Rettung in letzter Sekunde

„Orihime!", drang eine Stimme in Orihimes Gedankenwelt vor und holte sie augenblicklich in die Wirklichkeit zurück. Sie kannte diese Stimme gut. So hörte sich Tatsuki an, wenn ihr etwas nicht passte. Und so wie es aussah, war es etwas, dass Orihime in diesem Moment tat, das ihr nicht passte. Ob sie wohl aufhören sollte, sich diese entzückenden, kleinen, kuscheligen, knuffeligen Stofftiere…

„O-ri-hi-me!", bestand Tatsuki nun darauf, endlich von Orihime bemerkt zu werden. So seufzte Orihime noch einmal und drehte sich schwungvoll zu ihrer Freundin um. Ihr Schwung wurde abrupt gebremst, die Drehung unterbrochen und sie prallte gegen ein jäh aufgetauchtes Hindernis. Kurz darauf befand sich Orihime einen halben Meter tiefer, rieb sich ihre schmerzenden vier Buchstaben und sah sich verwirrt nach dem Grund ihres Sturzes um. Ihr Blick wanderte an Schuhen, Hosenbeinen, etwas, das Orihimes Blick einfach mal ausließ, einem schreiend bunten Hemd, das bis zur Brust aufgeknöpft war… nun ja, insgesamt einen ziemlich langen Weg hinauf, bis er schließlich bei einem bekannten Gesicht ankam, das sich jetzt aus fast zwei Metern Höhe zu ihr herab beugte.

„Wehgetan?", fragte eine dunkle Stimme und Sado Yasutoras sanfte Augen sahen auf Orihime herab. Durfte man zumindestens annehmen, denn sehen konnte man sie unter der enormen Ponymähne nämlich nicht.

„Es geht schon.", beeilte sich Orihime zu versichern und sprang so schnell sie konnte auf die Beine, woraufhin sie mit einem Schmerzenschrei wieder in sich zusammen sackte. Ihr Knöchel schmerzte, als würde jemand eine glühende Nadel hinein stechen.

Ihre Freundin stürzte hinzu. „Was hast du mit ihr gemacht, Chad?", schnappte Tatsuki, während sie fachkundig Orihimes Knöchel untersuchte.

„Er hat gar nichts gemacht, ich hab mich nur ungeschickt umgedreht.", versicherte Orihime schnell. „Es wird wohl besser sein, wenn wir nach hause gehen. Das muss man schnell kühlen, sonst schwillt es an und ich kann gar nicht mehr laufen." Sie stützte sich auf Orisawas Schulter und lächelte Sado an. „Du musst dir wirklich keine Vorwürfe machen, es ist alles in Ordnung."

„In Ordnung, in Ordnung.", schimpfte Tatsuki weiter. „Gar nichts ist in Ordnung. Wenn man so riesig ist, muss man eben ein bisschen aufpassen, dass man normale Leute nicht über den Haufen rennt."

Sado selbst sagte gar nichts und ließ nur die Schultern hängen. Dann griff er plötzlich zu, hob Orihime hoch und murmelte: „Ich bringe dich."

„WAS!", platze Tatsuki nun endgültig der Kragen. „Du lässt sie doch nur fallen und dann müssen wir ins Krankenhaus. Setzt sie sofort wieder runter!"

Orihime war ihre Lage auch nicht gerade angenehm, aber die Schmerzen in ihrem Knöchel waren einfach zu groß, als dass sie hätte darauf bestehen wollen, selbst zu laufen. Verlegen tippte sie Sado auf die Schulter. „Wir müsse aber da lang.", meinte sie mit einem schiefen Lächeln und wies auf eine wenig beleuchtete Gasse am Ende des Rummelplatzes.

Sado brummte nur zustimmend und setzte sich in Bewegung. „Hey, Sado, wo willst du denn hin?", riefen ihnen zwei von seinen Freunden nach, doch der sanfte Riese kümmerte sich nicht darum, sondern war lediglich darauf bedacht, seine Fracht nicht fallen zu lassen.

„Hallo, Erde an Sado! Wir sind auch noch da!", brüllte der größere von beiden jetzt und stemmte angriffslustig die Hände in die Hüften. „Wir wollten doch noch…"

„Ach vergiss es, Shiego, der Dickkopf macht eh, was er will.", unterbrach der andere ihn. „Wir warten dann hier auf dich, Ok?"

Sado blieb kurz stehen, drehte sich um und nickte, dann wandte er sich wieder seinem Ziel zu.

Missmutig trabte Tatsuki neben ihnen her und murmelte allerlei Verwünschungen, taktvollerweise aber so leise, dass man sie nicht verstehen konnte. Orihime hatte ich inzwischen daran gewöhnt, den Rummel aus luftiger Höhe zu betrachten, als laute Stimmen ihre Aufmerksamkeit auf sich zogen. Sie sah sich um und erblickte eine Gruppe von drei jugendlichen Rowdies, die sich anscheinend mit dem Besitzer von einer der umliegenden Buden stritten. Als sie näher kamen, konnte sie die Worte auch besser verstehen. Es ging anscheinend um den Preis, den der Budenbesitzer nicht aushändigen wollte. Der Streit wurde immer heftiger und offensichtlich standen die vier kurz vor einer handgreiflichen Auseinandersetzung.

Doch plötzlich hörte sie etwas, dass ihren so eben gefassten Entschluss, die Sache lieber zu ignorieren, zunichte machte. Jemand rief einen Namen, der ihr nur zu bekannt vorkam.

„Halt!", reif Orihime bestimmt und klopfte Sado aufgeregt auf die Schulter. „Wir müssen ihm helfen."

„Helfen?", fragte Tatsuki ungläubig und sah sich um. Als sie die Streitenden entdeckte seufzte sie. „Aber das geht uns doch gar nichts an. Hey…!"

Offensichtlich hatte Sado auch beschlossen, dass man sich dieser Sache annehmen sollte, und ging langsam auf die keifende Gruppe zu. Orihime lächelte ihrer Freundin entschuldigend zu, als diese ihr einen empörten Blick zuwarf und ihnen murrend folgte.

-

Kon hatte geahnt, dass das nicht gut gehen würde, doch dass es so schlimm werden würde, hatte er nicht vermutet. Als erstes hatte der Mann ihn noch einmal kritisch betrachtet und dann hatte er begonnen, Kon auf dem Ladentisch zu „entstauben". Im Klartext hieß das, Kon wäre jetzt grün und blau geschlagen, wenn er nicht in dem Plüschkörper gesteckt hätte. Vom Anblick der Theke, die in regelmäßigen Abständen auf ihn zuraste, würde er sich wohl eine Weile lang nicht erholen.

Danach hatte ihn der Mann gut sichtbar in mitten der anderen Preise direkt neben eine billig wirkende Puppe in einer Matrosen-Uniform mit einem komischen Kopfschmuck gesteckt. Das Schlimmste war aber, dass diese Puppe jedes Mal, wenn Kon sich bewegte, um endlich hier wegzukommen, denselben Spruch vor sich hin plärrte. Jetzt ging es gerade wieder los:

„Ich bin Sailormoon…"

„… und im Namen des Mondes werde ich dich bestrafen!", beendete Kon den Satz leise seufzend. Warum passierte immer nur ihm so etwas? Mit dieser „Wächterin" würde er hier nie flüchten können. Das erste Mal, hatte er das Gebrabbel einfach ignoriert und war vom Regal gesprungen. Etwa drei Minuten später war er wieder an seinem alten Platz gelandet, mit dem Unterschied, dass sich jetzt ein Stück Schnur mit der Rückwand verband. Jetzt saß der Budenbesitzer immer mal wieder misstrauisch sein Regal beäugend nur einen halben Meter neben Kon und machte somit eine schnelle Flucht unmöglich.

Wenigstens richtete der Mann sein Augenmerk nach einer Weile nach vorne zu seiner potentiellen Kundschaft, so dass Kon wenigstens langsam aber sicher versuchen konnte, die Schnur wieder zu lösen, um vielleicht irgendwann doch noch zu entwischen. Notfalls musst er eben einfach rennen und hoffen, dass der Mann so langsam war, wie sein Bauch es versprach.

„Guck mal, so ein hässliches Ding hab ich ja lange nicht gesehen.", brüllte mit einem Mal eine kieksende Stimme, die den Besitzer eben dieser als untrüglich in der Pubertät befindlichen Jungen auswies.

Kon sah auf und fühlte sich bestätigt. Dort standen drei Jungendliche; weite Hosen, knallbunte T-Shirts und kunstvoll aufgestylte Frisuren versuchten zu überdecken, dass ihre Träger vielleicht dreizehn oder vierzehn waren. Offensichtlich sprachen sie von der Puppe neben Kon, denn gerade sagte einer von ihnen:

„Genau. Das Ding würde sich hervorragend für unsere Zielübungen machen." Bei diesen Worten schwenkte er vielsagend eine Steinschleuder und Kon konnte ihn nur zu dem Entschluss beglückwünschen, die Welt endlich von „Sailormoon" zu befreien.

„Was ist denn das überhaupt? Ein Löwe oder ein Bär?"

„Egal, es ist hässlich und ich will es haben."

Moment…Anscheinend sprach der Junge gar nicht von der Puppe sondern von… IHM!

Kons Gedanken überschlugen sich. Er musste hier weg. Ganz dringend. Ganz schnell. Leider quäkte es schon wieder: „Ich bin Sailormoon..."

„Ach halt doch die Klappe!", brummelte Kon ärgerlich.

Inzwischen waren die drei Jungen and die Theke getreten und der Inhaber, der Kundschaft gewittert hatte, trat vor. „Na, wollt ihr einmal euer Glück versuchen. Drei Wurf nur 200 Yen."

„200?", rief der vorderste Junge, der offensichtlich der Rädelsführer der Gang war. „Das ist viel zu viel für deinen Trödel, Alter. Ich geb dir 50, das reicht ja wohl."

„Ihr vorlaute Bande"ärgerte sich der Mann nun und versuchte vergeblich, die Wurfbälle vor dem Jungen in Sicherheit zu bringen. Der hatte jedoch schon zugegriffen und mit einem treffsicheren Schuss, die aufgestellten Dosen unter Kon zum Einsturz gebracht. Entsetzt durch den Lärm hielt Kon sich die Ohren zu.

„Ich bin Sailormoon...", ging es sofort wieder los, doch das Gebrüll des Ladenbesitzers verschluckte den Rest.

„Wenn ich euch in die Finger kriege, könnt ihr euch auf was gefasst machen.", brüllte der Mann und Kon rechnete sich seine Chance aus, dass er einfach platzen würde und Kon somit zumindestens ein Problem weniger hätte. So aber schnaufte der Mann hinter seiner Theke hervor, um die Übeltäter zu vertreiben. Doch als er vor seinem Stand ankam, war bereits einer der Jungen über den Ladentisch geklettert, hatte sich Kon geschnappt und war schon wieder auf dem Rückzug.

„POLIZEI! DIEBE! MÖRDER!", schrie der Mann nun und verstellte dem Jungen seinen Rückweg. Der hielt Kon in die Höhe und wedelte mit ihm herum, so dass ihm ganz schwindelig im Kopf wurde.

„Aufhören, sonst kotz ich dir das Hemd voll.", versuchte er sich bemerkbar zu machen, doch der Junge war viel zu sehr damit beschäftigt, den Händen des Budenbesitzers auszuweichen, während seine Freunde, lachend und johlend hinter dem Mann standen und ihn anfeuerten.

„Na, los, das Vieh gehört dir."

„Du hast es schließlich gewonnen."

„Lass dich nicht erwischen."

„GIB ES SOFORT ZURÜCK. ICH WERDE DICH ANZEIGEN, DU ROTZBENGEL. GIB ES HER!", brüllte der Budenbesitzer noch lauter und hatte inzwischen schon das Aussehen eines gekochten Hummers angenommen.

Der Junge hielt Kon inzwischen nur noch an einem Bein fest und schwenkte ihn wie eine Fahne vor der Nase des auf und ab springenden, zornigen Mannes hin und her. Das war definitiv zuviel für Kon und in seiner Verzweifelung warf er alle Vorsicht über Bord und rief so laut er konnte:

„RUKIA! ICHIGO! HILFE!"

Aber im allgemeinen Lärm ging sein Geschrei einfach unter. Er schloss die Augen und wünschte sich einfach nur noch, dass es aufhört. Es sollte einfach nur aufhören. Aber es hörte nicht auf, es wurde noch schlimmer.

Der Budenbesitzer hatte Kons Kopf erwischt und zog jetzt daran. Der Junge hinter der Theke ließ jedoch nicht los und somit wurde Kon zum Gegenstand eines, für ihn höchst unangenehmen, Tauziehens. Er hörte schon, wie seine Nähte krachten und ergab sich in sein Schicksal. So würde er also enden: zerrissen auf einem Rummelplatz. Wenn er jemals die Gelegenheit bekommen hätte, zurück zu Rukia und Ichigo zu kommen, er wäre nie wieder weggelaufen. Nie wieder!

Alles drehte sich um ihn, er wurde immer noch geschüttelt und dann …hörte es plötzlich auf.

Kon öffnete vorsichtig die Augen und merkte zunächst, dass er sich immer noch in der Hand des Jungen befand. Die schien sich allerdings nicht in der richtigen Entfernung vom Boden zu befinden, was anscheinend daran lag, das jemand den Jungen einen Meter über dem Boden in der Luft festhielt und ihn gerade drohend anbrummte.

Vor Schreck begann der Junge zu zappeln und ließ Kon fallen. Der landete mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden und beschloss, erstmal ruhig liegen zu bleiben, für den Fall, dass ihn jemand sah.

„Danke, oh danke.", rief der Budenbesitzer nun. „Diese Flegel wollten mich ausrauben."

„Was wollten sie denn stehlen?", fragte eine weibliche Stimme, die Kon schon mal irgendwo gehört hatte. Er erinnerte sich, dass sie ihn angeschrieen hatte. Er grübelte.

„Oh, der ist aber süß.", hörte er gleich darauf und wurde von sanften Händen aufgehoben. Jetzt erkannte er auch die Stimme, die zu Anfang gesprochen hatte. Sie gehörte Tatsuki Tatsuki. Diejenige, die ihn auf so liebreizende Weise aus seiner Bodenlage befreit hatte, war nämlich niemand anders Inoue-San, bezaubernde Besitzerin der zwei süßesten Träume, die Kon in der letzten Zeit gehabt hatte. Und gegen eben diese wurde es nun gedrückt. Kon hätte schreien mögen vor Glück, wenn ihm nicht immer noch so schwindelig gewesen wäre.

„Ich hab ihn aber gewonnen.", wagte der Junge, den Sado immer noch am ausgestreckten Arm verhungern ließ, zu protestieren. Als ihm ein Blick von Tatsuki zuteil wurde, verstummte er jedoch schnell.

„Lass ihn runter, Sado, damit ich ihm seine vorlaute Klappe stopfen kann. Irgendjemand muss jetzt einfach an diesem ganzen Schlamassel die Schuld bekommen.", knurrte das Mädchen und schob die Ärmel nach oben.

Der Junge schluckt und grinste Sado schief an. „Könntest du mich vielleicht noch ein bisschen länger hier oben festhalten?"

Zwei Sekunden später befand auch er sich im Straßenstaub und beeilte sich, sich aus eben diesem zu machen. Schnaufend kam nun der Budenbesitzer dazu. „Ich habe die Polizei gerufen. Die wird sich...", er stutzte und sah sich um. „Wo sind sie denn hin?"

„Weg!", schnaubte Tatsuki nur. „Genau wie wir jetzt. Orihime, gib ihm das scheußliche Ding wieder und komm."

Der Mann wandte sich nun an Sado. „Ich möchte dir etwas geben, mein Junge. Die hätten mich glatt ausgeraubt, wenn du nicht gewesen wärst."

Der Ausdruck, der dabei in sein Gesicht getreten war, gefiel Kon überhaupt nicht. Er sah aus seiner, inzwischen recht angenehmen Position zu, wie der Mann etwas aus den Tiefen seines Gewandes zutage förderte. Er streckte es Sado mit einem schleimigen, unterwürfigen Grinsen entgegen.

Sados Blick wanderte von dem Lutscher, in der Hand des Mannes, zu dessen Gesicht, dann wieder zu dem Lutscher und schließlich zu Orihime. Er brummte und deutete mit der Hand auf sie und Kon.

„Ich will den Löwen.", sagte er ruhig.

„Was?", keuchte der Mann entsetzt. „Aber das geht doch nicht. Ich meine, das ist ein richtiger Gewinn aus meinem Geschäft. Wenn ich ihn euch geben, hätten ich ihn ja auch den Dieben überlassen können."

Sado sah nicht so aus, als würde ihm diese Antwort gefallen und auch Orihime drückte Kon ein wenig fester an sich. Der Mann wand sich, unter diesen Blicken.

„Ich geben ihn euch, wenn ihr ihn gewinnt. Drei Wurf, 200 Yen. Wie steht es damit?"

Sado blickte noch einmal kurz auf Kon und brummte zustimmend. Er griff in seine Hosentasche, förderte einen zerknitterten Geldschein zutage und griff nach einem der Bälle. Er warf und die zweite Pyramide aus Dosen stob in sämtliche Richtungen auseinander. Danach wollte er sich umdrehen und unter den ungläubigen Blicken des Budenbesitzers seinen Preis entgegen nehmen.

„Moment", hielt Tatsuki ihn zurück und mit einem Blick auf den Budenbesitzer meinte sie nachdenklich. „Er darf doch dreimal werfen, oder?"

Der Mann nickte.

„Und er bekommt bei jeder abgeräumten Pyramide einen Preis, oder?"

Erneutes Nicken.

Tatsuki sah Sado schief an. "Dann wirf nochmal. Ich will die da."

Kon folgte dem ausgestreckten Arm mit den Augen und verbarg das Gesicht dann lieber wieder zwischen Orihimes Brüsten. Das hatte er nun wirklich nicht verdient. Außerdem war es da sowieso viel schöner…