Legolas spürte die Sorge von Ethuil und die Blicke seiner Freunde, und beinahe hätte Ersteres ihn wieder umdrehen lassen, da er besonders Ethuil kein Leid zufügen wollte. Er wusste auch, was es für sie bedeuten würde, wenn sein Urteil die Bestrafung sein sollte, aber es gab keine Umkehr mehr. Er musste dies tun.

Der Olyphant hatte ihn schon längst bemerkt, als er sich ihm nun zu Fuß näherte. Sein Rüssel streckte sich ihm entgegen, und Legolas blieb erst stehen, als dieser ihn aufhielt. Er hielt vollkommen still, während er so gemustert wurde. Dass er als derjenige erkannt worden war, der den Gefährten getötet hatte, hörte er dann in dem erneuten Schrei, der diesmal ganz anders klang. Wütend und anklagend.

Doch Legolas rührte sich nicht von der Stelle, sondern blieb dort stehen und wartete auf das Urteil. Dabei hatte er keine Angst um sich, sondern eher um Ethuil. Das war sein einziger Gedanke. Alles Andere war egal. Und so blieb er stehen, weil er wusste das es Ethuil überstehen würde, da sie stark genug war. Und er ließ es geschehen, dass der Olyphant nun seinen Fuß hob, um ihn zu zerquetschen und so seine Rache zu bekommen.

"NEIN! BITTE!"

Ethuils plötzlicher Schrei ließ sie beide herumfahren. Dort stand sie. Keinen Steinwurf entfernt neben Gimlis Pferd, dessen Besitzer auf dem Hügel schimpfte, aber von niemandem beachtet wurde. Langsam kam sie näher und ließ Legolas nicht aus den Augen, der zumindest für den Moment gerettet war, denn der Olyphant setzte seinen Fuß wieder neben den Anderen und starrte herüber.

So wie Legolas, dem gerade das Blut in den Adern gefror. Denn die Gedaken, die er gerade von ihr empfing, ließen ihn das Schlimmste vermuten. Sie wollte ebenfalls die Wut des Olyphanten auf sich ziehen. Sie wollte nicht zurückgelassen werden und das Schicksal von Legolas teilen. Sie wollte mit ihm sterben.

"Ethuil!" Nun schrie auch er, denn der Olyphant wandte sich nun ihr zu und brauchte sich auch nur kurz umzudrehen, um schon vor ihr zu stehen. Sie wurde wie Legolas zuvor gemustert, und so wie er blieb sie an Ort und Stelle stehen und ließ alles über sich ergehen. Daraufhin wurde der Olyphant nur noch wütender und starrte zwischen den beiden hin und her, als wolle er sich entscheiden, wen er als Ersten töten solle.

Doch Ethuil und Legolas beachteten ihn schon gar nicht mehr. Sie sahen auch nicht die Waffen der Anderen, die nun auf den Olyphanten gerichtet waren, denn sie wussten nun, dass sie dem Olyphanten nicht tatenlos zusehen konnten. Keine Sitte und kein Gesetz waren das Leben eines Freundes wert.

Die beiden hatten nur noch Augen für sich selbst. Mit Hilfe eines Blickes und ihrer Gedanken sagten sie sich in diesem Augenblick alles, was der Andere wissen musste. Sie übermittelten sich ihr Herz, ihre Seele und alles, das sie ausmachte. Es gab keine Geheimnisse mehr, und sie entdeckten, dass ihre Liebe zueinander einfach nicht größer und tiefer sein konnte, und dass es nichts gab, das sie trennen konnte. Kein Olyphant und auch nicht der Tod.

Dies bemerkte Ersterer. Er sah, dass sie füreinander und miteinander sterben würden. Er sah, dass es nichts gab, das sie trennen konnte. Er sah, dass auch diese kleinen Wesen, die einst seine Feinde gewesen waren, Liebe empfinden konnten. Mehr, als zu dem seine einstigen Herren fähig gewesen waren. Die beiden zu töten, würde bedeuten, wie diese Herren zu werden und das Wertvollste zu verlieren. Und das Einzige, das ihm geblieben war.

Und so schrie er wieder auf, aber um diesmal endgültig Abschied zu nehmen. Dann sandte er Ethuil und Legolas noch einen Gruß, den sie vielleicht nicht verstehen würden. Aber das zählte nicht mehr, da er sich sowieso von ihnen abwandte und aus dem Tal verschwand. Er hatte ihnen Gnade gewährt und selbst endlich seine Trauer überwunden. Außerdem war er frei und konnte endlich das tun, was er wollte, und dorthin ziehen, wohin er wollte.

Legolas hatte dies mit Staunen beobachtet. Er konnte noch gar nicht richtig glauben, was er da sah, aber gleichzeitig wusste er, was den Olyphanten zu seinem Sinneswandel gebracht hatte. Und er wusste, dass er nun jedem erzählen würde, dass von nun an niemand mehr einen von seinen Artgenossen töten oder ihm seinen Willen aufzwingen durfte. Denn sie hatten Gefühle, konnten verzeihen und kannten Gnade.

Für diese war er nun besonders dankbar, denn Ethuil hatte die körperliche Distanz zwischen ihnen überwunden und den Weg in seine Arme gefunden. Dort hieß er sie nur zu gern willkommen und hielt sie auch weiterhin fest, als ihre Freunde zu ihnen stießen, die sie sofort mit Fragen bombardierten.

"Er hat mir Gnade gewährt", lautete die Antwort von Legolas, nachdem er Ethuil einen Kuss ins Haar gesetzt hatte. Denn der Olyphant hatte auch ihr Gnade gewährt.

"Er hat erkannt, dass es aus Notwehr geschehen ist", fügte Ethuil hinzu. "Dass wir nicht so herzlos wie seine einstigen Herren sind." Sie sah hoch zu Legolas, und ein kleines Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. "Und dass wir zusammengehören."

"Dies hat er schneller erkannt als manch Anderer", erwiderte dieser und erinnerte sich an den Tag, als sie sich das erste Mal begegnet waren, und sie es damals nur unterbewusst erkannt hatten.

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Endlich hatte sie es geschafft, sich loszureißen. Endlich konnte Ethuil ein paar Minuten allein und ohne ihre Cousine genießen und ein wenig durch die Wälder Düsterwalds streifen. Sie liebte ihre Cousine und diese kurzen und viel zu seltenen Besuche dieses wundervollen Landstriches, aber nach zwei Tagen ununterbrochener Rede- und Informationsflut genoss sie einfach mal die Stille hier.

Hier hatte sie auch endlich mal ihre Zeit und Ruhe, das Gehörte zu verarbeiten. Wie wundervoll es hier doch war, wer alles seinen Lebenspartner gefunden hatte, die Gerüchte über eine neue Bedrohung und die Schwärmereien über einen gewissen Prinzen. Über letzteres konnte sie nur lächeln, denn Ethuil hatte es aufgegeben, an den Einen zu glauben, oder dass sie ihm eines Tages einfach so über den Weg laufen würde. Dass sie ihn nur anzusehen brauchte, um ihn sofort zu erkennen. Welch ein...

"Vorsicht!"

Sie spazierte gerade an einem Hang entlang, als dieser Ruf über ihr erklang. Doch ihr blieb keine Zeit, um darauf zu reagieren, denn im nächsten Moment wurde sie umgerissen und fand sich auf dem Boden wieder. Mit der Ursache dafür auf ihr. Ein Elb, der sie überrascht ansah und nun zu spüren bekam, dass sie das überhaupt nicht guthieß.

"Runter von mir, oder das war erst der Anfang!" zischte sie ihn an, während er auch schon ihrem Rat folgte, sich aufrappelte und ihr eine Hand entgegen hielt. Doch sie ignorierte diese und fand allein den Weg zurück auf ihre Füße. Dort konnte sie den Störenfried genau mustern. Gewisse Gedanken, dass er allein durch seinen Duft, der kurz in ihre Nase geweht war, und durch seine blauen Augen, die sie jetzt geschockt und entschuldigend ansahen, ihren Magen in ein Tollhaus verwandeln konnte, drängte sie sofort zurück.

"Entschuldigt, das war nicht meine Absicht", drückte er sein ehrliches Bedauern aus. "Aber ich habe das Rudel Rehe verfolgt, um es zu beobachten, und dabei nicht auf den Weg geachtet."

"Wie auch immer:" Nein, ihr Stolz verbot es ihr, ihm zu zeigen, dass sie ihm im Grunde schon glaubte. Lieber suchte sie den Wald nach dem Rudel ab und konnte es tatsächlich in einer gewissen Entfernung entdecken. Es graste dort friedlich und lenkte kurz ihre Gedanken ab, bis sie seinen Blick auf sich ruhen spürte. Mit fragend erhobenen Augenbrauen drehte sie sich zu ihm um und grinste, als sie sehen konnte, dass er sich ertappt fühlte.

"Ist euch auch nichts geschehen? Gibt es etwas, womit ich dies wieder gutmachen kann?" Echte Sorge stand in seinen Augen, als er das Wesen vor sich betrachtete. Er hatte sie noch nie hier im Düsterwald gesehen. Wo kam sie her? Wieso war sie ihm nicht schon früher über den Weg gelaufen?

"Mir geht es einfach wunderbar, und das Einzige, das ihr machen könnte, ist verschwinden", herrschte sie ihn an und ging nun ihren Weg zurück. Ihre Ruhe war gestört worden, und sie glaubte nicht, dass sie diese wiederfinden konnte. Vielleicht morgen, wenn er weit weg war, und ihre Gedanken wieder ihr gehörten. Was fiel ihm ein, einfach so...?

"Das mit dem Verschwinden könnte schwierig werden, denn wir haben den selben Weg", rief er ihr hinterher, woraufhin sie stehenblieb und sich zu ihm umdrehte. "Was ist mit den Rehen?"

"Welche Rehe?" Er deutete zu der Stelle, an der die Rehe gegrast hatten, aber sie waren nun verschwunden. Dabei konnte er ein kleines Grinsen nicht verhindern, das sich einfach so auf sein Gesicht stahl. Er glaubte es sogar einmal kurz auf ihrem Gesicht gesehen zu haben, bevor sie sich wieder abwandte und ihren Weg fortsetzte. Sie hatte wohl nichts gegen seine Begleitung, und so schloss er zu ihr auf, während er sich fragte, wann er das letzte Mal mehr als nur gelächelt hatte.

"Bildet euch ja nichts darauf ein!" klärte sie ihn auch sofort auf. "Wagt es nicht, Fragen zu stellen oder mich irgendwie anders anzusprechen. Ich bin hier, um die Ruhe zu genießen und diesen verrückten Schwärmereien meiner Cousine wegen diesen Prinzen zu entgehen. Mehr nicht."

"Wie ihr wünscht. Genießen wir die Stille." Legolas schaffte es nur mit Mühe, seine Erheiterung aus seiner Stimme zu verbannen. Sollte er ihr sagen, wer er war, oder sie lieber vor ihrer Cousine blamieren, da sie es gewagt hatte, so mit ihm zu reden? Auch wenn ihm das sehr gefiel, da sie wirklich sie selbst war? Er dachte darüber nach, während sie die Stille und auch die Nähe des Anderen genossen, ohne es zu wissen.

"Dieser Wald ist wunderbar", flüsterte sie dann doch nach einer halben Ewigkeit, und plötzlich war es vorbei mit der Stille. Sie sprachen leise, aber doch miteinander, über Dies und Jenes, über sich, diesen Wald, ihren Träumen und Wünschen. Von Anfang an waren sie sich so vertraut und nah, als ob sie sich schon ewig kennen würden. Aber zugeben konnte es keiner von ihnen.

Erst als sie sich den Baumhäusern näherten, die die Siedlung um den Palast darstellten, verlangsamten sich ihre Schritte, als ob sie dies nicht enden lassen wollten. Viel zu sehr waren sie in ihr Gespräch über diesen Gedichtband vertieft, den sie beide liebten, und viel zu sehr ärgerte sich Ethuil darüber, ihren verloren zu haben.

"Treffen wir uns doch morgen wieder, dann kann ich dir zeigen, welchen Ehrenplatz er in meinem Arbeistzimmer hat, und ihn dir vielleicht auch ausleihen", bot Legolas an und freute sich auch schon auf den Moment, wenn sie herausfinden würde, wo sich dieses Zimmer befand.

"Du hast ein Arbeitszimmer?" wunderte sich Ethuil aber jetzt schon, und Legolas brauchte wohl nicht mehr lange auf diesen Moment zu warten. "Sag bloß, du arbeitest für diesen Prinzen in seinem Palast!"

"Nein, ich bin dieser Prinz." Sehr ruhig und nur mit einem Lächeln im Gesicht stand er nun vor ihr und beobachtete mit etwas Genugtuung ihre Reaktion. "Ich bin Legolas, Sohn von Thranduil, Herrscher des Düsterwaldes, und genau dieser Prinz, für den deine Cousine so schwärmt. Allerdings frage ich mich, wieso."

"Du bist einfach zu nett", antwortete sie nach einer halben Ewigkeit, in der sie ihn einfach nur angestarrt und dann um Fassung gerungen hatte. "Du verleihst Anderen deine Bücher, ohne sie zu kennen. Nett und dumm." Sie atmete tief durch und sah hinüber zum Palast. Wie peinlich! Wie hatte das nur passieren können? Ihre Cousine würde sie umbringen. Nicht nur, dass sie ein wunderbares Gespräch mit ihrem Schwarm gehabt hatte, sie hatte ihn auch noch beleidigt und sie vor ihm bloßgestellt. Schlimmer konnte es nicht mehr werden.

"Morgen hier um die selbe Zeit", presste sie dann irgendwann hervor und lief sofort darauf und ohne sich noch einmal umzudrehen davon, da sie diese Worte eigentlich gar nicht hatte sagen wollen. Genausowenig wollte sie morgen hier sein, aber wusste gleichzeitig, dass sie sogar zu früh an Ort und Stelle sein würde.

"Ich werde kommen", entgegnete Legolas leise, als sie ihn schon gar nicht mehr hören konnte, und während er ihr hinterhersah, schlich sich wieder ein Lächeln auf sein Gesicht. Ein besonderes Lächeln, das neu und voller Wärme war und nie mehr verschwinden würde.