Kinder dieser Erde - Das weiße Kaninchen
Erik hatte die schmatzenden Schritte, die sich seinem Zelt langsam näherten, schon vor einigen Minuten bemerkt, bevor sie ihn schließlich erreicht hatten. Nur seiner guten Laune, die das Wetter in ihm geweckt hatte, war zu verdanken, dass er den Eindringling so höflich empfing, als er in Eriks Zelt trat und seinen Teppich verschmutzte.
Erik hatte halb erwartet einen diebischen, kleinen Zigeunerjungen bei seinem Versuch ihn zu bestehlen zu überraschen. Jedoch wurde er eines besseren belehrt, als die in grau-braune Umhänge und Decken gehüllte Gestalt sein Zelt betrat. Von Kopf bis Fuß vollkommen verhüllt, nicht einmal sein Gesicht war zu erkennen, ganz zu schweigen davon, dass Erik nicht einmal mit Sicherheit sagen konnte, ob ein Mann oder eine Frau vor ihm stand.
Allerdings, was hatte eine Frau bei diesem Wetter und zu dieser frühen Morgenstunde allein hier verloren? Nicht einmal die alten Zigeunerhexen trauten sich nach draußen.
„Es ist äußerst unhöflich ungefragt in die Räumlichkeiten anderer Leute einzudringen. Was wollen sie?"
Anstatt auf seine Frage zu antworten stand die Gestalt vollkommen regungslos am Eingang und starrte auf den Boden. Einige Minuten später, als Erik fast die Geduld mit diesem ungebetenen Besucher verlor, schien er aus seiner Erstarrung zu erwachen.
„Verzeihen sie bitte meine Unhöflichkeit…", hörte Erik die Gestalt leise murmeln, sodass es kaum hörbar war, selbst für ihn.
Die Stimme klang vollkommen erschöpft und kränklich, als koste es ihren Besitzer alle Kraft diese Worte zu sprechen.
„Mein Wagen ist in der Straße stecken geblieben, ich kann ihn nicht allein herausziehen… Sie sind der einzige Mensch weit und breit."
Jedes einzelne Wort verließ sehr langsam den Mund des Uhrhebers und trotzdem lag ein Flehen in der Stimme, das Erik ernsthafte Schwierigkeiten bereitet ihm zu widerstehen.
Er wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als die Gestalt unter dem Gewicht des nassen Stoffes bedrohlich zu schwanken begann. Mit wenigen schnellen Schritten war Erik bei dem unbekannten und fing ihn gerade noch rechtzeitig ab, als sein Kopf Bekanntschaft mit einer Holztruhe zu machen drohte. Erik hob die Person auf seine Arme und trug sie zu der Ansammlung von bunten Kissen und Decken, wo er wenige Augenblicke zuvor noch selbst gesessen hatte. Als er die Gestalt auf den weichen Untergrund gelegt hatte, begann er damit, sie von dem durchnässten Regenschutz zu befreien. Er entfernte die ersten zwei Lagen und machte eine Entdeckung.
Unter dem dicken Stoff kamen hellen Haarsträhnen zum Vorschein. Genau genommen waren sie nicht nur sehr helles Blond, sondern reinstes Weiß, dass im Schein der Kerzen zu leuchten schien, wie seine Maske. Noch nie in seinem jungen Leben hatte Erik weißes Haar gesehen. Neugierig geworden durch diese Entdeckung, fuhr er fort.
Bald lag sehr eindeutig eine große, schlanke Frau vor ihm, gekleidet in einen Kleid, dass die Farbe ihrer Haare teilte und das dank der dicken Verhüllung trocken geblieben war.
Seltsam war allerdings, dass die Ärmel des Kleides in angenähten Handschuhen endeten, anstatt offen zu sein, wie es normal gewesen wäre. Außerdem waren Gesicht und Hals von einem schleierartigen Tuch bedeckt, das ebenfalls auf irgendeine Art und weise am Kleid befestigt war. Es war nicht ein Zentimeter Haut zu sehen.
Eriks Faszination wurde jäh unterbrochen, als der Körper vor ihm unkontrolliert zu zittern begann und sich in Krämpfen schüttelte. Dieser Zustand hielt nur wenige Minuten an und die verkrampften Muskeln entspannten sich schnell wieder, sodass nur das Zittern zurückblieb. Erik holte sofort einige trockene, wärmende Decken und hüllte die unterkühlte Fremde darin ein. Bei diesem Wetter war es kein Wunder, dass es an jemandem, der es nicht gewohnt war, nicht unbeschadet vorüber ging. Nur Menschen, die schon ihr Leben lang dieser Witterung ausgesetzt waren, deren Körper daran gewöhnt war, konnten ohne zumindest eine Erkältung zu erlangen, an diesem Ort überleben.
Aber diese Frau stammte eindeutig nicht von hier, denn in ihrem durchaus flüssigen Russisch war ein deutlicher, französischer Akzent zu hören gewesen.
Während sich Erik daran begab aus mehreren verschiedenen Kräutern eine Arznei für die junge Frau herzustellen, die die Entstehung einer ernsthaften Erkrankung durch die Unterkühlung verhindern sollte, sinnte er über den verlauf dieser merkwürdigen Nacht nach.
Bevor er die sich nähernden Schritte im Morast vernommen hatte, war der Abend, zu seinem Wohlgefallen, äußerst ereignislos verlaufen. Er befand sich nun schon seit drei Tagen an diesem gottverlassenen Fleck Erde, denn die Regenfälle hatten stark zugenommen und eine Weiterreise unter diesen Bedingungen wäre reiner Selbstmord gewesen. Das Risiko irgendwo auf einer menschenleeren Straße im Schlamm zu versinken, war selbst ihm zu groß gewesen. So nutzte Erik diese Zwangspause auf seiner Reise nach Nischni Nowgorod, um sich seinen Studien zu widmen. Er hatte sich absichtlich einen Rastplatz fern ab der anderen Reisenden gesucht um so wenig wie möglich von seinen Aktivitäten abgelenkt zu werden und sein Bedürfnis nach menschlicher Gesellschaft war schon seit langem so gut wie nicht mehr vorhanden. Die menschliche Rasse bestand für ihn sowieso nur aus gaffenden, dummen Gestalten, mit einer perversen Lust sich am Leid anderer zu erfreuen.
Das bestätigte ihm jede seiner Zaubervorführungen, bei denen er zum Finale die Maske vom Gesicht nahm und die entsetzte Menge auf sein abartig deformiertes Gesicht starrte.
So saß Erik in dieser Nacht also mit einem alten Buch über Architektur auf einem Meer weicher, orientalischer Kissen und schwelgte in Erinnerungen an eine relativ glückliche Zeit. In einer anderen Zeit, in einem anderen Land.
Doch diese friedliche Nacht hatte ein abruptes Ende gefunden, als eine durchnässte, verschleierte Frau in sein Zelt eingedrungen war, seinen teuren Teppich verschmutzt hatte und vor ihm vor Erschöpfung und Kälte in Ohnmacht gefallen war. Diese Frau lag nun seit einiger Zeit Regungslos auf seinem Schlafplatz. Eigentlich war Erik daran gewöhnt Menschen bei der ersten Begegnung problemlos zu durchschauen, wieweit er auch wollte, doch diesmal war es anders. Er wusste so gut wie nichts über diese Frau, über ihren Charakter, ihr Leben. Und allein diese Tatsache hatte dafür gesorgt, dass er sie nicht in der Wildnis sich selbst überlassen hatte.
Erik hatte die Arznei fertig gestellt, kniete sich neben die bewusstlose fremde und Zögerte. Um ihr das Mittel zu verabreichen, müsste er zumindest den Schleier entfernen, der ihr Gesicht verhüllte. Außerdem wäre es von Vorteil, wenn er ihren Puls fühlen könnte, der Aufschluss über ihre Verfassung geben könnte. Aber wenn jemand auf dieser Welt dazu berechtigt war, die Gesichter anderer Leute zu enthüllen, war es dann nicht er?
Er hob eine Hand an den Saum des schwarzen Stoffes, um diesen anzuheben, als die Gestalt unter ihm unerwartet sich zu regen begann. Schnell vergrößerte der maskierte seinen Abstand zu der aufwachenden Person.
„W-was ist passiert?", fragte sie mit schwacher Stimme, die automatisch auf Französisch erklang.
Mühsam versuchte sie sich aufzurichten, doch selbst zu dieser einfachen Bewegung fehlte ihrem Körper derzeit die Kraft.
„Sie sollten liegen bleiben, Sie sind nicht annähernd in der Verfassung aufzustehen, meine Dame."
„Aber mein Wagen… meine Pferde." Sie klang ehrlich besorgt um diese Dinge.
„Bleiben Sie dort liegen, jeder Versucht aufzustehen wird sowieso misslingen und wenn ich Sie dort anbinden muss.", sagte Erik ohne jede Spur von Humor, was bewirkte, dass kein weiterer Versuch unternommen wurde, seinen Worten nicht Folge zu leisten.
„Gut, ich sehe wir verstehen uns. Nehmen Sie diesen Schleier nun ab, ich habe hier etwas, was Ihnen das Leben retten könnte, vorausgesetzt, dass Sie das wollen."
Die Frau zögerte offensichtlich, als würde sie mit sich ringen.
„Ist das wirklich nötig? Ich verlange ja auch nicht von Ihnen, dass Sie Ihre alberne Maske ablegen."
Mit dieser frechen Antwort hatte Erik nicht gerechnet. Nur mit Mühe gelang es ihm seine temperamentvolle Wut zu unterdrücken und diesem menschlichen Wurm nicht mit Leichtigkeit den Hals umzudrehen.
„Meine Dame, ich versichere Ihnen, dass ich Sie problemlos dazu… überreden könnte mir Folge zu leisten, aber ich würde es begrüßen, wenn Sie sich nun fügen würden. Es ist spät und meine Geduld ist sehr kurzlebig" Eine leise Drohung schwang unverkennbar in seiner schönen Stimme.
Wieder zögerte sie.
„Nun gut, aber zuvor müssen einige Laternen gelöscht werden. Es ist zu hell."
Erik wunderte sich zwar, was das nun wieder zu bedeuten hatte, tat aber wie ihm geheißen war und löschte sämtlich Kerzen, bis das Zelt nur noch von einer einzigen schwachen Flamme erhellt wurde. Letzten Endes war es sowieso egal, denn seine katzenhaften Augen sahen im Dunkel so gut, wie bei hellsten Tageslicht.
Die Frau auf seinem Lager hob erschöpft eine Hand zu ihrem dunklen Schleier und löste den Stoff von den Befestigungen an ihrem Kleid. Als der Schleier zu Boden glitt und ihr Gesicht entblößte, begriff Erik den Grund für ihre eigenartige Kleidung, den Grund dafür, dass sie mitten in der Nacht unterwegs war und den Grund für ihr Verlangen nach Dunkelheit. Unter dem weißen Haar der Fremden verbarg sich eine feine, dünne Haut von ähnlich heller Färbung. In der Tat war sie sogar so hell, dass sich unter ihr deutlich die blauen und grünlichen Blutgefäße sichtbar waren, wie Würmer, die unter der Haut herumkrochen. Wimpern und Augenbrauen waren wegen ihrer weißen Farbe kaum erkennbar.
Doch trotz dieser Mängel wirkte sie auf eine bizarre Art und Weise hübsch, was zweifellos an ihren sehr fein und zerbrechlich geschnittenen Gesichtszügen lag, die vor Jugend strahlten, beinahe kindlich wirkten. Dieses Gesicht musste seit sehr langer Zeit vor jeglicher Umwelt beschützt worden sein, denn jeder raue Windstoß, jeder Sonnenstrahl hätte seinen Schaden auf den sanften Zügen hinterlassen.
Aber dies allein war es nicht, was dazu führte, dass es Erik für einige Minuten unmöglich schien den Blick abzuwenden, ein Effekt, den er selbst viele Male bei seinem eigenen Publikum beobachtet hatte, wenn er seine hypnotische Stimme zu einem Lied erklingen ließ. Es waren die Augen der fremden, die ihn in ihren Bann zogen. Eingerahmt von den weißen Wimpern blickten zwei rote Augen zu ihm hinauf, deren Iris sämtliche normale Färbung fehlte und den Blick auf die roten Blutgefäße dahinter freigaben. Erik hatte zwar schon in Büchern Berichte über Albinismus gelesen, jedoch ließen sie niemals diese mystische und anziehende Wirkung, die er nun verspürte, erahnen.
Außerdem schienen diese Augen zwar so, als sähen sie ihn direkt an, aber dieser Schein trog.
Die junge Frau versuchte zwar ihn anzusehen, aber ihr Blick schaffte es nicht sich auf ihm zu halten, sondern streifte immer wieder ab und verschwamm. Schließlich gab sie es auf und lehnte sich erschöpft in den Kissen zurück. Der Bann, der von ihrem Blick ausging verlor seine Wirkung auf Erik und dieser besinnte sich wieder auf sein eigentliches Vorhaben.
Er reichte der fremden einen Becher, aus dem der wohlige Geruch verschiedener Kräuter in den Raum entfloh. Sie nahm ihn entgegen und trank misstrauisch einen Schluck der dunklen Flüssigkeit. Als der Saft ihre Zunge berührte musste sie sich beherrschen, um die bittere Medizin nicht direkten Weges wieder auszuspucken. Hustend würgte sie den Schluck herunter und sah wieder zu ihrem vermeintlichen Retter empor.
„Wäre es nicht sinnvoller gewesen diesem Gift einen angenehmen Geschmack zu verleihen? So ist es doch ein wenig zu sehr offensichtlich."
Wieder wurde sie von einem starken Hustenanfall geschüttelt, der ihr die letzten Kräfte raubte. Und wieder versank sie in einem tiefen Schlaf.
Ob er wollte oder nicht, huschte ein schwaches Lächeln über seine Lippen. Ja, wenn er gewollt hätte, hätte er ihr jedes Gift verabreichen können, dass sie sich nur denken konnte. Aber alles, was sie zum schweigen gebracht hatte, war lediglich eine Arznei gegen eine entstehende Grippe und ein Schlafmittel gewesen.
Jetzt, da sie schlief, traute sich Erik die Hand nach ihrem Hals auszustrecken und ihren Puls zu fühlen. Das regelmäßige Pulsieren war schwach, aber keinesfalls bedenklich, wenn man ihre Erschöpfung bedachte. Nur wenige Sekunden lagen seine Finger noch auf ihrer kühlen Haut, bis er sich schließlich wieder erhob.
„Sie hatte etwas von Pferden und einem Wagen gestammelt…"
