4. Tag: Aussprache
Gähnend streckte Rae die Hand nach der Tür des Speisesaales aus. Sie war spät dran, da sie sich mit Ellie verquatscht hatte, die schon gegessen hatte. Sie hob den Kopf und musterte die Schlange vor der Essensausgabe.
War es Zufall, dass Spock sich in diesem Moment umdrehte? Ihre Blicke trafen sich, hielten einander einen Augenblick fest. Dann unterbrach Rae den Blickkontakt und sah zu Boden. Ihr Herz hämmerte wie eine Trommel.
Oh Gott. Der kann gucken. Warum ist mir das früher nie aufgefallen? Und diese dunklen Augen...
Sie holte sich ein Tablett, eines der letzten und reihte sich ein.
Hinter ihr betrat Deanna den Saal. "Wow. So spät war ich noch nie dran. Haste gut geschlafen?"
"Jepp. Du auch?"
Sie folgte aus den Augenwinkeln Spock der sich jetzt an einen Tisch setzte.
"Kann nicht klagen. Nur meine Matratze ist ein bisschen durch gelegen."
Rae lachte. "Solange du keine anderen Probleme hast."
"Stimmt", meinte Deanna in aller Seelenruhe. "Wie war die Wanderung gestern?"
"Cool", kam die prompte Antwort.
"Echt? Naja." Sie beugte sich näher zu ihrer Freundin und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Stirnrunzelnd sah Rae Deanna an. "Lass ihn doch gucken, Dee."
"Der guckt auch wieder weg, oder was meinste?"
"Jepp." Rae füllte sich eine Schüssel mit Müsli und wartete auf Deanna. Aus den Augenwinkeln heraus konnte sie sehen, das Deanna Recht gehabt hatte.
Komm schon, Spock. Wenn du was von mir willst, dann musst du es schon sagen. Dieser Blick von dir ist ja wohl eindeutig genug.
Sie hielt kurz Deannas Tablett fest, als diese sich Kaffee aus der Thermoskanne schüttete.
"Puh. Kaffee. Nicht mein Ding."
"Soll es ja auch nicht sein. Ich bin bloß..." Sie gähnte hingebungsvoll. "...hundemüde."
"Wie lange warste denn noch auf?"
"Ich hab so gut wie durchgemacht."
"Lass mich raten. In Zimmer 10. War ja kaum zu überhören."
"Stimmt. Aber du hast anscheinend nicht gehört, wie ich um 5 Uhr rein gekommen bin."
"Also um 5 ab ich dann doch schon geschlafen."
"Wann seit ihr denn ins Bett?", fragte Deanna und biss ins Toast.
Rae zuckte mit den Achseln. "So gegen 4.30, schätze ich. Hab nicht auf die Uhr gesehen."
"Mädchen! Dafür siehste aber blendend aus. Wie viel Make-up haste gebraucht?"
"Keins. Du weißt doch, dass ich mich nicht schminke."
"Stimmt. Aber was war das gestern?"
"Das war gezwungen!"
"Auch wieder wahr." Zwei Nachzügler kamen herein gewankt.
"Man sieht wo die waren. Zimmer 10. Die ganze Nacht."
Steve und Josh hatten in der Tat ein Problem, die Augen aufzuhalten. Deanna grinste. "Ey. Ihr seht toll aus. Wie ausgequetscht."
"Danke, Dee." Josh winkte müde ab.
"Was machen wir heute eigentlich?" "Rae ist nicht auf dem neuesten Stand. Wir fahren doch heute nach Granville Island und Stanley Park."
"Ach ja. Stimmt."
Eine halbe Stunde später trommelten die Lehrer zur Abfahrt. Es ging quer über die Brücke des False Creek und dann war man auch schon da. Die Schüler sprangen aus dem Bus.
"Hat jemand Lust, nachher noch ins Vancouver Museum ...." Weiter kam er nicht, denn ein Protestgeschrei schnitt ihm das Wort ab. "Okay. War auch bloß ne Frage."
Mr Rush grinste. "Keine Bange, wir hatten das nicht wirklich vor. Es bestand nur die Notwendigkeit, auch die letzten von euch wach zu bekommen."
Er blinzelte zu Josh hinüber, der schon viel wacher aussah. Dann ging es los. Mit Führung. Was die meisten nicht so toll fanden, da man nur zuhören musste. Deshalb schalteten die meisten nach wenigen Minuten in den Leerlauf oder unterhielten sich leise mit Freunden.
Dann starteten die Lehrer so etwas wie eine Rallye. Bäume, Blumen, Bäche und Tiere mussten gefunden und bestimmt werden. Das machte Spaß und vor allem konnte man dabei was auf eigene Faust machen. Zwar wäre einigen eine Stadtrallye noch lieber gewesen, aber da hatten die Lehrer nicht mitgemacht. Alle gerieten bei der Hin- und Herlauferei außer Puste.
"Weißte was, Dee? Ich glaube, das machen die Lehrer, damit wir heute nacht nicht wieder durchmachen. Wir werden zu kaputt sein, wenn das so weitergeht."
"Richtig, schnauf, Rae keuch, das ist hechel fies von den prust Lehrern."
Rae grinste und bückte sich nach einer Pflanze. "Hier ich hab sie."
"Gut. Aufmalen und dann fix zurück. Wir liegen keuch gut in der Zeit." Das taten sie wirklich. Sie lagen so gut drin, dass sie den zweiten Platz belegten. Die überraschten Sieger waren Alan und Kate.
"Mann, ihr Leisetreter! Das ist doch mal wieder typisch!"
"Cool down, Josh!" Alan lachte. Danach gingen alle wieder zum Bus und fuhren durch Vancouver zum Stanley Park.
"Boah!", sagte Tracy, als sie dran vorbei fuhren. Dann stiegen alle aus und sie wanderten über zwei Stunden durch den schön angelegten Park. Schließlich drängten die Lehrer mit entsetztem Blick auf die Uhr wieder einmal zum Aufbruch.
"Och", lautete die einhellige Meinung, "es ist doch so toll hier. Können wir nicht später zurück fahren?" Doch die Lehrer ließen sich nicht erweichen. "Um 18.30 Uhr gibt es Abendessen, und wir dürfen uns nicht verspäten, sonst bekommen wir nichts mehr." Das wirkte. Alle sprangen auf und liefen los, so dass Mr Rush und Mrs Hamilton kaum hinterher kamen.
Nach dem Abendessen war bunter Abend, das hieß, das jeder tun und lassen konnte was er wollte. Was anfangs zu komischen Vorschlägen wie "Jugendherberge mit Graffiti besprühen", "Lehrer schminken" und "Schwimmen im See" geführt hatte. Doch schließlich waren die Mißverständnisse aufgeklärt worden und jeder tat das, was er wollte.
Tracy, Rae und Deanna setzten sich vors Haus und redeten über Sachen die ihnen gerade in den Sinn kamen. Nebenbei sahen sie den Jungs zu, die sich ein spannendes Tischtennis- Match lieferten. Schließlich bekam Rae Durst, sie ging ins Haus um sich etwas zu trinken zu holen.
Munter spazierte sie den Gang in Richtung Zimmer entlang, wollte gerade die nächste Tür aufstoßen, als sie durch die kleine Glasscheibe in der Tür Spock sah. Leise kam sie auf ihn zu und legte schließlich eine Hand auf seine Schulter.
"Was ist los?", fragte sie.
"Ich hab nur nachgedacht", kam die Antwort.
Rae zuckte zusammen. Das war doch Wort für Wort dasselbe was sie gestern im Wald geredet hatten!
"Du siehst mir etwas zu betrübt aus um nur nachgedacht zu haben", meinte sie vorsichtig und drückte sanft seine Schulter.
"Was ist los? Heimweh?"
"Nein. Es ist nichts."
"Okay. Mehr als fragen kann ich nicht. Wenn du meinst, dass alles in Ordnung ist... ." Sie klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.
Spock wurde warm bei dieser kurzen Berührung. Sie wandte sich zum Gehen und zog die Karte für die Zimmertür aus der Hosentasche.
"Rae! Warte!" Rae blieb stehen und sah ihn an. "Ja?"
Spock hatte sich vom Fenster weg gedreht.
"Geh nicht weg." Rae steckte die Karte wieder fort und kam zurück.
"Also ist doch was", stellte sie nach einem kurzen Blick in sein Gesicht fest.
Spock nickte und wandte sich wieder zum Fenster zurück. Die Ellbogen stützte er auf das Fensterbrett. Rae lehnte sich in dieselbe Haltung neben ihn, sah ebenfalls hinaus.
"Hübscher Garten draußen", sie deutete mit dem Finger auf den Innenhof.
Spock nickte. "Ich war gestern unten. Ist wirklich toll da."
"Echt? Wusste gar nicht, das man da runter kann."
"Wenn man außen herum geht, schon. Bin ich aber auch mehr durch Zufall drauf gestoßen."
"Und im Notfall gibt's immer noch eins: Fenster auf und runter springen."
"Und hoch?"
Rae grinste. "Entweder nimmt man n Seil mit oder man klettert an den Rosenstöcken hoch."
Spock nickte. "Das ist eine Idee."
"Sogar noch nicht mal ne schlechte."
"Darf ich mal was fragen?" Spocks Stimme klang plötzlich vorsichtig.
"Na klar. Raus damit."
"Du und Josh. Was ist da?"
Rae starrte ihn mit kugelrunden Augen an. "Was soll denn da sein? Du willst mir ja wohl nicht anhängen, dass ich was mit meinem eigenen Bruder anfange, oder?"
Jetzt war es an Spock große Augen zu machen. "Dein Bruder? Oh, und ich dachte..." Seine Ohrspitzen waren grün geworden.
Rae grinste als sie das sah. "Jepp, mein Bruder."
"Das wusste ich nicht", murmelte er.
"Woher auch. Ich hab's dir ja auch nicht gesagt." "Wie viel älter ist er?"
Rae lachte. "Ganz genau drei Minuten."
"Wie bitte?"
"Zwillinge, Spock. Wir sind zweieiige Zwillinge."
"Oh", sagte er wieder. "Hast du eigentlich Geschwister?"
"Nein. Ich bin Einzelkind."
"Hat auch Vor- und Nachteile."
"Stimmt. Und was meinte deine Freundin mit 'echte liebe'?"
"Geschwisterliebe." Rae zuckte die Achseln. "Sonst nix."
Spock nickte beruhigt. In seinem Kopf arbeitete es.
Rae schien ihm das anzusehen, denn plötzlich meinte sie: "Nun frag schon."
"Was soll ich fragen?", fragte Spock verwirrt. "Die Frage, die dir schon die ganze Zeit im Kopf herumgeht. Ich sehe es dir doch an!"
Wieder erreichten Spocks Ohren einen gesunden Grünton. "Ähm", meinte er und rieb sich sein Ohr. "Eigentlich ist es keine Frage, sondern eher eine Feststellung."
"Auch gut. Schieß los."
"Muss ich?", fragte er unsicher.
"Nein. Natürlich nicht. Ich kann und will dich nicht zwingen. Das bringt eh nichts."
"Das ist ja nicht das Problem. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll."
"Oha. Kenn ich auch. Das ist schwer."
Spock nickte und senkte grübelnd den Kopf.
"Weißt du was? Ich geh erst mal ne Flasche Wasser holen, und du kannst noch überlegen. Wenn ich zurück bin, kannste es mir ja sagen, wenn du willst." Damit verschwand sie durch die nächste Tür. Im Zimmer ließ sie sich auf das nächstbeste Bett fallen. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken. Ich kann mir vorstellen, was er mir sagen will. Diese Blicke... ich bin ja nicht blind. Kein Wunder, dass er keinen Anfang findet, fände ich ja auch nicht. Dabei hab ich ihn ja echt total gern. Er hat irgendwie dieses gewisse Etwas...
Sie schüttelte den Kopf und sprang auf. Hektisch begann sie in ihrer Tasche zu wühlen. "Wo. Ist. Dieses. Mistding?", murmelte sie und warf ihre Sachen aufs Bett. "Woah!" Sie zog ihre Flasche hervor, nur noch zu 1/4 mit Wasser gefüllt. Rae schürzte die Lippen. Brauch ich wohl bald Nachschub, ich versoffenes Loch. Ne Zweiliter Flasche innerhalb von einem Tag leer... Sie schüttelte wieder den Kopf und sprang stürmisch hoch, um Spock nicht noch länger warten zu lassen. Käme ja Folter gleich.
"Reißt du Türen immer so stürmisch auf?", fragte der Vulkanier, als Rae wieder auf den Flur trat.
Rae grinste. "Ziemlich oft sogar. Ist ne Angewohnheit von mir."
Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen das Fensterbrett und stellte die Flasche auf den Flaschenkopf.
"Was ich sage wollte ist...." Er rieb sich die Stirn. "Das ist echt schwer."
"Nicht schlimm. Ich habe Zeit." "Deine Freunde warten doch bestimmt?"
"Wenn schon. Die können auch mal warten. Das hier ist wichtiger."
Hoffentlich irre ich mich nicht in dem was er mir sagen will...
Spock schwieg wieder. Rae hielt es nicht mehr aus.
Sie wandte sich ihm zu. "Das, was du mir sagen willst, hat nicht zufällig etwas mit mir zu tun, oder?"
Spocks Ohrspitzen wurden wieder einmal grün. "Woher weißt du das?"
"Ich bin nicht blind und unsensibel auch nicht."
"Nein, das weiß ich."
Also den ersten Schritt habe ich gemacht, den Rest schaffst du auch allein.
"Rae... es ist so." Er hob den Kopf. "Ich hab dich echt total gern." Schnell senkte er den Kopf wieder. Nun war es heraus und Spock wartete bange auf Raes Reaktion. Halb rechnete er mit einem entrüsteten Schnauben, doch das blieb wider Erwarten aus. Doch mit der Antwort, die er bekam, hatte er nicht gerechnet.
"Ich weiß."
"Du weißt...? Woher denn?"
"Ach komm. Das war ja wohl schwer zu übersehen. Schon vor ein paar Tagen in der Küche... was meinste, weshalb ich dir die nächsten Tage aus dem Weg gegangen bin? Ich war total unsicher und verwirrt."
"Tut mir leid." "Muss es nicht. Erst dachte ich..."
Mit Karacho flog die Tür auf. "Mensch, Rae! Hier steckst du! Kommst du raus? Wir vermissen dich schon."
Tracy steckte hinter Deanna den Kopf durch die Tür, die sich das Grinsen kaum noch verkneifen konnte.
"Ich komme später. Muss hier noch kurz was klären."
"Alles klar." Deanna zwinkerte ihr zu. "Lass dich nicht aufhalten." Damit verschwanden die beiden Mädchen wieder. Deanna knuffte Tracy in die Seite. "Mann, endlich!" "Was, endlich?" Verwirrt sah Tracy ihre Freundin an. "Rae und unser Neuling. Sieht doch ein Blinder mit Krückstock, dass sie total ineinander verschossen sind. Ich glaube, sie haben's endlich bemerkt."
"Der und Rae? Nie!" "Du glaubst mir nicht? Komm mal mit!" Deanna zog Tracy zu einem nahen Fenster.
"Sieh mal darüber." Tracy gehorchte. Doch was sie sah, ließ sie den Mund offen stehen lassen. "Ich glaub's nicht!", quietschte sie. Mehrere Fenster weiter hatte Rae den Kopf an Spocks Schulter gelegt.
"Hey. Da bin ich endlich."
Rae kam nach draußen geplatzt. Ihre Freundinnen sahen ihr grinsend entgegen.
"Und? Wie war's?", wollte Tracy wissen.
Ihre Freundin setzte sich neben sie. "Wie war was?", fragte sie seelenruhig zurück.
"Ach komm, Rae! Du und Spock. Tu nicht so."
Rae rollte mit den Augen. "Ihr merkt aber auch alles, was?"
"Na klar. Wozu sind wir Freunde?", fragte Tracy.
"Ich gratuliere", fiel Deanna dazwischen. "Ist es endlich was geworden?"
"Wie meinst du das, Dee?" "Nix da. Schon an dem Tag an den er in unsere Klasse kam, hattet ihr beide dieses Glitzern in den Augen wenn der Name des anderen fiel oder ihr euch angesehen habt. Denk ja nicht, ich hätte es nicht bemerkt!"
"Okay, okay. Passt schon."
"Rae ist unter der Haube", witzelte Tracy.
"Wurde ja auch Zeit. Aber mal im Ernst, Rae. So wie du aussiehst, könntest du doch an jeder Hand 10 Jungs haben."
"Danke. Ich beschränke mich lieber auf einen."
"Finde ich auch ganz vernünftig." Damit standen alle auf und setzen sich nach drinnen, denn draußen wurde es jetzt doch ziemlich frisch. Drinnen wurde vergnügt durcheinander gebrüllt. So laut, dass schließlich die Heimleitung auf den Plan trat und um Ruhe bat. Ansonsten, so drohte sie, gäbe es genug Arbeit in der Küche. Das wirkte. Schlagartig herrschte Stille.
