Leises Weinen
Nachdem sie sich gründlich abgeduscht hatte stieg sie in das dampfende, heiße Bad und gab sich dem intensiven Duft des ätherischen Öls hin. Im Hintergrund zerfetzte die Musik, welche aus dem Radio dröhnte, die nächtliche Stille. Es war gegen zehn Uhr und vor knapp einer Stunde waren die letzten Gäste gegangen, was soviel hieß wie Mokuba und Seto. Bis zum Hals lehnte sie sich zurück in das Wasser und schloss genießerisch ihre Augen. Heute war soviel passiert, stellte sie fest und jetzt brauchte sie erst einmal einen Moment Ruhe um alles noch einmal Revue passieren zu lassen. Demnach schien Seto wirklich seinen Sonntag dafür geopfert zu haben, sie durch die Gegend zu schleifen, nur damit Mokuba ihre Wohnung ausräumen und ihren ganzen Kram in diese schmucke Eigentumswohnung zu schaffen. Wenn sie richtig darüber nachdachte, wusste sie nicht einmal wo genau sie war. Sie hatte doch die ganze Zeit im Auto geschlafen. Nachdenklich rollte sie sich in der Wanne auf den Bauch und ließ beide Arme über den Wannenrand nach draußen hängen.
Tropf, tropf, auf den warmen Fließen.
Nachdenklich starrte sie auf die entstehende Pfütze und wischte mit einem Finger darin herum. Die Musik, welche noch immer aus dem Wohnzimmer herein schwappte wurde langsam ruhiger und machte sie zusätzlich zu der entspannenden Wirkung des Bades wieder so schläfrig. Müde schloss sie ihre Augen, legte den Kopf auf ihre Arme und schlummerte sacht ein.
xXx
Pling... pling... pling...
Ein seltsames Geräusch, als würde jemand mit einem Löffel ganz vorsichtig ein Kristallglas anschlagen, weckte mich auf. Langsam öffnete ich meine Augen und fand mich in einer finsteren Gegend wieder. Es war kalt und als ich mich aufraffte, spürte ich Gras unter meinen Händen. Verwundert hob ich meine Hand vor mein Gesicht, sie war seltsam schlank und ungewöhnlich hellhäutig. Lange konnte ich mich nicht darüber wundern, wie ich auszusehen schien, denn ein leises Schluchzen wabberte durch die Dunkelheit. Verwundert hob ich den Blick und sah mich um. Woher kam dieses Geräusch? Klang, als würde jemand weinen. Langsam erhob ich mich und bemerkte das Gras auch an meinen Füßen. Ich war barfuss und auch meine Garderobe ließ einiges zu wünschen übrig. Denn wie ich feststellen musste trug ich nur ein verblichenes, altes Gewand. Wieder unterbrach ein Wimmern meine Gedanken.
"Hallo?"
Meine Stimme hallte durch den Raum und sie war mir völlig fremd. So langsam überkam mich das Gefühl, dass ich vielleicht sogar in einem anderen Körper stecken würde und es dauerte einen Augenblick, bis ich den Mut gefunden hatte, ein paar Schritte in die Dunkelheit hinein zu gehen. Wieder drang das Wimmern zu mir und es lief mir kalt den Rücken herunter. In der Ferne tauchte ein helles Licht auf, doch noch konnte ich nichts genaues erkennen. Langsam und vorsichtig ging ich über das kühle Gras, dass unter meinen Füßen kitzelte, näher auf das Licht zu. Je näher ich kam umso deutlich wurde das Wimmern und ab und zu erklang auch ein herzzerreißendes Schluchzen.
"Mama", schluchzte jemand.
Schneller als ich es geglaubt hätte durchschritt ich die Entfernung und stand am Rande des Leuchtens. Vor mir lag etwas, von dem dieses Leuchten auszugehen schien und es hatte eine Oberfläche aus Kristall.
Pling...
Wieder dieses seltsame Geräusch, doch diesmal sah ich, woher es kam. Dieses Ding war die Ursache dafür, denn links und rechts von ihm hoben sich zwei Schwingen und ragten bedrohlich in die Höhe. Wie verzaubert musste ich es ansehen, ich konnte nicht wiederstehen und Angst verspürte ich in mir auch nicht. Von diesem Wesen mit den kristallenen Schwingen ging eine vertraute Aura aus und ich spürte mich beinahe geborgen.
"Weinst du?"
Zwei Augen öffneten sich und sahen mich starr an. Sie waren von einem milden Blau und je länger ich in sie hinein sah umso freundlicher schienen sie mich anzusehen. Dieses Wesen hob langsam seinen Kopf, bis es mir direkt in die Augen sehen konnte. Gespannt hielt ich den Atmen an, als ich die Gestalt eines Drachens aus Kristall vor mir sah, dessen Schwingen sich leicht hoben und senkten und dabei dieses leise Klingen verursachten. Wie in Trance streckte ich meine Hand nach dem Kopf des Drachens aus und berührte sacht dessen Haut. Sie war kühl, wie ich vermutet hatte und doch ging von ihm ein dumpfes Pochen aus, wie das ferne Schlagen eines Herzens. In seinen sanften blauen Augen spiegelte sich eine Gestalt, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Sie hatte langes Haar und große, traurige Augen. Als ich mich jedoch etwas näher zu der Spiegelung beugte, musste ich feststelle, dass ich mir selbst in die Augen sah. Wer bin ich?
"Mama, hilf mir", schluchzte wieder jemand und es kam nicht von dem Drachen, wie ich vermutet hatte, sondern von etwas, dass dieser in seinen Klauen hielt.
Langsam senkte ich meinen Blick auf den Boden. Dort und eng umschlungen vom Körper des Drachens lag ein zusammen gerolltes, kleines Kind. Von seinem Schluchzen ergriffen kniete ich mich neben es und wollte sein Haar berühren, als sich die Umarmung des Drachens etwas löste und das Kind seinen Kopf hob. An meiner Hand vorbei huschend, spürte ich seine Umarmung um meinen Bauch und wie es sich noch enger an mich drückte. Im ersten Moment überrascht, legte ich bald meine Arme um es und versuchte es zu trösten.
"Sch...", hauchte ich und streichelte sein Haar und seinen Rücken.
Langsam schob sich der Kopf des Kristallenen Drachens in mein Blickfeld und er rieb sich kurz an meiner Hand. Wieder sahen wir uns an und nur das herzzerreißende Schluchzen war zwischen uns. Die Gestalt des Drachens verblasste mit einem mal, bis sie sich in einen seichten Nebel verwandelt hatte und mich und das Kind umhüllte. Ein brennender Schmerz auf meinem Rücken, ließ mich beinahe das Bewusstsein verlieren, als ich mich wieder gefasst hatte und meinen Kopf so weit es ging umwand, sah ich die Schwingen des Drachens auf meinem Rücken. Unentwegt schwangen sie leicht hin und her und zum ersten Mal schien es mir, als würden sie ein leises Lied erklingen lassen. Ein sehr beruhigendes und doch unendlich trauriges Lied, dass mich immer schläfriger machte. Mein Kopf wurde immer schwerer und ich senkte ihn etwas nach vorne. Auf meinem Schoß lag der Körper des Kindes und es schien so, als wäre es eingeschlafen. Lächelnd strich ich ihm über die Wange.
"Du musst sein Herz erweichen", dröhnte eine Stimme in meinem Kopf. Blitze schlugen über mir zusammen und alles um mich herum verfiel in einen Zeitraffer. Geblendet wollte ich nachsehen, was mit dem Kind war, doch alles was ich noch sah, waren starre eisblaue Augen. Sie starrten mich weit aufgerissen an.
Ein ohrenbetäubender Knall zerriss alles.
xXx
Zu Tode erschrocken fuhr Nanako auf, konnte sich gerade noch am Wannenrand festhalten, um nicht in das heiße Wasser zu rutschen und im schlimmsten Falle auch noch zu ertrinken. "Was zum", entfuhr es ihr und als sie sich umsah, blickte sie in die weit aufgerissenen Augen von Kuro. Scheinbar hatte sie sich genauso erschrocken wie Nanako sich selbst und es dauerte einen Moment, bis sie realisiert hatte, was passiert war. "Kuro, alles in Ordnung?"
Mit immer noch leicht zitternden Händen sammelte sie die Scherben vom Badezimmerfußboden auf. Kuro hatte eine gläserne Flasche Duschbad umgeworfen und wie Nanako feststellen musste, sogar noch rechtzeitig. Denn sie war im heißen Aromabad eingeschlafen und sie hätte sich eine dicke Lungenentzündung holen können, wenn sie nicht bald aufgeweckt werden würde. Zum Glück hatte sie eine stets hungrige kleine Katze, die auf sich aufmerksam zu machen wusste.
Nachdem sie die Scherben aufgesammelt und das Duschgel aufgewischt hatte, saugte sie vorsichtshalber noch einmal durch, bevor sie sich ein Handtuch umwarf um Kuro das Abendessen hinzustellen. Wie das Trockenfutter so in den Fressnapf rieselte, erinnerte sie das polternde Geräusch an etwas, dass sie vorhin geträumt hatte. Nur wusste sie nicht mehr genau worum es ging und je weiter die Zeit voranschritt umso mehr entfernte sich die Handlung von ihr. "So lass es dir schmecken, Kleine." Sie strich noch einmal über das schwarze Fell und ging dann ins Wohnzimmer. Fast schon zu entspannt durch das heiße Bad warf sie sich auf das Sofa und schaltete durch die Kanäle. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie nur knapp zehn Minuten geschlafen hatte und so kam sie gerade rechtzeitig zu ihrem Film.
Gerade als der Vorspann angefangen hatte, fiel ihr Blick auf ihr Handy, welches sie vor sich auf den niedrigen Wohnzimmertisch gelegt hatte. Ihr kam das Treffen mit Ryuuji Otogi wieder in den Sinn und das sie schon ewig nichts mehr von ihm gehört hatte. Entschlossen legte sie die Fernbedienung beiseite, beugte sich vor und griff nach dem Handy. Erfreut stellte sie fest, dass sie seine Nummer noch eingespeichert hatte und rief ihn an. Noch während es klingelte hopste Kuro auf das Sofa, schlich zu ihr und ließ sich kraulen. Nach kurzem Warten meldete er sich auch schon und begrüßte sie fröhlich. "Hallo Ryu, ich wollte mich mal wieder bei dir melden", antwortete sie und verfiel in ein angeregtes Gespräch.
xXx
Der Himmel war nachtschwarz und die Sterne schienen sich mit jedem Augenblick mehr und mehr zu entfernen. Tief lehnte Seto in dem Ohrensessel vor dem Kamin, in dem ein altmodisches Holzfeuer brannte und blickte aus der großen Fensterfront in die Nacht hinaus.
Der Haarschopf seines Dieners beugte sich in sein Blickfeld und offerierte ihm ein Whiskeyglas. "Das Aspirin, dass sie gewünscht haben Mister Kaiba", formulierte dieser akzentfrei und begleitet von übergenauer Aussprache.
Müde wandte er den Kopf und sah zu, wie der Butler eine weiße, dicke Tablette hineinwarf, die sofort hektisch anfing zu sprudeln. Als ihm das Glas in makellosen, schneeweißen Handschuhen dargeboten wurde, streckte er seine Hand danach aus und umfasst es fest. Man musste froh sein, dass es ein dickes Whiskeyglas war, denn sonst hätte die Gefahr bestanden, dass er es einfach zerdrückt hätte. "Danke, sie sind für heute entlassen", murmelte er und hielt sich das Glas unter die Nase. Das Sprudeln spritzte bis zu seinem Gesicht und badete ihn in einer kleinen, kühlen Dusche.
Formal verbeugte sich der Butler und machte sich mit dem Tablett unter dem Arm auf den Weg zu seinem Feierabend. Beinahe geräuschlos öffnete er die Tür, als Mokubas Gesicht ihn angrinste. "Mister Mokuba", grüßte er ihn und ging dann an ihm vorbei und hinaus.
Mokuba sah dem dürren Mann in seinem schwarzen Outfit nach und schob dann die Tür zu. Fröhlich und nur geringfügig müde sah er sich in dem verdunkelten Raum um, als er Setos Hand hinter der Sessellehne hervorragen sah. "Seto? Wieso ist es denn so dunkel hier?" Seine Stimme durchbrach gnadenlos die künstliche Stille, die nur ab und zu vom Knacken des Kaminfeuers durchbrochen worden war.
"Ich habe Kopfschmerzen Mokuba", murmelte Seto und trank einen Schluck von der milchig trüben Flüssigkeit in seinem Glas.
Mokubas Schritte auf dem teuren Holzfußboden hallten durch den Raum und verstummten erst, als er neben Seto am Sessel stand und ins Kaminfeuer sah.
"Wie lange willst du dieses Ding noch mit dir herum schleppen", fragte Seto deutlich gepeinigt von seinen Kopfschmerzen. In der einen hielt er das Glas und mit der anderen fuhr er sich über die linke Seite der Stirn.
Selig lächelnd blickte Mokuba auf seine Hände in denen er seit einer Ewigkeit eine Tasse hielt. Er hatte sie auf der Rückfahrt in der Limousine hervorgezogen und seitdem nicht mehr die Finger davon gelassen.
Seto nahm sein Glas in die linke Hand und hielt Mokuba die andere offen hin. "Wo hast du die eigentlich her?"
Vorsichtig und liebevoll reichte er seinem älteren Bruder die Tasse und ließ sie erst los, als er sich sicher war, dass Seto sie fest in der Hand hatte. "Von ihr..."
"Sie ist kaputt", bemerkte er trocken und reichte sie Mokuba wieder. Der Henkel war abgebrochen und hatte dem grellen Ding von Tasse einen absurden Touch verpasst. "Warum lässt du eine Tasse mitgehen und dann auch noch eine kaputte?" Wieder spürte er eine Schmerzwelle in sich aufkommen und stürzte den Rest des Inhaltes seines Whiskeyglases herunter.
Mokuba schob seine Unterlippe hervor. "Ich habe sie nicht gestohlen!" Wieder erntete die Tasse einen liebevollen Blick. "Sie ist mir herunter gefallen beim Ausräumen. Da habe ich mir gedacht, dass ich sie mitnehme und repariere."
Schwerfällig erhob sich Seto aus seinem Sessel, ging zur Sitzgarnitur und stellte das leere Glas auf den niedrigen Couchtisch. "Kauf doch einfach eine Neue, ist doch nur eine Tasse."
"Das geht nicht, die Tasse ist selbstgemacht", antwortete Mokuba und erntete einen fragenden Blick von Seto. "Du glaubst mir nicht?" Eilig kramte er in seiner Hosentasche und zog etwas gebogenes hervor. "Hier, der abgebrochene Griff. Wenn man ihn sich lange genug ansieht, dann sieht man die Form eines Drachens."
Augenrollend versenkte er die Hände in den Hosentaschen. "Mach doch was du willst", murmelte er. "Ich leg mich hin, Gute Nacht", fügte er noch hinzu und verließ den Raum.
Mokuba sah ihm noch eine Weile nach. Sein älterer Bruder hatte überhaupt keine Ahnung. Einfach neu kaufen? Nur weil man Geld wie Heu hat, kann man damit nicht alles wieder gut machen. Entschlossen nickte er und machte sich selbst auch auf den Weg in sein Zimmer. Sie würde sich sicher freuen, wenn er sie reparieren würde und mit dem Gedanken machte er sich fertig für die Nacht.
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Müde setzte sie sich auf ihr Bett und warf das Handtuch auf einen nahe stehenden Stuhl Es war seltsam für sie, alle Umzugskisten an deren Gegenwart sie sich schon fast gewöhnt hatte, waren nun ausgepackt und sie brauchte immer etwas Zeit um das zu finden, was sie gerade suchte. Obwohl, eine einzige Kiste hatten ihre Freunde nicht angerührt. 'Baby' hatte ihr erzählt, dass sie sich nicht daran getraut hatten, weil sie sehr persönliche Dinge darin vermutet hatten und 'Baby' hatte Recht gehabt. Sich das Haar kämmend saß sie auf der Kante des Bettes und betrachtete die letzte, gelbliche Umzugskiste auf der in schwarzen Buchstaben 'Nanakos Sachen - Nicht anfassen!!' stand. Nanako fürchtete sich fast schon ein bisschen vor dem Inhalt. Diese Kiste hatte sie schon gepackt, da war sie sich noch nicht einmal sicher, dass sie nach Tokyo umziehen würde. Darin verbargen sich Fotos und andere Sachen einer Vergangenheit, zu der sie schon vor langer Zeit den Kontakt verloren zu haben glaubte.
Gähnend verwarf sie erneut den Gedanken, diese lang verschlossene Kiste zu öffnen und legte sich ins Bett. Sie spürte wie Kuro auf das Fußende hopste und es sich dort bequem machte. Lange musste sie nicht warten, bis die Müdigkeit sie wieder fest im Griff hatte und sie in einen tiefen Schlaf fiel.
