Kapitel 6
Duo beobachtete die Straße. Er hatte einen perfekten Ausblick – die Bibliothek war genau gegenüber des Grand Hotels. Das prächtige neue Gebäude hatte wunderschöne große Fenster. Er konnte alles sehen, was draußen vorging, und falls er entdeckt werden sollte, hätte er genügend Zeit um zu entkommen, bevor seine Verfolger den zweiten Stock – auf dem er sich gegenwärtig aufhielt – erreichen konnten.
Duo hatte Trowa Bartons Auto sofort entdeckt, als er aus dem Fenster geschaut hatte –zum Glück gab es Hinterausgänge und Hintereingänge! – und wartete nun, wohin sein Verfolger gehen würde.
Bartons Auto zu sehen hatte ihm einen unangenehmen Schock versetzt, fast genauso schlimm wie der, den er hatte, als er dessen Stimme am Telefon gehört hatte.
Der Anblick brachte alles zurück. Wie absolut dumm er gewesen war, und wie schwach. Seine Mitarbeiterin, Laurie, las mindestens fünfzehn Liebesromane im Monat, und sie hatte ihm einmal erzählt, das es eine Phrase gab, die Leser benutzten um Heldinnen zu beschreiben, die schwachsinnige Dinge taten.
„Z.B.Z.L., genau das bin ich," seufzte Duo und lehnte seinen Kopf an das Fenster.
„Zu blöd zum Leben," sagte die Frau am Nebentisch abwesend, ihre Nase in 'Flammender Zorn der Liebe' vergraben. Das Cover war absolut typisch – eine halbnackte Frau halb ohnmächtig in den starken Armen des Helden versunken. Duo schnaubte.
Trotz des schlimmen Tages – der schlimmen Woche! – die Duo gehabt hatte, musste er ein Lachen unterdrücken. Zu blöd zum Leben, das passte wie die Faust aufs Auge. Und, durch einen der seltsamen Zufälle, die das Leben so liebte, stand er auch noch genau neben der Liebesroman-Abteilung. „Genau," sagte er und beobachtete weiter die Straße.
Er sah Heero durch die Türen des Grand Hotels stürmen und dabei beinahe den überraschten Türsteher umrennen. Sofort sprang Barton aus dem Auto und lief auf Heero zu. Die beiden Männer prallten wie zwei Naturgewalten aufeinander, Brust an Brust und Nase an Nase, die Arme wild umherschlagend. Es war warm in der Bücherei, aber trotz der Temperatur musste Duo über seine Arme reiben, um die plötzlich entstandene Gänsehaut auf seinen Armen zu vertreiben.
Es war ja nicht so das Trowa Barton ein herzloser Bösewicht war. Sein Gewissen besaß nur eine enorme Dehnbarkeit. Von dem Moment als Bartons Bewerbung seinen Schreibtisch erreichte war Duo dagegen gewesen, ihn einzustellen. Und wurde von Dr. j überstimmt, eines der wenigen Male überhaupt in seiner Karriere.
„Er hat ein Vorstrafenregister," hatte Duo bestimmt schon zum fünften Mal gesagt. Er hatte mit dem Fax, das er gerade vom Stillwater Staatsgefängnis bekommen hatte, mehrmals auf den Tisch getippt. „Mehrere Anzeigen wegen tätlichen Angriffs. Der Kerl kann einfach nicht an einer Bar vorübergehen, ohne sich zu betrinken und eine Schlägerei anzufangen, Himmel nochmal!"
„Gut," hatte Jekell abwesend geantwortet und dabei nicht einmal von seinen Papieren aufgesehen. „Dann weiß er ja wie Gauner denken."
„Er ist eine Schlange."
„Mm-hmm."
„Er würde alles tun, wenn nur der Preis stimmt," fügte Duo hinzu.
„Hey, Blondie –"
„Ich bin nicht blond, Dr. Jekell." ‚Und wenn Sie jemals irgendwo anders hingestarrt hätten als auf meinen Hintern,' dachte Duo, ‚dann wüssten Sie das auch.'
„– ich bin schon überzeugt. Sie müssen mich nicht weiter bearbeiten. Stellen Sie ihn endlich ein. Und dann gehen Sie."
„Sie haben MICH eingestellt," sagte Duo und versuchte es noch einmal, „um für die Sicherheit Ihrer Firma zu sorgen. Ich denke nicht das es schlau ist, Trowa Barton Zugang zu all unseren –"
„Auf Wiedersehen."
Weggeschickt. Und so hatte Duo ihn eingestellt. Trotz aller Zweifel hatte sich Trowa dennoch als guter Angestellter herausgestellt. Erschreckend gut, genauer gesagt. Es spielte keine Rolle, über wen sie Informationen brauchten, Barton konnte sie immer liefern.
Es hatte wahrscheinlich eine Menge mit seinem Erscheinungsbild zu tun – fast zwei Meter groß und ungefähr 100 Kilo schwer – und nichts davon Fett. Er hatte braunes Haar, das ihm über ein Auge hing, und kalte grüne Augen. Zumindest ein kaltes grünes Auge. Was genau sich unter dem absurd langen Pony befand, hatte noch niemals jemand gesehen oder lang genug überlebt um davon zu berichten. Wenn er seine Fäuste ballte sahen sie aus wie Bowling Kugeln. Wenn er jemanden anstarrte, dann überschlug sich derjenige geradezu Barton zu geben, was auch immer dieser wollte.
Außerdem war er auch schlau. Schlimmer noch, er war hartnäckig – Dr. J's persönlicher Pitbull. Wenn er sich erstmal in irgendwas verbissen hatte, ließ er so schnell nicht wieder los. Duo dachte er wäre eine Schlange, aber er hatte niemals bestritten, dass Barton eine Art wilde Anziehungskraft besaß.
Es war geradezu ironisch – Duo hatte sich gesträubt einen Ex-Sträfling einzustellen, und nun war ER der Dieb, während Trowa Angestellter des Monats war.
Zu wissen das J Trowa darauf angesetzt hatte, ihn zu fangen, war erschreckend. Zu wissen das Barton und Heero seine Gefangennahme koordinierten war geradezu angsteinflößend. Es konnte wirklich nicht –
Oh, Moment, was war das? Barton und Heero fingen gerade an sich gegenseitig rumzuschubsen – mitten in der Seventh Street! Wahrscheinlich stritten sie sich darüber, mit welcher Schleife sie Duo versehen wollten, bevor sie ihn wie ein Geschenk verpackt zu J schleifen wollten. Und da – yup, Heero schlug als erster zu, ein schön weit ausgeholter Schwinger, der wahrscheinlich durch die Luft gepfiffen war.
Duo starrte, mit offenem Mund, als die Schubserei zu einer richtigen, offenen Prügelei auswuchs, die Sorte von Prügelei die man normalerweise nur in Bars oder bei Familientreffen zu sehen bekam. Die Kinofilme ließen Faustkämpfe normal wirken, sogar heldenhaft. Die Wirklichkeit war weit davon entfernt – es war beileibe nicht lustig wenn die Kämpfer zwei starke, junge Männer waren. Menschen wurden getötet auf diese Art.
Passanten blieben stehen um zuzusehen, aber niemand mischte sich ein. Sehr weise, denn im richtigen Leben landete die Person, die versuchte eine Prügelei zu beenden normalerweise direkt in der Notaufnahme.
Barton steckte den Schlag ein, taumelte zurück, erholte sich in erstaunlicher Geschwindigkeit und rammte sein Knie direkt in Heeros Schritt.
Duo war nicht sicher, ob er aus Mitgefühl stöhnen, laut jubeln oder nach unten rennen sollte, um den Kampf zu beenden, bevor sich irgendjemand seinen dicken, dummen Schädel einschlug. Einerseits genoss er es, zu sehen wie Heero durch die Gegend geschubst wurde. Andererseits hasste er es, zu sehen wie Heero durch die Gegend geschubst wurde.
Nein. Er hatte heute schon genügend Fehler gemacht, so viele das es für ein ganzes Leben reichte. Heero war auf sich allein gestellt – und sollte er verlieren, so würde Duo nicht eine Träne vergießen. Ganz sicher nicht. Er hatte es schließlich nicht besser verdient.
Genug aus dem Fenster gestarrt. Es war Zeit endlich an die Arbeit zu gehen.
Duo nahm die Treppe in den ersten Stock, schnappte sich den ersten Bibliothekar den er sah und sagte, „Ich bin ein Junkie; ich brauche meinen Stoff."
Der Bibliothekar, ein großer, kahl werdender Mann mit sandfarbenem Haar lächelte ihn an und kleine Lachfältchen bildeten sich in seinen Augenwinkeln. „Ich habe das selbe Problem," sagte er freundlich. „Dritter Stock, in der Nähe der Fenster am Ostende des Gebäudes."
Ein paar Minuten später loggte Duo sich auch schon in einen der öffentlichen Computer ein und lud seine Emails herunter. Er überflog die Spam-Mails – Finanzieren Sie sich ihr Zuhause mit Null Prozent Zinsen! – und die Porno-Mails – Jenna will dich vollkommen aussaugen, großer Junge! – und verlangsamte seine Scrollgeschwindigkeit um die Mails zu lesen, die von der Arbeit kamen. Vielleicht hatte irgendjemand irgendwelche Informationen, irgendeinen Hinweise, so dass er –
‚Oh. Oh nein.'
Von: Anodyne IT Services
)
An: Duo „Loser" Maxwell
)
Datum: Mittwoch, 15. Oktober 2004
Betreff: Diebischer Scheißkerl
Warum gibst du es nicht einfach zurück, du diebischer Scheißkerl? Es gehört dir sowieso nicht.
Von: Anonym
An: Duo Maxwell
Datum: Mittwoch, 15. Oktober 2004
Betreff: Stirb endlich
Du hast wirklich Nerven, und wenn du mich fragst solltest du dich besser nie wieder hier blicken lassen, es sei denn um dich zu entschuldigen und um Vergebung zu flehen. Dir ist egal was mit anderen geschieht, du denkst nur an dich selbst.
Von: Anonym
An: Duo Maxwell
Datum: Donnerstag, 16. Oktober 2004
Betreff: Danke für gar nichts
Na klasse, ich wollte gerade meine Aktien zu Geld machen aber ich denke, das wird jetzt wohl nicht mehr gehen weil DU EIN VERFLUCHTER DIEB BIST UND ICH HOFFE DU FÄLLST TOT UM.
Duo kaute auf seiner Unterlippe und ignorierte den Impuls, die Mails zu beantworten und alles zu erklären. Erstens einmal hatte er dazu keine Zeit. Zweitens, wie konnte er es erklären, wenn er selbst nicht so genau wusste, was passiert war?
Er überflog ein paar weitere beunruhigende Betreffzeilen – Erstick und stirb; Du bist ein Arsch; Das gesamte IT-Department haßt dich; Wir haben das FBI informiert und hoffen, du wirst für immer überwacht – und wunderte sich nebenbei, welcher seiner ach so hilfreichen Mitarbeiter wohl seine private Email Adresse ausgegeben hatte. Die Personalabteilung wahrscheinlich. Er hatte niemals einen verstohleneren Haufen gekannt... die waren hinterhältiger als Hyänen.
Von: Dorothy Catalonia, FDA
An: Duo Maxwell
Datum: Freitag, 17. Oktober 2004
Betreff: Lassen Sie uns helfen
Mr. Maxwell, Sie kennen mich nicht. Ich arbeite für die Food and Drug Administration, und wir wissen, dass Sie eine harte Woche haben. Wir würden uns wirklich gerne mit Ihnen treffen, wann immer es Ihnen recht ist. Ich versichere Ihnen absolute Diskretion. Bitte rufen Sie mich jederzeit an: 612-302-9313
Mit freundlichen Grüßen,
Dorothy Catalonia, Neue Produkte
Duo starrte auf den Bildschirm. „Guter Gott!" schrie er geradezu, „Es ist die FDA!" Als ob das Sicherheitsteam, Trowa Barton, Dr. J und die NSA nicht schon schlimm genug wären!
Er wusste natürlich, was da dahinter steckte. Die FDA hatte PaceIC nicht, und sie würden es nur zu gerne in die Finger bekommen. Die Frage war jetzt, was sollte er deswegen unternehmen?
