Kapitel 3
Zurück
Er hörte sie immer öfter, diese Stimmen. Sie riefen nach ihm. Baten, flehten ihn geradezu an, zu ihnen zurückzukehren. Er wollte es aber er wusste nicht wie. Harry war dem Verzweifeln nahe. Wieso passierte ihm das nur? Was passierte hier nur?
Mal kauerte er sich auf dem Boden zusammen, mal wanderte er wie blind in der Schwärze umher. Harry war hin und her gerissen zwischen Resignation und dem Drang, der Dunkelheit zu entfliehen. Jedes Mal, wenn er glaubte völlig am Ende zu sein, hörte wieder eine dieser Stimmen. Sie waren ihm so vertraut, als würde er ihren Klang schon seit langer Zeit kennen aber er konnte sich nicht erinnern. Waren sie seine Familie? Oder seine Freunde? Unscharfe Bilder mit schemenhaften Gestalten kamen in sein Gedächtnis doch er konnte sie nicht zuordnen.
Wieder rannte er. Zum unzähligsten Male versuchte er, den Rand seines Gefängnisses aus schwarzem Nichts zu erreichen. Abrupt blieb er stehen. Da war ein Punkt, ein winziger heller Punkt aber greifbarer als diese Stimmen, die ihn nun schon seit geraumer Zeit ständig begleiteten ohne zu verstummen.
Dieser Punkt, es war ein Ausweg. Es musste endlich ein Ausweg sein. Harry wollte ihn erreichen. Jede Faser seines Körpers war gespannt und darauf ausgerichtet, den Punkt hellen Lichts zu erreichen. Er kam näher. Er wurde größer. Wieder hörte er die Stimmen, die ihn anfeuerten. Er erkannte sie. Plötzlich war es wieder in seinem Kopf als wären ihm diese Gedanken nie verloren gewesen. Diese Stimmen, die ihn vor dem Wahnsinn bewahrten, sie gehörten seinen Freunden – Ron und Hermine – die Menschen, die für ihn einer Familie am nächsten kamen.
Harry rief nach ihnen. Das Licht kam näher. Hinter dieser Dunkelheit, da war er sich sicher, würden seine Freunde auf ihn warten, von dort aus riefen sie nach ihm. Er musste nur weiter auf das Licht zuhalten. Er würde es schaffen. Diesmal würde er es schaffen. Er konnte es fühlen.
„Harry sieh nur!" Hermine ging zum Fenster hinüber und öffnete es „Welch ein schöner Tag heute ist!" Sie schloss die Augen und eine sanfte Briese spielte in ihren braunen Locken. Die Sonnenstrahlen waren so angenehm auf ihrem Gesicht. Sie atmete tief ein. „Hm, es riecht gut! Nach Blumen." Sie blickte aus dem Fenster in die Ferne „Ach Harry, wo bist Du nur? Wie schön es wäre, wenn wir uns wieder unterhalten könnten. Komm doch zurück!" Doch wie immer erhielt sie keine Antwort.
Plötzlich flatterte etwas großes Weißes auf sie zu „Huch, Hedwig! Du willst sicherlich Harry besuchen. Na hoffentlich erwischen sie uns nicht. Eine Eule hat eigentlich nichts in einem Krankenzimmer zu suchen." Hedwig, Harrys treue Schneeeule schuhute und ließ sich auf Hermines Arm sitzend zum Bett hinüber tragen.
Hedwig schnäbelte sanft gegen Harrys schlaffe Hand und blickte Hermine mit fragenden bernsteinfarbenen Augen an. „Hedwig, es tut mir leid. Harry geht es noch nicht besser. Kannst du das verstehen? Ich denke schon, ich kenne keine klügere Eule als dich. Jetzt musst du aber wieder los fliegen. Nimmst du den bitte Ginny mit?" Hermine kritzelte schnell ein paar Sätze auf ein Stückchen Pergament und band dieses an Hedwigs dargebotenes Bein.
Harrys Eule hatte Unterschlupf im Fuchsbau gefunden, Ginny und Ron lebten dort noch immer bei ihren Eltern. Die anderen Weasleys hatten ihre Kinderstube längst verlassen. Es war für Ron keine Frage gewesen, dass Hedwig so lange bei ihm bleiben konnte, bis es Harry wieder besser ging.
Nachdem die Eule durch das Fenster wieder verschwunden war, setzte sich Hermine auf ihren Stuhl neben Harrys Bett und holte ein Buch hervor. Sie hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, bei Harry zu lernen. Sie war sich sicher, dass wenn Harry viel Gesellschaft von seinen Freunden hatte, dies dazu beitragen würde, dass er wieder aufwacht.
So war Hermine voll und ganz mit Lernen beschäftigt, las in ihrem Buch, machte sich Notizen auf einer großen Rolle Pergament, schlug etwas in einem anderen Buch nach und las wieder in ihrem ersten Buch weiter, dass sie erst gar nicht bemerkte, wie sich im Bett neben ihr etwas regte.
Hermine glaubte kaum, was sie sah. Harry hatte tatsächlich den Kopf zur Seite in Richtung Fenster gedreht und es sah so aus, als würde er nicht mehr ins Leere sondern in den strahlend blauen Himmel schauen.
Hermine sprang von ihrem Stuhl und hockte sich vor das Bett. Sie wedelte mit der Hand vor Harrys Gesicht. Dieser zeigte keine Reaktion sondern blickte wie durch seine Freundin hindurch weiter aus dem Fenster.
Hermine rannte über den Flur des Krankenhauses und rief nach dem zuständigen Heiler. Vom lauten Tumult auf dem Flur gestört, kam dieser aus einem Zimmer am anderen Ende des Ganges. „Was ist denn hier los? Das ist ein Krankenhaus und kein Ru … " Doch weiter kam er nicht. Hermine hatte ihn schon erreicht „Kommen sie schnell! Harry, er ist…!" „Was ist mit Harry?" Ohne eine Antwort abzuwarten, rannte er in Harrys Zimmer gefolgt von Hermine, sah zuerst das offene Fenster und Harry, der offenbar hinausschaute. „Harry!" Er ging schnell zum Bett hinüber. "Harry bist du wach? Kannst du mich hören?" Harry antwortete nicht, blickte nur weiter in den blauen Himmel und schien dabei zu lächeln.
Die nächsten Wochen vergingen wie im Flug. Täglich hatte Harry mehrere, wenigstens jedoch einen Besucher. Seine Freunde, Remus , die Weasleyfamilie und die Zauberer, die Harry beim Orden des Phoenix kennen gelernt hatte, kamen und gingen. Harry konnte anfangs zwar kaum sprechen oder sich bewegen da seine Stimmbänder und die Glieder eingerostet waren von der langen Nichtbeanspruchung aber auch das würde bald wiederkommen, da waren sich alle sicher Harry, würde bald wieder völlig der Alte werden. Die Heiler flößten ihm jeden Tag verschiedene Zaubertränke ein die seinen Körper stärken und die Muskeln aufbauen sollten. Sie mussten es langsam angehen um Harry nicht zu überanstrengen.
So lange wie Harry in seiner Welt verloren war, so verbissen kämpfte er nun darum, wieder gesund zu werden. Die Tränke zeigten rasch ihre Wirkung. Harry war bald lebendig wie früher, wie er da in seinem Bett saß und unternahm auch schon kleine Spaziergänge meist in Begleitung von Ron und Hermine. Die Enge seines Krankenzimmers erdrückte ihn und er wollte so oft wie möglich hinaus. Am letzten Julitag feierten alle seinen Geburtstag. Viele kamen, es gab Kuchen und so viele Geschenke wie noch nie für Harry. Ron und Hermine wichen Harry nicht von der Seite; Dumbledore hatte das Funkeln in seinen Augen zurück; Molly Weasly weinte vor Glück bis sie Fred und George erwischte, die ein paar ihrer neuesten zauberhaften Zauberscherze ausprobierten, und sie mit Schimpftiraden belegte, wie sie denn so etwas in ein Krankenhaus bringen konnten. Remus, der viel kranker aussah als sonst kam in Begleitung von Tonks – sie sahen zusammen sehr glücklich aus und Harry fragte sich, was er noch alles verpasst hatte. Sogar Moody hatte ein buntes Hütchen auf, dass alle paar Minuten Konfetti aus seiner Spitze über Moodys Umhang sprühte. Es herrschte regelrecht eine ausgelassene Feierstimmung, die Erleichterung stand allen ins Gesicht geschrieben bis Harrys Heiler alle aus dem Zimmer jagte, der Patient brauchte schließlich noch immer Ruhe.
Schon bald bettelte Harry regelrecht darum, entlassen zu werden. An diesem Punkt drängte sich ihm allerdings auch die Frage auf, wohin er denn eigentlich gehen wollte. Auf keinen Fall zu den Dursleys zurück, soviel stand fest.
Aber das war nicht die einzige Frage, die sich ihm aufdrängte. Harry, am Fußende seines Bettes sitzend, schaute versunken in seinen Gedanken aus dem Fenster. Langsam wurde es dunkel. Er konnte sich an jene Nacht nicht erinnern. Dumbledore hatte ihn gefragt was in der Nacht vor nun schon mehr als einem Jahr passiert ist. Dumbledore hatte ihm erzählt, dass er mit Voldemort gekämpft hat aber er hatte keinerlei Erinnerung mehr. Es schwebte in einer dunstigen Wolke wie ein Traum, von dem man weiß, dass man ihn geträumt hat aber man kann ihn einfach nicht mehr fassen. Schließlich fiel er falsch herum im Bett liegend in einen tiefen traumlosen Schlaf.
Als er wieder erwachte stand die Sonne schon hoch, es musste bereits nach zehn sein, und die gleißenden Strahlen ließen ihn blinzeln. „Wozu brauchen denn Deine Füße das Kopfkissen?" „Was?" antwortete Harry. Erst jetzt bemerkte er seinen alten Schuldirektor neben dem Fenster stehen. „Oh, ich bin nur falsch herum eingeschlafen. Warten Sie schon lange? Sie hätten mich wecken sollen." Harry fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, wie lange Dumbledore wohl schon gewartet, dass er aufwachte und ihn im Schlaf beobachtet hatte. Er rieb sich so unauffällig wie möglich den Schlaf aus den Augen und strich durch sein verwuscheltes Haar. „Harry ich würde Dich gern auf ein Wort sprechen. Was hältst Du davon wenn Du Dich fertig machst und wir dann zusammen frühstücken? Ich warte solange draußen." Ohne eine Antwort von Harry abzuwarten, schritt der ehrwürdige Zauberer zur Tür und ging hinaus. Harry beeilte sich um Dumbledore nicht noch länger warten zu lassen. Wollte er noch einmal mit ihm über den Kampf mit Voldemort sprechen? Er hatte doch schon gesagt, dass er sich nicht erinnern konnte. Wenn dem so ist, würde er ihm dasselbe noch einmal sagen.
Sie fuhren mit dem Fahrstuhl in den fünften Stock ins Restaurant des Hospitals. Harry knabberte lustlos an seinem Toast mit Marmelade während Dumbledore ohne umschweife zu reden begann „Harry, hast du dir schon Gedanken gemacht, was du jetzt tun wirst?" „Ja! Nein! Ich meine , ich habe schon überlegt aber ich weiß noch nicht so genau, nur zu den Dursleys geh ich auf keinen Fall zurück!" Dumbledore lächelte „Das dachte ich mir schon." Er nahm einen Schluck aus seiner Teetasse „Harry ich möchte dir ein Angebot machen und hoffe, du wirst es annehmen." Harry blickte gespannt in das Gesicht seines Gegenüber „Du konntest deinen Abschluss auf Hogwarts nicht zu Ende bringen. Ich weiß, dass du immer Auror werden wolltest aber ohne Abschluss wird daraus nichts. Selbst wenn du einen anderen Berufsweg gehen möchtest, ein Abschluss ist meist unentbehrlich. Ich biete dir daher die Möglichkeit, deinen Abschluss auf Hogwarts nachzuholen." Harry blickte ihn sprachlos an. Zurück in die Schule, war das sein Ernst? „Das neue Schuljahr steht kurz bevor und du kannst als Gast in Hogwarts alle Fächer besuchen, die du benötigst und am Ende des Jahres zusammen mit den Siebtklässlern deine Prüfung ablegen. Natürlich ist dies nur ein Angebot aber ich hoffe du wirst es dir wohl überlegen und zum richtigen Entschluss kommen." „Ähm …" Harry stierte auf seinen Teller. An die Möglichkeit, nach Hogwarts zurück zu kehren hatte er noch gar nicht gedacht. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte und nach Hogwarts zu gehen wäre erst einmal eine Perspektive. „Harry nimm dir Zeit für deine Entscheidung" sagte Dumbledore, der Harrys Unentschlossenheit offenbar bemerkt hatte „Du kannst mir jederzeit ein Eule schicken. Hogwarts Tore stehen offen für dich. Und jetzt entschuldige mich bitte, ich bin noch mit dem Minister verabredet und außerdem kommt dort Miss Granger, sie möchte sicherlich ihre Mittagspause mit dir verbringen." Und so stand Dumbledore auf, grüßte mit einem Zwinkern Hermine und schlenderte zu den Fahrstühlen.
„Hallo Harry, wie geht es dir heute?" Hermine verstaute ihr übliches Sammelsorium an Büchern auf den freien Stuhl neben Harry und setzte sich ihm gegenüber auf den Platz, den Dumbledore soeben freigegeben hatte.
Harry schaute seine Freundin noch immer ganz entgeistert an „Ich soll zurück nach Hogwarts." Sagte er tonlos „Bitte?" Hermine blickte nur unverständlich zurück und Harry berichtete ihr von dem soeben geführten Gespräch. „Harry, das ist toll!" Hermine war im Gegensatz zu Harry sofort hellauf begeistert, für sie bestand kein Zweifel dass Harry zurück an seine alte Schule für Zauberei zurückkehren würde. „Du könntest deine ganzen alten Fächer wieder belegen und alles noch mal im Unterricht wiederholen. Du könntest in allen Fächern ein Ohnegleichen schaffen –schließlich hattest Du einen Teil des Stoffes schon einmal- und Auror werden, dass wolltest du doch immer!" Hermines Begeisterung färbte sich ein ganz kleines bisschen auf Harry ab. Er könnte vielleicht wirklich Auror werden, zumindest hätte er jedoch mit einem Hogwartsabschluss die Chance, in der Zauberwelt einen Job zu bekommen. Das Geld seiner Eltern in seinem Verlies in Gringotts würde schließlich nicht ewig reichen. Irgendetwas musste er tun und Hogwarts war ein guter Anfang fand er. „Ich werde Dumbledore heute Nachmittag Hedwig mit meiner Zustimmung schicken." Grinste er zu Hermine hinüber „Harry das find ich super! Ich würde auch gern mal wieder in Hogwarts vorbeischauen, meinst du wir könnten dich dort besuchen? Ich werde einfach mal Dumbledore fragen wenn ich ihn das nächste Mal sehe." Mit einem gewissen Gefühl von Sicherheit im Bauch biss Harry nun herzhaft in seinen mittlerweile kalten Toast. Er würde also nach Hogwarts zurückkehren. Was würde wohl Ron dazu sagen. Er konnte schon das Gesicht seines rothaarigen Freundes vor sich sehen und musste lachen.
Ende Kapitel 3
