Kapitel 2
„Also." Heero schnitt eine Ecke von seinem Roastbeef, steckte es in den Mund, kaute genussvoll und schluckte es hinunter. Hervorragend.
„Wo ist es?"
„Ich werd dir einen Dreck erzählen," sagte Duo mit vollem Mund. „Sobald die Mahlzeit beendet ist bin ich hier weg."
„Das denke ich nicht."
„Ich kann wirklich nicht glauben das ich ausgerechnet dich geküsst habe."
„Genauso wenig wie ich. Es hat mit Sicherheit einen ansonsten recht langweiligen Tag belebt. Aber," fuhr Heero fast fröhlich fort, „was passiert ist, ist passiert. Und jetzt sind wir hier."
„Wir sind gar nichts. Ich habe hier nur ein nettes Mittagessen und lasse dich großzügigerweise an meinem Tisch sitzen."
„Und die Rechnung bezahlen."
„Naja, ja. Ich kann nicht –" Duo hörte auf zu sprechen und nahm einen Monsterschluck von seinem Getränk.
„Du kannst nichts von deinem Konto abheben oder deine Kreditkarte benutzen, weil du dann geschnappt wirst."
Duo zuckte mürrisch mit den Schultern.
„Oh, Duo, bitte. Gib mir einfach die Phiole und das alles wird vorbei sein."
„Ha!"
„Was heißt hier ha? Es wird vorbei sein. Sie wollen nur ihr Eigentum zurück. Ich könnte sogar mit deinem Boss reden, Mr. –"
„Dem Arschloch? Er wird dir garantiert nicht zuhören. Er würde mich sofort aufhängen lassen wenn er könnte."
„Ist das nicht etwas zu melodramatisch?" fragte Heero milde.
„Kumpel, bist DU die letzten zwei Tage gejagt worden?"
„Ähm... nein."
„Richtig. Dann lass deine große Klappe geschlossen."
„Sollte ich wohl besser, sonst steckst du nur wieder deine Zunge rein."
Duos Augen weiteten sich und quollen fast hervor, und Heero musste auf das Kichern, das ihm entkommen wollte, praktisch drauftrampeln um es aufzuhalten. Wenn er jetzt lachte, dann konnte er sicher sein, das Gesicht plötzlich voller Sauce Bernaise zu haben.
„Vergiss es," sagte er schnell und hoffte so dem unweigerlichen Ausbruch zu entgehen. „Unangebracht und all das. Aber, Duo, dir ist sicherlich klar, das du nicht ewig davonlaufen kannst. Außerdem, du bist nicht das Opfer hier. Du hast etwas gestohlen –"
„ICH HAB ÜBERHAUPT NICHTS GESTOHLEN!" Dann, völlig überraschend und zu Heeros großer Bestürzung brach Duo in Tränen aus, legte sein Gesicht auf seinen Teller und schluchzte in seine liebliche Sauce Bernaise.
Innerhalb von Minuten hatte Heero die Rechnung beglichen und brachte Duo hinauf in seine Suite. Der Langhaarige hatte sich an seiner Seite zusammengekrümmt wie eine heulende Krabbe, und Heero starrte jeden böse an, der es auch nur wagte zu ihnen herzusehen.
Im Zimmer angekommen tätschelte er Duo unbeholfen den Rücken bis dessen Schluchzer sich in einen leisen Schluckauf verwandelten. Duo fühlte sich unglaublich gut an in seinen Armen, warm und weich, und doch mit Muskeln da wo welche sein sollten. Nun, Duo arbeitete immerhin im Sicherheitsdienst. Es machte Sinn, das er sich in Form hielt. Perfekten Sinn sogar. Und Duo selbst war auch ziemlich perfekt, so anschmiegsam und gutaussehend und –
‚Verdammt, konzentrier dich gefälligst, Idiot!' dachte Heero.
„Ich kenne deinen Namen gar nicht," murmelte Duo in seinen Kragen.
„Heero. Heero Yuy."
"Ich bin Duo Maxwell."
„Ja, ich weiß. Du hast Sauce Bernaise in deinen Haaren."
Duo zuckte vor ihm zurück und seine Brauen zogen sich zu einem bösen Blick zusammen. „Ich habe nicht das geringste gestohlen," brach es aus ihm hervor.
„Das hast du schon mal gesagt. Klär mich auf."
„Nein." Duo wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab. „Ich muss das Badezimmer benutzen. Bin gleich wieder da, ok?"
Erst als sich die Tür hinter Duo schloss und anschließend abgesperrt wurde realisierte Heero, das seine Brieftasche weg war.
Er schlug mit seiner flachen Hand gegen die Tür. „Oh, wirklich toll!" rief er durch das Holz. „Wann hast du meine Taschen gelehrt, du kleiner Baka?"
„Ich weiß zwar nicht was das ist, aber höchstwahrscheinlich nichts sehr nettes, deshalb verabschiede dich schon mal von deinem Führerschein."
Heero hörte die Toilettenspülung rauschen und knirschte mit den Zähnen. Dann hörte er ein schockiertes Quieken, „Du arbeitest für die National Security Agency?"
Verdammt. Duo hatte seinen alten Ausweis gefunden. „Nicht mehr," sagte Heero schnell. „Seit genau einer Woche bin ich selbstständig. Privatdetektiv und all das."
„Privatschnüffler wohl eher. Und jetzt suchst du nach mir."
Heero fällte eine blitzschnelle Entscheidung und hoffte inbrünstig er würde sie nicht bedauern. „Nein," log er, „es war nur ein Zufall. Deine Firma hat dein Bild an etliche Ermittlungsagenturen geschickt, zusammen mit einer interessanten Geschichte. Scheinbar arbeitest du für Bioterroristen –"
Ein empörter Schrei: „WAS?"
„ – und hast etwas höchst instabiles gestohlen und hast gewalttätige Absichten."
Heero hatte diese absurde Geschichte von Anodyne gehört und hatte Duos Akte diesen Morgen per Fax bekommen. Die NSA konnte sich nicht offiziell einschalten – sie waren Codebrecher, keine Polizisten – deshalb hatte Heero den Fall übernommen. Wenn er Duo auslieferte, würde es seiner noch in den Kinderschuhen steckenden Karriere einen enormen Auftrieb verleihen. Und wenn er es nicht täte...
Am besten gar nicht darüber nachdenken.
Er erinnerte sich daran, wie er sich Duos Akte eingeprägt hatte, geblendet von dessen gutem Aussehen. Und das er gedacht hatte, das dieser eher wie die Unschuld vom Lande aussah, statt wie ein Terrorist.
Es war wirklich der reinste – und süßeste! – Zufall gewesen, das Duo ausgerechnet zu ihm in den Fahrstuhl gesprungen war und ihn geküsst hatte. Was der Ärmste gar nicht realisiert hatte, war die Tatsache, das nur einen Block weiter eine Strafverfolgungstagung stattfand, zu deren Organisation Heero angereist war. Natürlich, einen Auftrag in derselben Stadt zu bekommen in der die Tagung stattfand war das i-Tüpfelchen gewesen.
Heero hatte Duo auf der Stelle erkannt, in diesem verschwommenen Augenblick bevor dieser in seine Arme gesprungen war. Das grobkörnige Faxbild wurde ihm nicht einmal annähernd gerecht. Und es zeigte auch nicht im geringsten sein unglaubliches Charisma. Heero konnte die Energie fast sehen, die Duo zu umgeben schien, wenn dieser sprach, sich bewegte. Küsste.
Jeder rationale Gedanke war aus seinem Kopf verschwunden als diese weichen, süßen Lippen auf seine trafen. Und als er Duo aus dem Aufzug gefolgt war, hatte Heero beinahe getaumelt. Duo Maxwell war ein erstaunlicher Mann, und Heero glaubte fest an Liebe auf den ersten Blick.
Jetzt jedenfalls.
Als sein Kopf sich wieder etwas geklärt hatte, hatte er erkannt, das Duo, wenn er noch einen Block weitergegangen wäre, den fünfhundert Gesetzeshütern direkt in die Arme gelaufen wäre – von denen die meisten von ihm gehört hatten. Anodyne wollte Duo – und seine Fracht – wirklich verzweifelt zurückhaben. Sie breiteten ihr Netz so weit aus wie sie nur konnten. Deshalb hatte Heero sofort Duos Weggang verzögert, indem er ihn zum Essen einlud. Und als dieser anfing zu weinen hätte Heero am liebsten den Tisch verlassen, Duos Peiniger gesucht und ihnen methodisch jeden einzelnen Finger gebrochen.
All das blitzte in einer halben Sekunde durch sein Hirn. „Ich arbeite wirklich nicht für deinen Boss," sagte er durch die Tür. „Aber ich würde dir gerne helfen. Ich kann es dir wirklich nicht verübeln, das du ein bisschen paranoid bist – weil tatsächlich jeder hinter dir her ist. Aber ich bin sicher wir können darüber wie Erwachsene reden. Möchtest du nicht rauskommen?"
Stille. Dann... flusch.
„Jetzt bist du kindisch. Wenn du rauskommst können wir das wie rationale Erwachsene diskutieren und einen Schlachtplan entwickeln. Und – weißt du, Duo, es ist ziemlich schwierig diese Diskussion mit einer Badezimmertür zu führen."
Stille.
„Duo? Wenn du rauskommst kauf ich dir noch ein Roastbeef."
Stille.
„Duo?"
‚Verfluchter Mistkerl!' Heero hob ein Bein und trat gegen die Tür. Das schwache Schloss zerbrach sofort und die Tür schwang auf.
In einen leeren Raum.
