Die Lumpensammlerin
Als Ichigo die Haustür öffnete lauschte er kurz, ob sein kindischer Vater mal wieder versuchte ihm aufzulauern, um ihn, wie er es nannte, zu „trainieren". Als kein Laut von drinnen kam, schob er die Tür ganz auf, zog seine Schuhe aus und betrat den kleinen Vorraum, der rechter Hand in die Küche überging. Aus den Augenwinkeln sah er einen kleinen Zettel auf dem Küchentisch liegen. Er ging hin, entfaltete ihn und las darauf, dass sein Vater und seine beiden Schwestern zum Einkaufen gegangen waren. Sie würden noch einen kleinen Abstecher auf den Rummelplatz machen und er solle sich selbst etwas zu essen warm machen.
Ein kurzer Blick in den Kühlschrank verriet Ichigo, dass Yuzu ihm etwas von dem scharfen Rindfleisch vom Mittag aufgehoben hatte. Ein winziges Lächeln streifte Ichigo angesichts der Tatsache, dass die sonst so friedliche Yuzu diese Portion wahrscheinlich mit der Schöpfkelle vor seinem Vater verteidigt hatte, damit dieser seinem Sohn etwas übrig ließ. Außerdem war er durch den Zwischenfall mit dem Kaninchen einem Zusammentreffen von seiner Familie und Rukia entgangen, was ebenfalls als sehr positiv zu bewerten war.
Ichigo ließ das Essen stehen, obwohl er sich bewusst war, dass seine Schwester darüber enttäuscht sein würde, und ging in sein Zimmer. Dort angekommen warf er die Tasche in die Ecke und streckte sich auf dem Bett aus. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte die Decke an. Seine Gedanken begannen umher zu wandern.
Rukia.
Wie lange dieses Versteckspiel mit ihr in seinem Wandschrank wohl noch gut gehen würde? Noch hatte niemand ihr Lager dort entdeckt und wahrscheinlich wäre es ihr auch ein Leichtes, mit diesem Gedächtnis-Austausch-Dings jede Erinnerung an ihren Aufenthalt hier aus den Köpfen seiner Familie zu wischen. Aber er konnte nicht sagen, dass ihm diese Möglichkeit besonders gefiel. Die Geschichten, die dabei entstanden, waren teilweise haarsträubend und er wollte nicht, dass jemand seine Familie für noch verrückter hielt, als sie es eh schon taten. Es kümmerte ihn nicht besonders, was die Leute von ihm dachten, aber seine kleinen Schwestern sollten nicht dasselbe Schicksal haben wie er.
Ichigo merkte, wie ihm langsam die Augenlider schwer wurden. Der Spagat zwischen seinem normalen Leben und seiner Tätigkeit als Shinigami war anstrengend. Nicht nur, dass er sich teilweise die Nächte um die Ohren schlagen musste. Erschwerend kam noch hinzu, dass Kon sich nicht im Geringsten bemühte, irgendwie im Unterricht aufzupassen, wenn er Ichigos während des Tages vertreten musste. Das hieß dann immer noch stundenlanges Nachlernen des versäumten Stoffes und zusammen mit dem wenigen Schlaf zerrte es an Ichigos Kräften.
„Idiot!", murmelte Ichigo noch undeutlich in Richtung seiner immer noch ruhig daliegenden Tasche und zu bevor er einschlief, durchzuckte ihn noch er Gedanke, warum Kon sich gar nicht über diese Behandlung beschwert hatte. Aber auch das konnte ihn nicht mehr aus dem Land der Träume zurückholen.
-o0o-
Als Ichigo erwachte, ließ er die Augen zunächst geschlossen. Er hatte das sichere Gefühl, beobachtet zu werden und das konnte nichts Gutes bedeuten. Er riss die Augen auf und sprang kampfbereit in den Stand hoch. Die Hand schon halb zu einem Schlag erhoben erstarrte er in der Bewegung, als er erkannte, dass es lediglich Rukia war, die am Fußende seines Bettes saß und ein Buch in der Hand hielt.
„Du bist unvorsichtig.", knurrte er, nachdem er die Hand wieder gesenkt hatte.
„Warum?", fragte sie erstaunt. „Weil du mich schlagen wolltest? Du hattest einen Albtraum, nehme ich an."
Ichigo versuchte sich kurz zu erinnern, was er geträumt hatte, doch dann schüttelte er den Kopf. „Nein, weil du da sitzt. Es könnte dich jemand sehen."
Sie warf einen kritischen Blick auf das Fenster und hielt ihm dann einen Gegenstand entgegen. „Ich würde ja im Schrank bleiben, aber es geht nicht mehr und da drinnen ist das Licht zu schlecht."
Jetzt erkannte Ichigo, dass es sich um die Taschenlampe handelte, die er ihr geliehen hatte. „Was hast du denn damit gemacht? Die Batterien waren brandneu."
„Gelesen.", gab sie zurück und widmete sich wieder ihrer Lektüre.
„Hast du wenigstens dieses Ungetüm aus meiner Tasche entfernt? Das rosafarbende von den beiden."
„Du meinst Chappy?" fragte sie unschuldig.
„Ja genau. Wer hat dich eigentlich auf die Idee gebracht, dich so zu benehmen. Ich dachte ein …", er verzog verächtlich das Gesicht, " …Mädchen in deinem Alter wäre über so was erhaben. Schlimm genug, dass du das machst, wenn die anderen dabei sind."
„Ich versuch lediglich mich wie eine moderne junge Frau zu verhalten.", antwortete Rukia immer noch mit der Nase in ihrem Buch." Und eine moderne, junge Frau sollte einem Mann das Gefühl geben, dass der Mann an ihrer Seite etwas Großartiges tut, egal was es ist. Dazu ist es von Vorteil seinen Gefühlen manchmal in größerem Ausmaß Ausdruck zu verleihen, als man es normalerweise tut."
Ein sehr kurze Sekunde lang war Ichigo versucht lauthals loszulachen, doch dann wurde ihm bewusst, was sie da gerade von sich gegeben hatte. Seine Augenbrauen zogen sich zu einem kritischen Balken zusammen. „Wer hat die denn den Quatsch erzählt?", fauchte er ärgerlich.
„Das steht in diesem Buch.", erklärte Rukia und hielt es hoch, so dass Ichigo den Titel erkennen konnte.
Die Augenbrauen schossen in atemberaubender Geschwindigkeit in Richtung Haaransatz. „D-das ist…ein Buch für Frauen, die einen Ehemann suchen.", krächzte er schließlich, wobei er sich an dem Wort „Ehemann" fast verschluckt hätte.
„Oh!", antwortete sie erstaunt. „Das habe ich nicht gewusst. Tut mir leid. Aber sieh es mal so: Diese Spiel an dem Automaten schult dein Auge und damit deine Fähigkeit, die Hollows besser zu beseitigen."
Ichigo schluckte immer noch an dem „Ehemann" herum und fragte sich, wo in aller Welt sie dieses Buch schon wieder her hatte, als Rukias Handy piepte. Sofort war alle Kabbelei vergessen und sie befanden sich beide in höchster Alarmbereitschaft. Dieses Geräusch hatte immer einen Einsatz als Shinigami zur Folge, denn das hieß, dass wieder einmal ein Hollow in die Welt der Menschen vorgedrungen war.
„Kon, komm raus.", rief Ichigo. „Wenn meine Familie nach hause kommt, müssen sie glauben, dass ich meinen Teil der Hausarbeit erledige, sonst kann ich mir wieder was anhören."
Als seine Ersatz-Seele nicht reagierte, schnappte Ichigo sich ärgerlich die Tasche, in der er Kon vermutete und griff hinein. Zu Tage förderte er jedoch nur ein grinsendes, rosa Kaninchen. Fluchend wühlte Ichigo weiter in der Tasche, konnte jedoch nichts finden. Schließlich drehte er die Tasche um, aber Kon befand sich nicht mehr darin.
„Wir haben keine Zeit für solchen Blödsinn.", mischte sich Rukia ein. „Wir müssen los. Es ist ziemlich weit von hier." Bei diesen Worten hatte sie schon den Handschuh mit dem flammenden Totenkopf darauf übergezogen und noch bevor Ichigo protestieren konnte, hatte sie seine Seele aus seinem Körper gestoßen.
„Bist du verrückt, wenn mein Vater…"
„Das ist jetzt egal, uns wird schon was einfallen.", drängte Rukia ihn und Ichigo konnte nicht anders, als sie wider einmal auf den Rücken zu nehmen und der Richtung zu folgen, in die sie ihm mit Hilfe ihres Peilgerätes schickte.
Ein Blick auf den sich langsam rötlich färbenden Himmel verriet ihm, dass er länger geschlafen haben musste, als er angenommen hatte. Wo zum Henker war Kon?
-o0o-
Kons Beine waren sehr viel ungeeigneter für lange Strecken, als er sich hatte eingestehen wollen. Ichigo hatte, was das anging, einfach einen sehr unfairen Vorteil. Der Erinnerung an das bunte Treiben auf dem Rummel ließ Kon seinen Groll gegen Ichigo jedoch erst einmal vergessen und seine Gedanken wandten sich seinem vordergründigsten Problem zu:
Wo war der Rummelplatz.
Misstrauisch betrachtete er von unten das Straßenschild, dann die Straße und dann wieder das Schild. „Verdammt!", dachte er. „Ich hab mich verirrt."
Also beschloss Kon, einfach auf sein Glück und seine Nase zu vertrauen und nach rechts abzubiegen. Immer an den Häuserwänden entlang schlich er den in der warmen Nachmittagssonne da liegenden Gehsteig entlang. Er musste sich allerdings nicht besonders anstrengen, nicht gesehen zu werden, denn schon bald wurde ihm klar, dass sowieso fast niemand auf ihn achtete. Schmerzlich bewusst gemacht hatte ihm das die Tatsache, dass ihn bereits vier Passanten getreten hatten und eine alte Dame ihn fast mit ihrer schweren Einkaufstasche zermalmte. Mit letzter Not rettete er sich in eine schmale Seitengasse, in der nicht so viel Verkehr war.
Kon linste vorsichtig um die Ecke, damit er die Grünphase der Fußgängerampel nicht verpasste, als er sich plötzlich von harten Händen ergriffen und hochgehoben fühlte.
„Na, was haben wir denn da für einen Schatz gefunden.", verkündete eine unheilvoll anmutende Stimme und als Kon herumgedreht wurde, sah er sich zwei prüfenden, schwarzen Augen gegenüber. Die Augen gehörten zu einem schmuddeligen Gesicht, etwas zerzausten Haaren, einem schiefen Lächeln, dem ein Eckzahn fehlte und einem schäbigen Äußeren, wie es klassischer nicht sein konnte.
´Eine Lumpensammlerin´, schoss es Kon durch den Kopf. ´Ich will aber nicht verlumpt werden. ´
Doch bevor er richtig überlegen konnte, hatte sie schon begonnen, ihn überall zu untersuchen und anzutatschen. „Na, du scheinst ja noch ganz heil zu sein. Heute ist wohl mein Glückstag. Da werde ich auf dem Rummel noch einen ganz ordentlichen Preis für dich bekommen. Der alte Kusai hat eigentlich immer ein bisschen Kleingeld für ein Schätzchen wie dich. Du wirst mir mein Abendbrot verdienen, Kleiner."
So befand sich Kon kurze Zeit später auf dem Weg zum Rummel und saß dabei noch gemütlich auf einem großen Haufen Altpapier, während die alte Frau den Karren zog. Eigentlich hätte er ihr gerne geholfen, aber zum einen war das als Plüschtier schlecht möglich und zum anderen roch sie wirklich fürchterlich. So bewegte er sich einfach möglichst wenig und hoffte auf eine Chance, ihr in dem Getümmel zu entkommen.
Leider hatte er seine Rechnung ohne den Argwohn der Frau gemacht. Als er schon die verlockenden Geräusche des Rummels hörte und die ersten Leute mit Zuckerwatte an ihnen vorbeiliefen, stoppte die Frau den Karren, griff nach Kon und stopfte ihn kurzerhand in ihren viel zu großen Anorak. „Damit du mir nicht geklaut wirst, mein Schöner.", murmelte sie halb an Kon und halb an sich selbst gerichtet. „Man weiß ja nie, wer sich hier so rumtreibt."
Kon hielt verzweifelt die Luft an. Dies war absolut kein akzeptabeler Aufenthaltsort, auch wenn er sich erfreulicher Nähe zu nicht eben kleinen, weiblichen Brüsten befand.
Aber er … stank.
Nicht dass Kon der Frau einen Vorwurf machte, denn auch er selber war nicht gerade sauber, aber das schlug ihn wirklich um Längen. Sie sollte ihr Geld lieber nicht für ein Abendessen, sondern für ein öffentliches Badehaus ausgeben, entschied er und war froh, dass ein Plüschtier eigentlich nicht zu atmen brauchte. Vorsichtig strampelte er sich so frei, dass er zumindestens etwas sehen konnte und versuchte trotz seiner Lage, die Aussicht zu genießen.
Die Frau steuerte zielsicher einen etwas ruhigeren Teil des Platzes an, wo weniger bunte Lichter brannten und der Geruch des Bratfettes in der Luft traniger wurde. Ihr Ziel schien eine Wurfbude, fast am Ende des Rummels zu sein, denn dort hielt sie an, schaute sich misstrauisch um und ging dann direkt auf den Besitzer der Bude zu.
Der Mann war Kon nicht geheuer. Er hatte einen gewaltigen Schnurrbart im Gesicht, dafür aber fast keine Haare auf dem Kopf. Sein Blick wirkte verschlagen und sein ehemals wohl elegantes, blaues Gewand hatte einige Fettflecken und wölbte sich über einem dicken Bauch. Am liebsten hätte Kon jetzt die Beine in die Hand genommen, aber wahrscheinlich wäre er nicht besonders weit gekommen. So hielt er still und erwartete demütig, was in dieser Bude auf ihn wartete.
´Ach Schwester Rukia.´, dachte er traurig. ´Werde ich dich je wieder sehen? Werde ich jemals nach hause zurückkommen? Werdet ihr mich wohl vermissen? ´
Er überlegte kurz. Natürlich würden sie ihn vermissen. Genau! Wenn er nicht hier entkommen konnte, würden sie sich vor Sorge um ihn verzehren. Er war schließlich ihr Gefährte und wertvoller Kamerad im Kampf gegen die Hollows. Sie brauchten ihn.
Kons Kampfgeist erwachte wieder. Er würde so schnell wie möglich aus dieser Bude fliehen Wie hatte er nur so pflichtvergessen sein können? Rukia und Ichigo wären ohne ihn total aufgeschmissen, besonders da Rukia die restlichen Soul-Candies wieder in Zahlung gegeben hatte, nachdem sie ihn, Kon, gefunden hatten. Er hatte eine Aufgabe.
Inzwischen waren die Lumpensammlerin und der schmierige Wurfbuden-Mann offensichtlich einig geworden und Kon wurde aus seinem warmen, stinkigen Gefängnis in die stummeligen Finger des feisten Mannes gegeben, der ihn mit einer falschen Verbeugung entgegennahm. Er untersuchte Kon ebenfalls kritisch und zog an seinen Ohren und seiner Nase, so dass Kon sich sehr beherrschen musste, ihm nicht in die Finger zu beißen.
Als er zufrieden mit seiner „Ware" war, nahm er einige Geldscheine aus der kleinen Kasse, zählte sie noch zweimal sorgfältig durch und reichte sie der Frau, die sie sofort in ihrem Ausschnitt verschwinden ließ. Die beiden deuteten noch eine letzte Verbeugung an, dann ging die Frau ihrer Wege.
„So, und nun zu dir.". grinste der Mann unter seinem enormen Schnurrbart hervor und Kon ahnte Schlimmes, während am Horizont langsam die Abendröte aufzusteigen begann.
