Leonel: Boromir kommt in dieser Story nicht ganz so gut weg wie sonst. In dieser Story wird seine leichte Verführbarkeit offenbar. Das nächste Kapitel wird ziemlich tragisch...

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Kapitel 15: Die Tragödie nimmt ihren Lauf

Gandalf ritt so schnell wie noch nie in seinem langen Leben. Nur wenige Tage nach seinem Aufbruch aus Bree, erreichte er die Pforte Rohans. In einem kleinen Dorf in der Westfold gönnte er sich die erste längere Rast. Macar, sein treuer Grauschimmel, brauchte unbedingt ein wenig Ruhe. Gandalf starrte auf seinen Stab und dachte an seinen Freund, Gwaihir, dem Fürst der Adler. Gwaihir hatte ihm schon oft in Notsituationen geholfen. Aber es war nicht fair, ihn in dieser Sache um Hilfe zu bitten. Was ging dem Fürsten der Adler schon Faramir an? Schließlich handelte es sich nur um den Zweitgeborenen eines Menschenherrschers. Der Zauberer ahnte, dass er Gwaihir einmal für wichtigere Dinge brauchen würde. Er umklammerte seinen Stab so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Selten war er so verzweifelt und so machtlos gewesen wie jetzt.

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Zum ersten Mal betrat Alatariel die Privatgemächer Faramirs. Nachdem sein Vater offiziell erlaubt hatte, dass er mit der Elbenkriegerin seine Freizeit verbringen durfte, führte der junge Mann sie nun in seine Zimmer. Staunend sah Alatariel sich um. Sie hatte eigentlich vermutet, dass ein Heerführer Gondors seine Räume mit Waffen und Rüstungen vollgestopft haben musste. Aber dem war nicht so: Faramirs Räume waren behaglich eingerichtet. Es gab schöne Teppiche auf den Steinböden und viele Gemälde an den Wänden. Die meisten davon hatte Faramir selbst gemalt.

Nur das Gemälde seiner Mutter stammte von einem anderen Künstler. Alatariel betrachtete die junge Frau mit dem langen blonden Haar auf dem Gemälde.

„Das ist Finduilas von Dol Amroth, meine Mutter", sagte Faramir leise. „Sie starb noch jung : keine dreißig Jahre wurde sie alt."

„Das tut mir sehr leid", murmelte Alatariel bedrückt.

„Ich habe kaum Erinnerung an sie", fuhr Faramir fort. „Ich war knapp fünf Jahre alt, als sie starb."

Alatariel erwiderte nichts darauf. Sie sah sich die anderen Bilder an: sie zeigten Boromir, Denethor und einen gutaussehenden Mann mittleren Alters mit schwarzen Haaren und gütigen, grauen Augen. Faramir erklärte ihr, dass dieser Mann sein Onkel Imrahil war, der Fürst von Dol Amroth.

Sie betraten das nächste Zimmer. Dort gab es gemütliche Sessel und einen großen Schrank, der mit vielen Büchern und Schriftrollen gefüllt war. Alatariel entdeckte auch die Harfe und die Flöte, die auf einer Truhe lagen.

„Soll ich dir etwas vorspielen, Liebste?" fragte Faramir lächelnd und küsste sie verspielt auf die Wange.

„Oh ja, bitte", sagte die Elbin begeistert und ließ sich ihn einem der Sessel nieder.

Faramir ergriff die Harfe und begann zu spielen. Er sang sogar noch dazu. Er hatte einen schönen, wohlklingenden Tenor. Ergriffen lauschte Alatariel. Das Lied, das Faramir sang, war sehr traurig. Es handelte vom Untergang Númenors.

„Das war ein wunderschönes Lied, Faramir, aber so tieftraurig", meinte Alatariel ergriffen.

Faramir legte die Harfe wieder auf die Truhe zurück.

„Es ist mein Lieblingslied", erklärte er lächelnd. „Ich träume oft von Númenor und seinem Untergang."

Er beugte sich zu ihr hinunter und verschloß ihren Mund mit einem innigen Kuss. Alatariel erwiderte ihn leidenschaftlich. Schließlich nahm Faramir sie wortlos an der Hand und führte sie in sein Schlafgemach. Das große, breite Bett wirkte sehr einladend. Daneben befand sich ein Schreibpult. Interessiert betrachtete die Elbin das aufgeschlagene Buch auf dem Schreibpult. Es war in einer schönen Handschrift angefertigt, jedoch noch nicht fertig.

„Das ist ein Buch über Númenor, an dem ich gerade schreibe", erzählte Faramir verlegen. „Ich schreibe schon über fünf Jahre daran. Ich muß immer wieder in die Archive gehen und mir die alten Schriftrollen durchsehen, damit ich nichts Falsches schreibe. Leider habe ich nur wenig Zeit. Ich bin in erster Linie Heerführer Gondors und kein Gelehrter."

„Doch, du bist ein Gelehrter", sagte Alatariel leise und strich ihm zärtlich über seine bärtige Wange.

Faramir ergriff sie an den Händen und küsste sie wieder. Wie gerne hätte er sie jetzt in seinem Bett verführt. Doch er wusste, dass er nicht so weit gehen durfte. Und so blieb es bei langen, zärtlichen, süßen Küssen. Schließlich äußerte Alatariel den Wunsch, sich in ihr Gemach zurückzuziehen. Höflich geleitete sie Faramir dorthin. Sie hatte das brennende Verlangen in seinen Augen gesehen und war dankbar, dass er sich so gut beherrscht hatte. Eine innere Stimme sagte ihr, dass er nicht für sie bestimmt war.

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Denethor beobachtete von einer Nische im spärlich beleuchteten Korridor aus, wie sich die beiden jungen Leute voneinander verabschiedeten. Es war jetzt Zeit, zuzuschlagen. Er wollte die Sache so rasch wie möglich hinter sich bringen. Schließlich wusste er, dass er sich auf Boromir nicht mehr voll verlassen konnte. Er selbst fühlte sich ja nicht wohl bei der Sache.

Der Truchseß ging schnell in seine Privatgemächer und füllte Rotwein aus einer Karaffe in einen Kelch. Dann holte er die Phiole mit dem Gift hervor. Es war eine grünliche Flüssigkeit. Norna hatte ihm versichert, dass es ein absolut geschmack- und geruchloses Gift war. Es würde von einer Sekunde zur anderen wirken. Angeblich würde man eine halbe Stunde später aus dem Kelch trinken können, ohne Schaden zu nehmen.

Denethor zitterte, als er das Gift in den Kelch goß. Dann brachte er persönlich den Weinkelch zu Faramir.

Der junge Mann war sehr erstaunt, als sein Vater ihm persönlich einen „Schlummertrunk" – wie er es nannte – brachte.

„Arbeitest du noch ein wenig an deinem Buch über Númenor?" fragte der Truchseß interessiert, während Faramir dankend den Wein entgegennahm.

„Du weißt davon?"

Faramir war mehr als erstaunt.

„Ich weiß vieles", entgegnete Denethor knapp.

Er fühlte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete. Dies war also nun die allerletzte Konversation, die er mit seinem Zweitgeborenen führte. Er spürte, wie er weiche Knie bekam.

„Entschuldige mich", sagte er schließlich und verließ rasch Faramirs Gemächer. Verwundert sah ihm der junge Mann nach. Das Verhalten seines Vaters war heute schon den ganzen Tag mehr als merkwürdig gewesen.

Gerade eben, als Faramir den Kelch zum Trinken ansetzen wollte, klopfte es erneut. Er stellte den Kelch hin und öffnete die Tür. Es war Alatariel.

„Ich vermisse meine Halskette", sagte sie verzweifelt. „Sie ist ein Geschenk von Frau Galadriel. Vielleicht habe ich sie vorhin in deinem Schlafgemach verloren, als wir uns... küssten."

Sie wurde ein wenig rot.

„Komm, wir suchen die Kette", sagte Faramir lächelnd.

Alatariel und er mussten eine Weile suchen, bis sie die Kette fanden. Sie lag unter dem Schreibpult. Die Elbin war ganz erhitzt vom Suchen und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Hier, trink von dem Wein, wenn du Durst hast", bot Faramir an.

Das ließ sich Alatariel nicht zweimal sagen. Sie trank den Kelch halbleer.

Sie bekam plötzlich keine Luft mehr. Der Kelch entglitt ihrer Hand und fiel mit einem scheppernden Laut auf den Steinboden.

„Faramir!" ächzte sie mit letzter Kraft und fiel in seine Arme.

Rasch fing er sie auf und legte sie sanft auf das Bett nieder.

„Ich...liebe...dich", stammelte Alatariel mit letzter Kraft.

Faramir war völlig durcheinander. Er konnte nicht fassen, was gerade vor sich ging. Plötzlich wurde die Tür zu seinen Gemächern aufgestoßen.

„Faramir, trink um Eru willen nicht von dem Wein!" schrie Boromir lauthals.

Dieser starrte seinen Bruder an.

„Was ist mit dem Wein?" fragte Faramir tonlos.

„Der Wein ist vergiftet", fuhr Boromir hastig fort. „Ich musste dich warnen. Ich konnte es einfach nicht für mich behalten."

Faramir taumelte. Er spürte, wie sich alles um ihn zu drehen begann. Eine eiserne Klammer legte sich um sein Herz.

„Bei den Valar, sie ist tot!" stieß Boromir entsetzt hervor, als er sich über Alatariel beugte.

Faramir war es, als ob sein Bruder aus weiter Ferne zu ihm spräche.

„Boromir, warum hast du mich verraten?" murmelte Faramir leise.

Dann kippte er um. Boromir gelang es gerade noch, ihn zu packen, bevor er knallhart auf den Steinboden aufschlug. Vorsichtig schleifte er ihn zu einem der Teppiche und legte ihn darauf.

„Faramir, hörst du mich?" fragte er verzweifelt. „Hast du auch von dem Wein getrunken? Faramir!"

Doch der junge Mann hörte ihn nicht. Er hatte einen schweren Schock erlitten und jetzt umfing ihn ein tiefes Koma. Seine blauen Augen standen halb offen. Boromir hatte das schreckliche Gefühl, dass Faramir nicht mehr atmete. Er schrie laut auf. Es war zu spät.