Wir kennen uns ein Leben lang.

Ich hab dich schon als Kind umarmt.

Ich hab mit dir die Jahre gezählt.

Mit deinen Träumen habe ich gespielt.

Ich hab dir deine Wege gesucht.

Ich bin dein Glück und dein Fluch.

Hab dir fast den Verstand geraubt.

Du hast trotzdem an mich geglaubt.

Ich bin die Sehnsucht in dir...

(Die Toten Hosen; Ich bin die Sehnsucht in dir)

Ein Geschwister-Traum

(17. Dezember, 1995)

Was die beiden an dem selben Tag träumten, realistischer als die meisten Erinnerungen die sie hatten, und doch nur eine Illision...

Irgendwann, kurz bevor ich den Verstand verlor…

Sei zwei Tagen hocke ich hier.

Mein Gefängnis.

Dein altes Zimmer.

Ich vermute, dass es zwei Tage sind, kann mich aber auch irren.

Sie haben mich hier eingesperrt.

Meine Erzeuger.

Ich hab schon vor knapp einem halben Jahr aufgehört diese Menschen „Eltern" zu nennen.

Du bist hier.

Schon seit Stunden.

Vor zwei Tagen kam „Vater" zu mir und hat mich in dein Zimmer geschafft.

Hinter mir fiel die Tür ins Schloss.

Ich vermute, dass die Verwandten, bei denen du untergekommen bist, uns besuchen.

Und natürlich konnte ich ja nicht da rein platzen.

Ein Sohn, der seine Schwester liebt und wahrscheinlich alle, die sich in seinen Weg stellen, töten würde, musste man verständlicherweise von der edlen Verwandtschaft verstecken.

Dir geht es genauso.

Seit du wieder in meiner Nähe bist, kann ich dich wieder fühlen.

Kann fühlen, was du fühlst.

Du schweigst.

Deine Augen sind leer.

Vor einiger Zeit hast du geweint, vor fünf Stunden vielleicht.

In dem Moment habe ich den Schrank zertrümmert.

Niemand, absolut niemand hat das Recht, dich zum weinen zu bringen.

Ich richte mich auf.

Deine Nähe macht mich wahnsinnig.

Bis eben habe ich ausgestreckt auf deinem Bett gelegen.

Der Raum ist kalt und wird nur von einer leuchtenden Kugel an der Decke erhellt.

Die Fenster sind mit einem Zauber verdunkelt und verstärkt worden, genau wie sie Tür.

Neben dieser liegen die Überreste des Stuhles, der einmal zum zerbrochenen Schreibtisch in der anderen Ecke des Raumes gehört hatte.

Eigentlich habe ich bis auf das Bett alles in deinem Zimmer zerstört.

Ich hätte wohl auch alles mit mir zusammen verbrannt, wenn ich meinen Zauberstab gehabt hätte.

Ich stehe auf und schreite die Wände des Raumes ab, eine Hand über die Wand streifend, wie schon viele Male zuvor.

Du bist hier, in demselben Haus wie ich.

Und trennen nur einige Mauern und unsere „Familie".

Und doch kann ich dich nicht sehen, kann dich nicht berühren.

Meine Finger fahren über den kalten Untergrund der Tür.

„Verdammt!"

Ich schreie meine Wut aus mir heraus, meine Verzweiflung, mein Verlangen.

Außer dir hört mich sowieso niemand, mich will niemand hören.

Ich bin unnormal, ein Bastard, eine Monster.

Und das nur, weil ich dich liebe.

Meine Schwester.

Verzweifelt hämmere ich mit beiden Fäusten gleichzeitig gegen den Stahl.

„Verdammt…"

Langsam falle ich auf die Knie.

Ich will dich sehen, dich berühren, deine Nähe spüren.

Hier werde ich wahnsinnig.

Du kommst mir näher.

Ich lege zitternd eine Hand auf die Tür.

„Ich bin hier", flüstere ich zaghaft.

Du hältst inne.

Ich spüre, wie dich jemand weiterzieht.

Du siehst in meine Richtung.

Deine Augen schimmern durch die Tür hindurch.

Ich kann den verzweifelten Ausdruck in ihnen erkennen.

„Verdammt lasst mich hier raus!", schreie ich und hämmere weiter gegen die Tür.

Meine Hände schmerzen, meine Beine geben nach.

Nur diese Tür trennt uns.

Ich will zu dir.

Ich muss zu dir!

Du wirst weitergezogen.

„Nein…", ich weiche von der Tür zurück.

Sie schicken dich wieder weg.

Weg von mir.

Nicht noch einmal!

Nehmt mir sie nicht weg!

Sie gehört zu mir!

Du gehörst mir...

Ich gehe an der Wand entlang, folge deinen Schritten, will dir so nah wie möglich sein.

Mein Atem geht stoßweise, du bist an der Treppe gestolpert.

Doch du wirst weitergezogen.

Ihr werdet büßen!

Alles was dir geschieht, werden sie büßen!

Ich bin an den Fenstern angekommen.

Du hast das Haus verlassen.

Mein Kopf sackt gegen das kühle Glas.

Tränen laufen dir über die Wangen, jeder Schritt wird dir abgezwungen.

Ich fühle dich immer weniger, du verschwindest im Nichts…

Meine Augen füllen sich mit Tränen.

Das kann alles nicht war sein.

Und doch ist es nicht zu ändern...

„Nein!"

Mit aller Kraft werfe ich mich gegen das Fenster.

Immer wieder.

Ich darf so etwas nicht mal denken.

Ich kann dir und mir nicht die Hoffnung nehmen.

Meine Schulter brennt, ich höre Blut in meinem Kopf rauschen, doch ich merke nur, dass du stehen geblieben bist.

Ein Riss.

Nur noch ein Stücken, einmal noch, dann bin ich bei dir.

Mit einem klirrenden Geräusch gibt das Glas nach.

Zwischen Splittern falle ich aus den zweiten Stock auf den Innenhof unseres Hauses.

Mein Aufprall erzeugt ein dumpfes Geräusch und ich höre hysterisches Gekreische.

Ich versuche mich so gut es geht abzurollen, doch der Sturz war zu hart.

Auf dem Rücken liegend versuche ich die Augen zu öffnen.

Ich kann dich sehen.

Du lächelst leicht.

„Du machst aber auch immer noch den größten Unfug", sagst du und eine Träne bahnt sich ihren Weg an deinem Gesicht hinab.

„Es gibt Dinge an uns, die werden sich nie ändern", flüstere ich und muss daraufhin keuchen.

Ich versuche diesen ungestörten Moment auszukosten, ihn unendlich in die Länge zu ziehen.

All die auf uns gerichteten Augenpaare, die weit aufgerissenen Mäuler, und diese Stille.

Die Ruhe vor dem Sturm.

„Komm mit!", herrscht dich Mutter an, packt dich am Arm und zerrt dich so plötzlich mit sich, das du nicht in der Lage bist, dich zu wehren.

Ich spanne alle Fasern meines Körpers an, doch ich kann mich nicht aufrichten.

Ich spüre eine starke Hand an meiner Schulter und jemand zieht mich ruckartig hoch.

„Sieh sie dir noch mal genau an, es wird das letzte Mal für dich sein", zischt die Stimme meines „Vaters". Er steht hinter mir und zwingt mich durch den Druck seiner Hand auf meiner Schulter, gerade Stehen zu bleiben.

„Mutter" zieht dich weiter weg, in Richtung einer schwarzen Kutsche.

Mit einer heftigen Bewegung schleudert sie dich der Treppe entgegen.

Du schaffst es gerade noch, dich abzustützen.

Widerwillig steigst du auf die erste Stufe, dann zögerst du.

„Willst du mir nicht auf Wiedersehen sagen?"

Die Hand auf meiner Schulter krallt sich durch den Stoff meines Hemdes.

Doch ich lächle.

„Dreh dich nicht um! Wage es dich nicht, dich umzudrehen!", kreischt „Mutter" aufgebracht. Ihr Gesicht ist weiß vor Zorn.

Du fängst an zu zittern.

Du weißt, was passiert, wenn ich es weiter treibe.

Dieses Spiel mit dem Feuer.

Ganz langsam ziehst du den zweiten Fuß auf die erste Stufe nach.

„Gut, dann fange ich an. Auf Wiedersehen, Schwesterchen! Ach ja, übrigens", ich mache eine Pause, alles um mich herum schien den Atem anzuhalten,

„Ich liebe dich…"

Du erstarrst.

Dein Herz setzt aus.

Auch ich warte angespannt.

Ich wollte es dir nicht so sagen, aber sollten wir uns wirklich nicht wieder sehen, war das vielleicht die letzte Möglichkeit

„Ich liebe dich…", flüsterst du.

Deine Hände sind weiß, so stark umklammerst du die Haltestangen.

„Was…? Nein!", schreit Mutter.

„Was hast du mit ihr angestellt du Bastard?", wendet sie sich mit einem irren Blick am mich.

Ja, ich bin ein Bastard, ich liebe meine Schwester, und ja, das ist unnormal.

Doch wenn ich ein Monster sein muss, um glücklich zu sein, dann nehme ich das in Kauf.

Und glücklich bin ich nur mit dir.

Mutter starrt mich immer noch mit weit aufgerissenen Augen an, doch ich sehe nur auf dich.

Niemand außer mir beobachtet dich.

Alle anderen Augen sind auf mich gerichtet.

Nur meine nicht.

Mein Herz rast.

Nur Mutter, die in deiner Nähe steht, und ich haben gehört, was du gesagt hast.

Du drehst dich um.

Lange sehen wir uns in die Augen, bevor die anderen merken, dass du mich ansiehst.

„Ich liebe dich", sagst du klar und deutlich und diesmal haben es alle gehört.

„Aus Wiedersehen", fügst du hinzu und lächelst.

Ich erwidere es.

Dann drehen mich zwei grobe Hände um und schieben mich unsanft Richtung Haus.

Ich wehre mich nicht.

Das letzte, was ich fühle, ist wie du meinen Namen sagst.

Ganz leise, zu dir selbst.

Aber ich muss dich nicht hören.

Ich muss nur in deiner Nähe sein.

Dich berühren.

Wir werden uns wieder sehen, und wenn ich dabei sterbe, sehen wir uns halt in der Hölle.