Kapitel 3
Duo gluckste leise, als er die Schiebetüren zum Balkon öffnete Was für ein Glück das die Suite – durch das Badezimmer – mit einem anderen Zimmer verbunden war! Und was für ein Glück dass Heero das scheinbar nicht gewusst hatte. Es war geradezu ein Kinderspiel gewesen das Schloß zu knacken. Er hatte sich als Kind oft genug an Fahrradschlössern versucht, und dieses hier war nur unwesentlich komplizierter gewesen.
Aber was nun? Er konnte nicht zurück nach unten in die Lobby gehen. Heero würde ihn dort abfangen können. Der Kerl sah aus als wäre er ganz gut in Form. Er fühlte sich auf jeden Fall so an, mit all den Muskeln. Viel schlimmer noch, Duo hatte keine Ahnung, wo seine eigentlichen Verfolger abgeblieben waren. Soweit er wusste könnten diese genauso gut in der Lobby auf ihn warten.
Wenn er nur in das Skyway-System gelangen könnte, dann könnte er alle abhängen. Die Skyways waren Brücken, die zwischen verschiedenen Gebäuden verliefen, sie zogen sich durch das gesamte Geschäftsviertel von Minneapolis und er könnte so etwas Abstand gewinnen und endlich nachdenken – zum ersten Mal seit Stunden wirklich nachdenken; über seine verflixte Lage, was er tun und wo er hingehen sollte.
‚Ok.' Duo sah vom Balkon hinunter auf die Straße. Yup. Da war einer.
‚Duo, du bist verrückt.'
„Schweig still, innere Stimme," murmelte er. Irrsinn war das Motto des Tages, das war mal sicher.
Stumm dankte er seinen Eltern dafür, dass sie ihm geraten hatten außer Karate und Aikido auch noch Gymnastikstunden zu nehmen und kletterte über die Brüstung. Der Skyway war höchstens fünf Meter unter und nur ein bis zwei Meter rechts von ihm. Er konnte es tun. Er war in hervorragender Form und es war absolut möglich, einen Sturz aus dieser Höhe zu überleben. Die Leute taten es die ganze Zeit.
Außerdem, die Alternative war undenkbar.
Heero war großartig. Heero war ein unglaublicher Küsser, und Heero war verdammt noch mal der Feind. Duo wollte ihm so gerne glauben, ihm vertrauen, und das machte diesen sehr viel gefährlicher als J. Zumindest WUSSTE er das J nichts Gutes bedeutete. Bei Heero hatte er nicht die geringste Idee. Und er war zu sehr damit beschäftigt auf dessen Mund zu starren um es herauszufinden
Warum hatte Heero die National Security Agency wohl verlassen? Hatte er es freiwillig getan, oder wurde er gar gefeuert? Er war furchtbar jung – 29 wenn sein Führerschein recht hatte – um sich zurückzuziehen und ins Privatdetektiv-geschäft zu gehen. Was tat er hier in der Stadt? Und wie hatte er ihn so schnell erkennen können?
Nein, es war wirklich das beste so schnell wie möglich von Heero wegzukommen. Vor allem von dessen Händen und seinem Mund.
Duo ließ seine Hände an den Stangen des Balkongeländers hinabgleiten – Gott sei Dank war es Herbst statt Winter! Er baumelte einen Moment und kratzte all seinen Mut zusammen. Dann begann er seinen Körper hin und her zu schwingen, um möglichst viel Schwung zu bekommen. Am Höhepunkt seines Auswärtsschwungs ließ er das Geländer los und warf sich nach rechts.
Er fiel. Und fiel. Und traf das Dach des Skyways... und schlitterte über die Kante. Er griff wild um sich und bekam die Kante so gerade noch zu fassen bevor er ganz hinunterfiel.
„Verdammter Mist!"
Duo blickte auf, während er an der Kante baumelte. Seine Hände schrien vor Schmerz und seine Handgelenke fühlten sich an wie Holzblöcke. Heero-der-Stalker stand auf dem Balkon und starrte auf ihn hinab. Seine Augen waren riesig.
‚Nun, ich werde nicht nach Hilfe schreien wie irgendein Verlierer. Ich werde hier einfach nur für eine Minute rumhängen, dann schwinge ich ein Bein hoch und bin so gut wie verschwunden und dann werde ich –'
„Heeeeeeerooooo!"
„Halt dich fest!" rief Heero nach unten. Dann verschwand er.
‚Der Mistkerl! Man kann sich echt drauf verlassen, das die NSA genau dann verschwindet, wenn man sie mal braucht! So verdammt typisch! So –'
Plötzlich erschien Heero wieder, und wenn Duo auch nur geblinzelt hätte, dann hätte er es verpaßt. Heero war offensichtlich zurückgetreten um genug Anlauf nehmen zu können, dann sprang er hoch – und über die Balkonbrüstung! Sein Bewegungsmoment trug ihn bis zum Skyway. Für einen Moment sah er aus wie eine riesige, anzugtragende Fledermaus. Dann landete er mit einem schweren Plumps in der Mitte des Dachs.
Der Mistkerl ließ das ganze so verdammt einfach aussehen.
Duos linke Hand verkrampfte sich und ließ los, und plötzlich war seine rechte Hand ganz allein dafür verantwortlich, seinen 75-Kilo-Körper am Dach hängen zu lassen, statt über die gesamte Second Street verteilt zu sein. Er kreischte –
– und auf einmal war Heero da, kniete vor Duo und schloß seine Hände um Duos rechtes Handgelenk.
Duo konnte ihn kaum sehen. Verdammter Wind, er ließ seine Augen tränen. Als ob er im Moment nicht schon genug Probleme hätte! „Laß ja nicht los," sagte er, „Ich werde ganz schön angepisst sein, wenn du mich jetzt loslässt!"
„Ich hab dich, Schatz. Aber du mußt die Kante loslassen damit ich dich hochziehen kann."
Duo versuchte es. Aber es war nutzlos... seine Finger waren zu einer unbeweglichen Faust verkrampft. Heero ließ ihn mit einer Hand los und löste Duos Finger sanft von der Kante. Zumindest nahm Duo an, dass Heero das tat. Er konnte seine Berührung nicht spüren. Vielleicht versuchte er ja auch nur, seine Brieftasche zurückzubekommen.
Nach einem ewig lang erscheinenden Augenblick stand Heero auf und zog Duo so einfach zu ihm hoch wie eine Mutter ihr Kind hochheben würde.
„Du verdammter Idiot," sagte er und umarmte Duo so fest das er kaum atmen konnte.
„Uff! Mann, laß mich wenigstens Luft holen."
„Ich sollte dich einfach von diesem Dach werfen. Einfach. Da runter."
„Ganz ruhig, du brichst mir gleich eine Rippe."
„Ich sollte dir den SCHÄDEL brechen, du dummer, dummer Idiot." Heeros Stimme klang rauh, aber er strich Duo ganz sanft ein paar Strähnen aus den Augen. „Was zur Hölle hast du dir denn bloß dabei gedacht?"
„Das es im Hotelzimmer zu stickig war und ich etwas frische Luft gebraucht hab," sagte Duo mit todernstem Gesicht, mußte aber doch grinsen, als Heero ungewollt lachte.
„Nun, Mr. Neunmalklug, wie war dein Plan von diesem Dach runterzukommen?"
„Naja, es gibt meistens Leitern –"
„Diesmal nicht."
„Kein Grund so selbstgefällig zu klingen," murmelte Duo, dann zeigte er zu den großen Fenstern des Bürogebäudes das durch den Skyway mit dem Hotel verbunden war. Die Fenster waren zwei Meter hoch und leicht zu erreichen. Außerdem war es Samstag. Das Gebäude war höchstwahrscheinlich völlig leer.
„Und wenn eine Alarmanlage losgeht, sobald du das Fenster einschlägst?"
„Unwahrscheinlich, vor allem in dieser Nachbarschaft. Wenn irgendwas mit einer Alarmanlage gesichert ist, dann höchstens die Eingangstür, nicht die Fenster im zweiten Stock." Duo blickte nach unten, als ein Auto nach ihnen hupte. „Nun, wir haben glaub ich genug Aufmerksamkeit erregt. Ich bin hier weg. Bye."
„Nicht ohne mich," sagte Heero bestimmt und folgte Duo auf dem Fuße zu den Fenstern.
„Wenn du mitkommst dann macht es irgendwie den Grund zunichte, warum ich überhaupt erst geflüchtet bin," sagte Duo und schlug das Fenster mit einem Schlag seines Ellbogens ein.
„Zumindest trägst du ein langärmliches Sweatshirt," sagte Heero missbilligend. „Und was das Zunichtemachen deiner Gründe angeht, nichts interessiert mich weniger. Wir haben eine Unterhaltung zu beenden."
„Ja, ja." Duo griff hinein, fand den Griff, öffnete das Fenster und betrat, das zerbrochene Glas am Boden umgehend, vorsichtig das Gebäude. Er stand dort für einen langen Moment und lauschte.
Nichts. Keine Lichter, außer der Computer-Bildschirmschoner. Die Räume waren ruhig, diese ganz bestimmte Ruhe die von einem leeren Stockwerk herrührt. Das Gebäude konnte natürlich mit einem stillen Alarm gesichert sein, aber betrachtete man die allgemeine Schäbigkeit der Büros und der Einrichtung, dann bezweifelte Duo es doch sehr.
Er drehte sich gerade rechtzeitig herum, um Heero ebenfalls hereinsteigen zu sehen. Dann nahm dieser ihn wieder in die Arme und küßte ihn so heftig, das Duo dachte seine Lippen würden taub werden.
„Mmmmhhh," sagte Heero nach einer langen Minute.
„Mmmmhhh? Das ist alles?"
„Du schmeckst nach Erdbeeren. Ich liebe es. Außerdem schuldest du mir dein Leben."
„Also ich denke, ich hätte es wahrscheinlich auch selbst geschafft –"
„Du schuldest mir dein Leben," wiederholte Heero bestimmt und senkte Duo auf den Teppich hinab.
