Kapitel 12

Chris steht starr vor dem Spiegel. Er betrachtet sein Spiegelbild. Seine schulterlangen, blonden Haare sind zerzaust. Seine blauen Augen sind zornig. In der Hand hält er eine Flasche Whiskey, die er unter ständiger Beobachtung seiner Selbst, an die Lippen setzt und trinkt. Der Alkohol brennt scharf in seiner Kehle. Mit einer Hand fährt er über sein glatt rasiertes Gesicht. Die Haut ist heiß, fast glühend.

Chris:

Ich weiß nicht ob ich jemals im Leben so wütend war wie jetzt. Nicht wütend auf mich, weil ich die Scheißwut versuche im Suff zu ertragen. Ich kann es nicht ertragen, aber so geht es leichter.

Ich bin wütend auf Jay. Er hat das, was mir gehören sollte. Er würdigt nicht das, dem ich mein Leben opfern würde. Er macht mich so scheißwütend, dass ich ihm am Liebsten die ganze Wahrheit in seine Kackfresse schreien würde. Einfach in ihn schleudern, wie ein Messer in den Magen. Aber das kann ich nicht, noch nicht. Vielleicht sage ich es ihm auch nie, denn das wäre taktisch unklug. Taktik wofür?

Taktik, um endlich die Frau zu erobern, die ich haben will!

Theoretisch kann ich jede Frau kriegen. Das hört sich für die meisten Leute sicher sehr hochgestochen an, aber es ist die Wahrheit. Ich hab es den ganzen Ungläubigen oft genug bewiesen. Doch wie so oft bekommt man nur die Frauen, die einem egal sind. Und die Frau, die man wirklich haben will ist vergeben. Ich habe noch nie im Leben eine Beziehung auseinander gebracht. Zumindest nicht von meiner Seite aus. Wenn die Frau ihren Typen wegen mir verlässt sehe ich das nicht als meine Schuld an. Aber die Frau, in die ich mich jetzt verguckt habe, denkt wahrscheinlich nicht einmal im Traum daran ihren Freund zu verlassen, vor allem nicht wegen mir. Sie weiß sicher nicht wie ich für sie fühle. Keiner weiß es. Und das wird mir die Sache hoffentlich auch erleichtern, wenn ich um Cycy kämpfe. Ja, ich werde mit allen Mitteln agieren, um sie, ihr Herz, zu erobern!

Es macht mich krank zu sehen, wie Jay, wie ein kastrierter Pudel, ständig hinter ihr her rennt. Er lässt sie einfach nicht in Ruhe. Ich muss sie allein erwischen, um meinen Plan durchziehen zu können. Und ich sehe meine Chance kommen, denn meine Herzkönigin ist tough und lässt sich von dem Milchbubi nicht alles gefallen. Sie ist nicht sein Spielball. Sie verweist ihn in seine Schranken. Zeuge davon gewesen zu sein, hat mein Herz nur noch mehr zur brennenden Rebellion gebracht. Ich werde ihr die Augen öffnen, dass sei einen Mann braucht. Einen Mann, der ihrem Ego schmeichelt und sie in den Himmel hebt. Ein Mann, der sie respektiert und beschützt. Und ich werde dieser Mann sein! Koste es was es wolle!

Ich bin mir darüber bewusst, dass ich einen meiner besten Freunde verlieren werde. Ich hätte nie gedacht, dass es wegen einer Frau wäre. Viele Menschen sind der Ansicht, dass Freundschaft mehr bedeuten sollte als Liebe. Das man eine Männerfreundschaft nicht durch eine Frau brechen lassen sollte. Aber die das sagen, haben sich nie richtig verliebt. Ich rede hier nicht von der Illusion, der sich die Mehrzahl der Menschheit hingibt, weil sie Angst davor haben jeden Morgen allein aufzuwachen, allein durchs Leben gehen zu müssen und im Alter sowieso allein sind. Sterben müssen wir ALLE allein. Wer weiß schon was wahre, echte Liebe ist? Bis jetzt habe ich nicht an die Liebe geglaubt. Ich glaubte an sexuelle Lust und körperliche Leidenschaft. Nun kenne ich die Bedeutung von Liebe: das Brennen im Herzen, unbändiges Verlangen, schmerzende Sehnsucht...

Wenn ich sie nur sehe, möchte ich vor ihr auf die Knie fallen und ihr meine Liebe gestehen.

Ich möchte sie in die Arme nehmen und ihre lieblichen Lippen küssen. Ich glaube, wenn sie mich berühren würde, würde ich explodieren. Als ich ihre Hand genommen habe, brannte ich bereits lichterloh. Ob sie es gemerkt hat und Jay deswegen so perfekt zerfetzt hat mit ihren Worten? Ich war und bin so stolz auf sie. Manchmal kommt es mir vor, als ob sie mein weibliches Gegenstück ist.

Ich würde sie auf Händen tragen, ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen. Es könnte so schön sein, wenn Jay nicht wäre. Aber ich weiß einige Dinge, die du noch nicht weißt, Jay. Du könntest es wissen, wenn du nicht immer wie ein Nichtsblicker durch´s Leben rennen würdest. Dies wird mein Vorteil sein. Und ich werde mein Wissen gern gegen dich als Trumpf ausspielen, um die Herzdame zu gewinnen. Wenn es nur schon soweit wäre! Ich hasse diese verdammte Warterei auf den verdammten, scheißrichtigen Zeitpunkt!

Ich frage mich sowieso was sie an dir unterpreviligierten Schimpansen findet, mit deinem schwulen Klamottenstil und deinem verkrüppelten Schwanz, den du für jeden sichtbar in deinen Tights platzierst.

Chris betrachtet nach wie vor sein Spiegelbild. Er sieht dem Mann gegenüber in die vom Alkohol getrübten Augen. Er hasst sich und die Welt, dafür, dass es ist wie es ist. Die ungeklärte Frage nach dem Warum spukt durch seinen Kopf. Alles bricht zusammen: seine bis jetzt komplette, perfekte Welt. Die Gewissheit der Verwundbarkeit, der Angreifbarkeit ist so deutlich wie nie zuvor.

Chris schüttelt den Kopf. Er kann es nicht ertragen. Er kann sein armseliges Bild im Spiegel nicht ertragen. Er nimmt einen weiteren, tiefen Schluck aus der Flasche. Er spuckt das Gesicht im Spiegel an, lässt die halbvolle Flasche auf den Boden fallen, die sofort zerspringt. Ein kehliger Schrei erfüllt den Raum, als er seine rechte Hand zu einer Faust geballt hat, ausholt und das Spiegelbild zertrümmert.

Chris lässt sich auf den mit Whiskey vollgezogenen Teppich fallen, betrachtet das Blut, was von seiner Hand auf den Teppich tropft. Er spürt die Schmerzen nicht, aber dennoch strömen Tränen durch seine geschlossenen Augenlider.