Kapitel 7

Die Filiale der Food and Drug Administration von Minneapolis befand sich, ironischerweise, in einem Gebäude in der Lake Street, das früher mal eine Eisdiele gewesen war und zumindest dessen Eingangshalle wirkte auch immer noch so. In dem Moment als er durch den Vordereingang trat, mußte Duo den heftigen Drang niederkämpfen, sich einen Bananensplit zu bestellen.

„Ich würde gern mit Dorothy Catalonia sprechen," sagte er zu der Rezeptionistin, die an einem Schreibtisch hinter der roten Ladentheke saß. „Und außerdem hätte ich gerne ein großes, schokoladenüberzogenes Softeis."

Die Rezeptionistin, die die Wangenknochen einer ägyptischen Königin besaß und nicht eine Minute älter als zwanzig aussah, rollte mit den Augen. „Danke. Weil, diesen Spruch krieg ich so gut wie nie zu hören."

„Tschuldigung. Sie müssen aber zugeben, daß das schon ein ziemlich seltsamer Ort für ein Büro ist."

„Ich gebe hier gar nichts zu. Außerdem ziehen wir sowieso nächste Woche in unser neues Bürogebäude um. Haben Sie einen Termin?"

„Nein, aber sie hat gesagt, sie würde mich sehen wann immer ich wollte."

„In Ordnung." Sie hob ihren Hörer ab, drückte einen Knopf und wartete einen Moment. Duo versteifte sich und stellte sich vor, wie eine Horde von FDA-Schlägern gleich durch eines der Fenster springen und ihn zu Boden werfen würde. Das einzige was jedoch passierte war das eine der Kühltruhen sich mit einem laut hörbaren Klick anschaltete.

„Dorothy, da ist Kerl hier draußen um dich zu sehen." Sie sah zu Duo auf und flüsterte, „Name?"

„Sagen Sie ihr, ich wäre das verlorene Schaf von Anodyne."

„Er sagt er ist das verlorene Schaf von Anodyne... ah-hah... ja... nein, das ist nicht wieder einer meiner dummen Scherze. Das ist genau das was er gesagt hat. Hallo? Dorothy?" Sie legte auf und schenkte Duo ein großes, falsches Grinsen. „Sie wird gleich hier sein."

‚So wie meine Woche bisher verlaufen ist bringt sie wahrscheinlich Handschellen mit.'

Duo wanderte rüber zur leeren Gefriertruhe und versuchte seinen knurrenden Magen zu ignorieren. Er hatte schon nicht mehr gegessen seit – wann? Er mußte darüber einen Moment lang nachdenken. Zimmerservice in Heeros Hotelzimmer. Und davor, Mittagessen im Restaurant mit dem verräterischen Mistkerl.

Oh, aber es tat zu weh darüber nachzudenken. Es tat mehr weh, als er es jemals für möglich gehalten hätte. Er hätte nie gedacht, das eine völlig gesunde Person solche Schmerzen verspüren konnte.

‚Hör auf dich selbst zu bemitleiden. Du wirst schon darüber hinwegkommen. Irgendwann.'

Genau. Guter Rat. Hervorragender Rat sogar, und er hatte vor, sich sofort daran zu halten. Genug geflennt. Zeit sein Leben endlich wieder in die Hand zu nehmen! Zeit –

„Entschuldigung? Mister?"

Er zuckte zusammen und sah sich um. „Sorry. Aber Sie müssen schon lauter sprechen wenn sie die Stimme in meinem Kopf übertönen möchten."

„Gut zu wissen," sagte die Frau trocken. Sie streckte eine Hand aus. „Dorothy Catalonia. Und ich hoffe sehr das Sie Duo Maxwell sind."

„Bin ich. Nett Sie kennenzulernen."

Catalonia war eine Überraschung. Duo hatte eine typische Bürokratin erwartet, in langweiliges braun gekleidet. Große, dicke Brille vielleicht und eine Menge Tweed. Haar in einen strengen Knoten zusammengefaßt. Natürlich kein Make-up.

Stattdessen sah Dorothy Catalonia aus wie eine frühere Schönheitskönigin. Ihr Haar war lang, bis zu ihren Hüften, und vollkommen blond – die Farbe eines Weizenfelds. Ihre Haut war so klar und rein, das sie fast wie Alabaster aussah, und ihre Farben passten so gut zu ihrer Haarfarbe, das Duo sofort wußte, die erstaunliche Blondschattierung war echt. Ihre Augen waren groß, professionell geschminkt und so blau wie der Himmel an einem wolkenlosen Sommertag. Ihre Lippen waren dünn, aber hervorragend umrandet und mit einem Knallrot ausgefüllt, das ihre Haut noch blasser und ihre Augen noch blauer wirken ließ. Sie trug blaue Jeans und eine Bluse in der exakten Farbe ihrer Augen. Ihre offenen Sandalen zeigten eine perfekte Pediküre.

‚Was für ein Glück das ich heute wenigstens duschen konnte, oder ich könnte dieser Frau nicht gegenübertreten. Ich fühl mich auch so schon wie Quasimodo.'

„Sollen wir in mein Büro gehen?"

„Äh, klar." Duo konnte es nicht verhindern; er warf einen schnellen Blick über seine Schulter als sie gingen.

„Es ist alles in Ordnung," sagte Dorothy, die offenbar seine Gedanken gelesen hatte. „Ich hab es niemandem erzählt das ich Ihnen geschrieben habe. Und da Sie mir nicht gesagt haben, das Sie kommen..."

„Da draußen sind wirklich eine Menge Leute hinter mir her, wissen Sie? Ich bin schließlich nicht paranoid." Allein den Gedanken ausgesprochen zu hören ließ Duo kichern. Wer hatte gesagt, Paranoia sei perfekte Aufmerksamkeit? Er würde das mal nachschlagen müssen.

Dorothy lächelte. „Nein, Sie sind nicht paranoid. Sie wären erstaunt über die Geschichten die ich schon gehört habe. Und, um ehrlich zu sein, ich kann es kaum erwarten, Ihre zu hören."

„Yeah, es ist eine echt komische Geschichte, wirklich." Er folgte Dorothy in ein fensterloses Büro und setzte sich auf den angebotenen Stuhl. „Aber bevor ich die hier – schon wieder – vor jemandem auspacke, könnten Sie vielleicht damit anfangen, daß Sie mir erzählen, woher Sie überhaupt von mir wußten."

Dorothy setzte sich hinter ihren Schreibtisch. „Das ist nur fair. Ist Ihnen das Gesetz zur Modernisierung der Food and Drug Administration bekannt?"

„Äh, nein, kann ich nicht behaupten."

„Lassen Sie uns dann damit beginnen."

‚Oh klasse. Ein Vortrag über Bundeslegislative.' Duo widerstand dem Impuls augenblicklich etwas Schlaf nachzuholen als Dorothy anfing zu reden.

„Vor einigen Jahren verabschiedete der Kongreß das ursprüngliche Gesetz, das sich auf die Regulation von Lebensmitteln, Medikamenten, Bioprodukten und solchen Sachen bezog, weil sie wußten, daß wir im 21. Jahrhundert mit einer Menge neuartiger Dinge konfrontiert würden. Sie wissen wahrscheinlich, das 90 Prozent aller großen Neuerungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden, richtig?"

Duo wußte das nicht, nickte aber trotzdem und unterdrückte ein Gähnen.

„Nun, es ist die Wahrheit."

„Super."

„Das ist sogar noch untertrieben."

„Natürlich."

„Und dieses Jahrhundert wird sogar noch erstaunlicher werden als das letzte," fuhr Dorothy mit erschreckendem Enthusiasmus fort. „Der Kongreß weiß das und hat uns darauf so gut sie können vorbereitet."

„Das ist so faszinierend. Wirklich. Aber, ähm, was hat das mit Anodyne zu tun?"

Dorothy lächelte ein umwerfendes wenn-ich-Miss-America-werde-werde-ich-den-Hunger-der-Welt-bekämpfen Lächeln. „Dazu komme ich gleich. Im Grunde besagt das neue Gesetz, das die FDA jetzt ein bisschen mehr die Initiative ergreifen darf. Statt darauf zu warten, das die Firmen zu uns kommen –"

„Könnt ihr spionieren."

„Ein bißchen. Was uns zu Ihnen bringt. Und PaceIC."

„Aber wie habt ihr überhaupt etwas darüber rausgefunden?"

„Per Gesetz ist Anodyne verpflichtet PaceIC bei uns einzureichen bevor sie mit der Entwicklung beginnen. Daher wußten wir davon, und wie Sie sich sicherlich vorstellen können, waren wir sehr aufgeregt und konnten es kaum noch erwarten, es endlich zu überprüfen und für den Markt freizugeben. Können Sie sich all die Möglichkeiten vorstellen?"

„Yeah, wir alle – ich meine, alle bei Anodyne waren ziemlich aufgeregt als Dr. Chang gesagt hat, das er fast fertig ist."

„Richtig. Fast fertig. Dann ist PaceIC auf einmal verschwunden. Niemand sprach mehr darüber, und die Anträge wurden in unseren Filialen in Maryland offiziell zurückgezogen. Als ich nachgefragt habe, hat Dr. Jekell behauptet, sie wären auf Schwierigkeiten gestoßen und die Vervollständigung von PaceIC würde noch Jahre dauern."

„Aber das ist nicht – ok, nun, ich weiß daß das Schwachsinn ist, weil ich da arbeite, aber woher haben SIE es gewußt?"

Das Lächeln verschwand von ihrem Gesicht und sie lehnte sich vor. „Ich bin mit Wufei Chang zur Schule gegangen. Er war der einzige Vierzehnjährige in meinem Zweitsemester Chemie Kurs für Fortgeschrittene am College. Ich kenne ihn. Da er daran arbeitete, wusste ich, daß das Problem nicht beim Design oder der Herstellung lag. Das ist einfach nicht möglich. Was für irgendjemand große Probleme bedeutete, aber ich wußte nicht genau, für wen. Im Grunde –"

„Haben Sie gemerkt, dass da etwas stinkt."

„Genau."

„Ok, das seh ich ja alles ein." Duo verlagerte sein Gewicht. Diese verdammten Stühle waren ungefähr so bequem wie ein spitzer Stein. „Aber wissen Sie, ich versuche hier immer noch alles auf die Reihe zu kriegen. Woher wußten Sie, das ich PaceIC hatte? Nichtmal ICH hab es von Anfang an gewußt."

„Es tut mir leid, aber das ist streng vertraulich."

‚Ich bin mit Wufei Chang zur Schule gegangen.'
‚Es tut mir leid, aber das ist streng vertraulich.'

Duo blinzelte langsam. „Richtig. Schon kapiert. Ok. Und was jetzt?"

„Jetzt," sagte Heero von der Türe, „hören wir uns den Rat dieser jungen Dame an, wohin wir PaceIC bringen sollen. Und dann tun wir es."