt eingelassene Duelldisk. Sie war schmaler, graziler und wirkte überhaupt wesentlich moderner. Kurz kam ihr die Idee, dass es ja ein Prototyp sein konnte. Doch was daran sollte bloß neu sein?

Eine ganze Weile noch blickte sie auf die verschiedenen Karten. Manchmal hatte sie wirklich die Lust verspürt wieder zu spielen, doch jedes Mal wenn sie auf die Karten sah, kamen auch die verdrängten Erinnerungen zu ihr zurück und dieses Spiel hatte einfach zu viele schmerzliche Folgen für sie gehabt. Eilig schloss sie den Koffer wieder, als sie Tränen in sich aufsteigen spürte und versuchte tief durchzuatmen.

Ein erneutes, leiseres Quieken an ihrem Ohr ließ sie aufschrecken. Als sie den Kopf wandte erblickte sie im ersten Moment wieder nur ein helles Licht, doch als sich ihre Augen daran gewöhnt hatten, erblickte sie eine kleine Gestalt.

"Eine Fee", entfuhr es ihr und sie hatte Mühe ihre Überraschung im Zaum zu halten.

Das kleine Wesen surrte um sie herum, flatterte durch ihre Haare und wieder vor ihrer Nase herum. Irgendetwas wollte sie Nanako sagen, aber sie verstand sie nicht. Eine ganze Weile starrte Nanako auf das Lichtwesen, seine kleinen Flügel brachen das Licht in allen Regenbogenfarben und warfen bunte Lichtflecken zusätzlich auf den Boden. Immer noch am Grübeln erhob sie sich langsam, verstaute ihre Trinkflasche wieder in ihrem Rucksack und schnallte sich diesen auf den Rücken, als ihr auch schon ein flaches Lichtfeld ins Auge fiel. Bei genauerem Betrachten war es ein Informationsschild, dass auf eines der vielen Abenteuer hinwies, welche in "Kaiba Land" integriert waren. Nachdem sie einen Moment gebraucht hatte, um die Bedienung des Feldes zu verstehen, las sie von einem Ritterabenteuer mit Feen, Magiern, verschiedenen Monstern und einem mächtigen Drachen als Endgegner. Weniger überrascht als vielmehr amüsiert grinste sie vor sich hin und schüttelte den Kopf. Zum Glück hatte sie keine Duelldisk bei sich, denn laut Spielanleitung wurde jeder mit einbezogen, der sich in diesem Gebiet aufhielt und eine Disk bei sich hatte.

Sie runzelte ihre Stirn.

"Jeder der in Besitz einer Duelldisk ist", murmelte sie vor sich hin, als sie den entscheidenden Satz noch einmal las. Mit einem unbehaglichen Gefühl in der Magengegend warf sie einen Blick auf ihre rechte Hand in der sie den Koffer trug. So allmählich verstand sie, wieso Seto durch die verschiedenen Gebiete geeilt war. Nicht, dass er sie irgendwie schützen wollte, vielmehr hatte sie das Gefühl, dass er keine Lust gehabt hatte, sich von einem der vielen Abenteuer aufhalten zu lassen. Gerade als sie fertig geworden war mit Lesen, schob sich ein düsterer Schatten über das grünliche Leuchten des Informationsfeldes, welches nur eine Projektion war. Zusätzlich drang ein etwas unangenehmer Geruch von wildem Tier in ihre Nase und auch das schwere Keuchen in ihrem Nacken, machte die ganze Situation nicht angenehmer.

"Kyaaaa!"

Was war das? Seto erwachte aus seinen Gedanken und bremste seine Schritte. "Haben sie das auch gehört?" Fragend wandte er sich um, doch widererwartend war sie nicht da. Schneller als Seto es begreifen konnte, hatte sein Körper auch schon eine Ladung Adrenalin ausgespuckt, welches nun in einem Affenzahn durch seinen Körper schoss. Er brauchte keinen Taschenrechner um die Fakten zusammenzufassen und zu dem Schluss zu kommen, dass seine Vermisste wohl in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Schrei stand. Wahrscheinlich hatte sie sich vor einem Insekt erschreckt. Sein Puls war gerade dabei sich wieder zu beruhigen, als er hämisch grinsend zurück in die Richtung ging, aus der er gekommen war und in der er Nanako in einer peinlichen Lage erwartete. Obwohl er sich sicher war, dass es wohl nur eine Bagatelle war, wegen der sie so geschrieen hatte, doch je weiter er zurück ging umso nagender wurden seine Zweifel. Irgendetwas hatte er übersehen. Immer schneller wurden seine Schritte, bis er einen flotten Laufschritt erreicht hatte.

Endlich bog er um die letzte Kurve und war froh, sie erreicht zu haben. Doch das Ding, dass sich da über sie gebeugt hatte und der Grund für diesen Schrei gewesen war, war alles andere als ein harmloses Insekt.

"Miss Okada!"

Überrascht ihren Namen zu hören, blinzelte Nanako in die Richtung aus der er gekommen war und sie erblickte Seto in sichtlicher Hektik. Ihre Lage wurde von Augenblick zu Augenblick unangenehmer. Vor allem, weil sie langsam begriff, dass dies alles immer noch nur ein Spiel war. Besonders Setos kühle Ruhe, welche zusehends wieder Besitz von ihm ergriff, ließ sie verstehen, dass es wohl halb so schlimm war. Seelenruhig zog er eine Karte vom Stapel seines Decks aus der Duelldisk und aktivierte ein nicht weniger realistisch wirkendes Monster, dass ihren Peiniger mit nur einem Schlag in Pixelfetzen zerriss.

Ein quälender Moment Stille lag zwischen ihnen, in dem auch das von Seto beschworene Monster wieder verschwand.

"Interessanter Verehrer, reicht es nicht für einen Looser?"

Der Klang seiner Stimme hatte sich radikal verändert. Nanako lief es kalt den Rücken runter. Das war er also, Seto der Duellant. Sie hatte schon davon gehört, dass Setos Charakter einen gewaltigen Sadismus entwickelte, sobald er in einem Duell steckte und jetzt bekam sie eine volle Breitseite davon ab.

Mit immer noch leicht zittrigen Knien rappelte sie sich vom Boden auf und ordnete ihre Kleidung. Ihr schönes Kleid hatte einige ungeplante Falten und Knitterstellen abbekommen, aber viel mehr hatte sie sein dämlicher Kommentar getroffen. Mit zunehmender Fassung zog sie ihre Handschuhe zurrecht und sah zu ihm herüber, wie er sie mit verschränkten Armen musterte. Ihre Blicke trafen sich und einen Moment lang war die Luft zwischen ihnen wie elektrisiert.

Ihre Augen sahen fest zu ihm herüber und je länger sie seinen Kommentar im Raum stehen ließ, umso unbehaglicher wurde ihm zumute. Er war es gewohnt, dass man eine Regung zeigte, seien es unkontrollierte Wutausbrüche, Angstzittern oder einfach nur die Flucht des Gegenüber. Aber sie wählte weder das eine, noch das andere und erst Recht nicht das Letztere. Diese Gleichgültigkeit, die sie gegenüber seinen Spitzen an den Tag legte, forderten jedes Mal aufs Neue seine Willensstärke heraus. Doch dieses mal musste er ein Stückchen zu weit gegangen sein, denn je länger sie ihn ansah umso finsterer wurde ihr Blick, zumindest schien es ihm so und dabei bewegte sich kaum ein Muskel in ihrem Gesicht. Waren ihre Augenbrauen vorhin auch schon so nah beieinander? Sie sah direkt wütend aus, schoss es ihm durch den Kopf.

Nanako sah ihn einen ganzen Moment an und dachte über einiges nach, als er anfing zwei- dreimal zu blinzeln und dann den Blick von ihr abwandte. Seine Arme hatten sich wieder gelockert und hingen gerade etwas nutzlos neben ihm herum. Irgendetwas in der Ferne hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen und sie wandte den Kopf in dieselbe Richtung, um zu sehen, was dort wohl war.

Aber da war nichts.

Es ging nicht. Er konnte einfach keine Sekunde länger in ihre Augen sehen. Mehr und mehr bohrten sich die Erinnerungen ihrer gemeinsamen Nacht in seinen Kopf und die Dinge, über die er damals schon nachgedacht hatte. Wieder spürte er das samtige Fell einer Katze zwischen seinen Fingern, erneut umnebelte ihn der leichte Duft von Apfel und zum wiederholten Male sah er sie, wie sie ans Fenster gelehnt auf dem Fensterbrett gesessen hatte und dort eingekuschelt in eine dicke Decke eingeschlafen war. Sein Herz pumpte wieder einen Schwall kochenden Blutes durch seinen Körper, dessen Hitze ihm direkt in den Kopf stieg. "Gehen wir weiter", brummte er und ging einige Schritte den Weg entlang.

Erstarrt stand sie noch eine Weile auf ein und demselben Fleckchen Erde. Sie hatte das gerade nicht wirklich gesehen, oder? Wenn sie heute nicht ausnahmsweise ihre Kontaktlinsen drin gehabt hätte, dann würde sie jetzt schauen, ob ihre Brille noch in Ordnung war. Da dies aber nicht der Fall war, musste es wohl wirklich so sein. Gerade, als Seto seinen Kopf abgewandt hatte, glaubte sie einen Hauch von Röte auf seinen Wangen erkennen zu können. Nur das würde bedeuten, dass er entweder Fieber hatte oder gar durch irgendetwas verlegen geworden war. Dieser Mann war nicht gerade eben errötet, oder?