Kapitel 4

29. August, 1994

Seit einer Woche fühle ich nichts mehr von dir.

Bist du tot?

Lebe ich noch?

Ich kann dich nicht mehr spüren.

Mich noch weniger.

Dass du lebst, ist das einzige, was mich noch aufrechterhält.

Seit ich dich in der Wanne fand, habe ich nur ein einziges Mal mit meinem Vater geredet.

Mutter ignoriert mich völlig.

Sie hasst mich.

Ich habe Vater einen Grund gegeben, dich „zu entfernen".

Du bist weg.

Nicht nur, dass er dich auf eine andere Schule geschickt hat, nun lässt er dich bei Verwandten in Bulgarien wohnen.

Ist es meine Schuld?

Vater hat gegrinst.

Ich glaube, er hat auf so eine Situation gewartet.

Er meinte, nun könnte er richtig mit meiner Erziehung anfangen.

Dann hat er amüsiert hinzugefügt, dass dich eigenhändig umbringt, wenn ich ihm nicht gehorche.

Nur, dass er dich Schlampe genannt hat.

Er sagte, du kämst viel zu sehr nach Mutter.

Ich saß vor ihm und hatte meine Hände zu Fäusten geballt.

Er saß nur da, belustigt über mein Verhalten grinsend.

Als er sah, wie Blut über meine blau angelaufenen Fingerknöchel lief, erschrak er.

Ich ging auf ihn zu.

Er wich zurück.

Er schrie mir immer wieder entgegen, dass ich dich nie wieder sehen würde, wenn ich jetzt etwas Falsches tue.

Ich habe ihn stehen gelassen.

Ich bin in dein Zimmer gegangen, habe alle Schränke aufgerissen.

Deine Sachen waren weg.

Du bist weg.

Ich hab mich auf dein Bett geschmissen.

Ich habe an den Kissen gerochen, konnte deine Wärme spüren.

Plötzlich ist mir etwas Hartes aufgefallen.

Ich riss den Bezug auf.

Dein Klappmesser.

Ich zog es aus der Scheide.

Ein Zettel fiel heraus.

Einen Moment betrachtete ich die einladende Klinge, fühlte den kalten Stahl.

Dann las ich die Nachricht.

Es ist nicht deine Schuld.

Wir sehen uns wieder,

deine dich liebende Schwester

Ich ließ den Zettel fallen.

Er löste sich in Staub auf, bis nichts mehr von ihm übrig war.

Dann nahm ich entschlossen das Messer in die rechte Hand und zog meinen linken Ärmel hoch.

Langsam floss das Blut aus dem Schnitt, rann über meinen Arm und tropfte lautlos auf meinen Umhang.

Ich entspannte mich langsam, als wenn eine Last von meinen Schultern genommen worden wäre.

Diesen Augenblick genoss ich.

Meine Gedanken waren von Schmerz erfüllt, drängten alle anderen Erinnerungen, die mich seit je her quälten, beiseite.

Der Stoff färbte sich dunkelrot.

Das Wasser war auch so dunkel gewesen.

Genauso wie dein Kleid.

Und du lagst in meinen Armen.

Ob du es bemerkt hast?

Schließlich warst du dem Tod näher als dem Leben…

Wir haben uns berührt.

Wir haben uns geküsst.

Vergiss das nie.