Kapitel 2
Der Junge, der schläft
Ziemlich außer Atem rettete sie sich durch die nächste Tür, schlug diese schnell zu und lehnte sich mit einem Seufzer dagegen. „Wieso schaffen die Schwestern in der geschlossenen Abteilung es nicht, dass ihre Patienten auch verschlossen bleiben!" brummelte sie erzürnt vor sich hin. Sie sah sich in dem Zimmer, welches sie betreten hatte um und blinzelte. Ihr Blick war immer noch ganz verschwommen aber sie war sich sicher, dass an der Wand ein Bett steht. „Hallo?" fragte sie vorsichtig „Entschuldigung, dass ich hier einfach so reingeplatzt komme und auch noch ohne anzuklopfen aber dieser irre Lockenkopf da draußen verfolgt mich schon die ganze Zeit, will mir Autogramme aufdrängeln und mir erklären, wie man am besten einen Troll fängt – ein totaler Spinner!"
Nichts, keine Antwort.
Sie tastete sich langsam in Richtung Bett um zu prüfen, ob dort jemand drin lag. Als sie es fast schon erreicht hatte, klappte die Tür hinter ihr.
„Was machen Sie hier? Wie konnten sie hier hereinkommen?" kamen die empörten Fragen der eintretenden Person.
„Ich hab mich hier vor diesem komischen Vogel gerettet. Läuft der immer noch vor der Tür rum? In welchem Zimmer bin ich hier überhaupt? Ich sehe zurzeit nicht besonders gut." Sie versuchte angestrengt die Person an der Tür zu erkennen.
„Das hier ist Zimmer 413 und hier hat niemand ohne Befugnis zutritt!"
In diesem Moment klappte die Tür erneut und ein Rotschopf kam herein. „Hallo Hermine, wie geht's Harry heu... oh, wer ist denn das?"
„Hallo Ron!" sagte Hermine „Das ist nur eine Patienten, die sich verlaufen hat und gerade wieder gehen wollte!"
„Ja, genau. Bin schon so gut wie weg." Allerdings war das gar nicht so einfach. Nachdem sie dreimal neben die Türklinke gefasst hatte und Ron sie mit verdattertem Gesicht beobachtete, half ihr Hermine die Tür doch noch zu öffnen und bat Ron, sie in ihr Zimmer zu begleiten.
„Hi!" sagte Ron „Mein Name ist Ron. Ron Weasley" „Aha" Kam die Antwort „Weasley wie Charlie Weasley?" „Ja, das ist mein Bruder, kennst Du ihn?" Ron verzichtete auf das förmliche ‚Sie', schließlich sah das Mädchen, dass da neben ihm herging nicht älter als er selbst aus.„Nein aber mit seiner Arbeit mit den Drachen hat er sich einen Namen gemacht." Sie gingen langsam den Flur entlang. Rons Begleiterin kniff die Augen zusammen, um nicht gegen Besucherstühle oder andere Patienten zu rennen.
„Ähm" stotterte Ron verlegen „Darf ich fragen, warum Du hier bist, was ist mit Deinen Augen passiert?"
„Ich bin in so einen komischen Strauch gefallen, der mich mit seinem Saft bespritzt hat. Ich hab's dummerweise in meine Augen bekommen, daher sehe ich immer noch alles ziemlich verschwommen."
„Achso" sagte Ron „Dann wünsch ich dir baldige Besserung"
„Danke"
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander weiter. Ron beäugte sie von der Seite. Sie hatte lange blonde Haare, die ihr weit über den Rücken fielen.
„Auf welchem Zimmer liegst du eigentlich?"
„128" kam die Antwort.
„Oh, da müssen wir aber in die andere Richtung!"
„Ach wirklich?" sagte die junge Frau und versuchte ein Wegweiserschild zu entziffern gab es aber sofort wieder auf und machte wie Ron kehrt.
„Danke, dass Du mich bringst. Allein hätte ich den Weg wohl nie zurückgefunden."
„Kein Problem!" Sie stiegen in den Fahrstuhl ein und Ron drückte den Knopf für die erste Etage.
Bevor sie vor der Tür zu Zimmer 128 ankamen, fragte Ron noch: „Du hast mir Deinen Namen noch gar nicht verraten." „Ich weiß" war die Antwort„Verrate mir, wer in dem Zimmer liegt und ich verrate dir meinen Namen." „Das darf ich Dir nicht sagen." Antwortete Ron schlicht. „Dann sind auch meine Lippen versiegelt." Sie verschwand in ihrem Zimmer und ließ den verdutzten Ron zurück.
Es war dunkel. Er konnte nicht die Hand vor den Augen sehen. Wo war er hier nur? Egal wo er hinging oder wie weit er schritt, er erreichte nie auch nur irgendein Ziel. Er rief, schrie nach irgendeinem weiteren Lebenszeichen. Manchmal konnte er Stimmen hören, leise Stimmen. Er konnte nicht verstehen, was sie sagten, konnte nicht erkennen aus welcher Richtung sie kamen. Er rannte und brüllte sich fast die Seele aus dem Leib um diejenigen, denen die Stimmen gehörten, zu erreichen doch immer erfolglos.
Er hatte kein Gefühl für Raum und Zeit. Er wusste kaum, wer er war. Er hatte nur unzusammenhängende Erinnerungsbrocken, an die er sich verzweifelt klammerte. Wie war er hier hergekommen, was war passiert? Und plötzlich hörte er sie wieder. Diese Stimme, sie musste zu einer Frau gehören und kam, so schien es, aus weiter Ferne. Wieder rannte er, rannte so schnell ihn seine Beine durch die Dunkelheit trugen. Ihm war, als würde er direkt ins Nichts laufen doch die leise Stimme ließ ihn nicht stehen bleiben. Vielleicht, vielleicht könnte er sie jetzt erreichen. Diese Stimme, sie war so angenehm. Sie schien ihn zu rufen – ja, sie rief einen Namen. Seinen Namen? ‚Harry'. Er hörte es ganz deutlich. Sie rief immer wieder ‚Harry! Harry komm zurück!' Harry, das war sein Name! Er war Harry! Er lief noch schneller doch die Stimme wurde leiser und verstummte schließlich gänzlich. Harry blieb erschöpft stehen und sank auf seine Knie nieder. Er wusste nun wieder, wer er war. Aber er wusste noch immer nicht, wo er hier war und wie er hier hingekommen war.
Er setzte sich in die allumfassende Schwärze auf den Boden und schlang seine Arme um die angewinkelten Knie. Saß er so Minuten, Stunden oder gar Tage da? Es war ihm gleich. Diese durchdringende Dunkelheit hatte ihn schon längst mürbe gemacht. Er konnte nicht schlafen, verspürte aber auch keinerlei Müdigkeit. Mit Essen und Trinken verhielt es sich ebenso. War er tot? Sollte der Tod wirklich aus purer Dunkelheit bestehen? Würde er dann für immer und ewig hier festsitzen? Nein! Auf keinen Fall! Das konnte nicht der Tod sein! Harry raffte sich auf. Er wollte nicht hier rumsitzen und warten, dass etwas passieren würde denn das würde es nicht, dessen war er sich sicher.
Als Ron zurück in Zimmer 413 kehrte, war Hermine immer noch da und studierte die Unterlagen auf einem Klemmbrett.
Ron setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett und blickte trübsinnig auf seinen alten Freund, der neben ihm lag. Das wuschelige Haar fiel ihm wie immer in die Stirn. Seine Haut war blasser als sonst und seine Augen in einen milchigen Schleier getaucht. Harry hatte die Augen zwar geöffnet aber er schaute niemanden an. Sein Blick ging ins Leere.
Hermine ging auf die andere Seite von Harrys Bett. Sie holte einen kleinen spitzen Stab aus der Tasche und nahm Harrys Hand. „Das hast Du doch schon so oft probiert und nie hat es etwas gebracht! Mußt Du ihn denn andauernd damit pieksen?" meinte Ron. Er war von den medizinischen Methoden der Muggel nicht sehr überzeugt. „Ron, das hab ich Dir doch schon erklärt! Ich will sehen, ob Harry irgendwelche Reaktionen zeigt. Es gab Fälle, wo man erst nach Jahren die ersten Reflexe wieder gesehen hat und deshalb werde ich es weiterversuchen!" Sie piekste leicht in alle Fingerkuppen und dann in die Mitte von Harrys Hand jedoch ohne Erfolg. Hermine gab einen leichten Seufzer von sich.
„Es ist nun schon so lange her! Diese Woche wird es ein ganzes Jahr, welches er hier mehr tot als lebendig liegt und wir können nichts tun!" sagte Ron mit müder trauriger Stimme. „Doch!" antwortete Hermine „Wir können etwas tun! Wir können an Harry glauben!" Eins konnte man Hermine zugute halten, sie gab nie auf! Ihr Eifer, etwas für Harry zu tun, und die daran gekoppelte Hoffnung hielt nicht nur Ron sondern auch alle anderen Freunde von Harry über Wasser. Hermine hatte es trotz der damaligen Ereignisse geschafft, glänzende Prüfungsergebnisse zu erzielen und in dem Verlangen, aktiv etwas für Harry tun zu können, fing sie eine Ausbildung im St. Mungo zur Heilerin und nebenbei noch ein Studium an der Londoner Uni für Medizin an. Sie war bestrebt, alles daran zu setzen, Harry helfen zu können und so war es ihr gleichzeitig möglich, jeden Tag bei Harry vorbeizuschauen.
Hermine drehte sich zum Fenster um „Er wird es schaffen, Ron! Er muß einfach! Er hat es doch bisher immer geschafft!" Eine Weile saßen sie noch schweigend bei Ihrem Freund bis Hermine ihren Kittel auszog und in ihre Tasche stopfte. „Ich muß zur Uni, meine Vorlesung fängt gleich an." Ron erhob sich ebenfalls „Ich muß auch los, Ginny wartet bestimmt schon auf mich. Bis Morgen." Die beiden Freunde verabschiedeten sich und das Krankenzimmer war wieder leer bis auf den Jungen, der einst überlebte und nun in einem tiefen Schlaf lag, aus dem er nicht mehr aufzuwachen schien.
Abgeschottet von der Außenwelt durften nur Harrys engste Freunde, autorisiertes Krankenhauspersonal und natürlich Dumbledore zu ihm. Sie besuchten ihn nahezu täglich und hofften, dass ihr Freund von da, wo er jetzt war, in ihre Welt zurückkommen möge. So vergingen Tage und Wochen, längst waren Herbst und Winter vorbei und auch der luftige Frühling wich langsam der sengenden Hitze des Sommers.
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