3. Sterbende Liebe
Wieder saß Inu Yasha am plätschernden Fluss, jedoch einige Kilometer weiter südlich. Die Landschaft war ähnlich, wie an jenem Tag mit Kagome, doch diesmal wirkte sie ganz anders auf ihn. Das Land kam ihm unendlich groß vor und er fühlte sich allein und einsam. Das Wehen des Windes ließ ihn frösteln, denn die Sonne schien so weit weg, dass sie ihn nicht mehr erreichen konnte und er von einer kalten Aura umgeben fror. Das Rauschen des Wassers machte ihn nervös und aggressiv, er wusste selbst nicht warum. Unruhig riss er mit beiden Händen Gras aus der Erde, bevor er es fallen ließ und erneut Halme abriss.
Er lehnte sich nach vorne und blickte in das Spiegelbild seiner selbst im Wasser. Zwei breite, weiße Strähnen hingen ihm wie immer im Gesicht, seine Lippen wirkten extrem dünn und gefährlich, seine Haut war blass und seine Augen blitzten gefährlich. ‚Sie hasst mich!' Er öffnete mit der Kralle seines Zeigefingers einen Kratzer in sein Gesicht und erneut floss ihm das warme, dicke, flüssige, rote Etwas über seine Haut. Aber es störte ihn nicht. Er sah sein Spiegelbild noch immer angeekelt an. ‚Sie hasst mich zurecht! Ich bin verabscheuungswürdig. Ein gefühlsloses Lebewesen, aus Fleisch und Blut, und doch nichts Ganzes und nichts Halbes, weder Dämon noch Mensch! Ein Mischling!' Er verzog das Gesicht zu einer Fratze und zerstörte mit einer Handbewegung im Wasser sein Spiegelbild. ‚Aber bald! Bald bin ich ein vollwertiger Dämon! Dann hasst mich keiner mehr, dann fürchten mich alle! Ich werde Sessohmaru zeigen, wer der bessere von uns beiden ist und dann bin ich der Stärkste und Mächtigste von allen!' Er grinste.
„Kagome, mach doch bitte die Tür auf!", rief ihre Mutter vom Flur und drückte die Klinke runter. Doch aus dem Raum kam keine Antwort, kein Lebenszeichen. Das Mädchen lag auf ihrem Bett und vergrub ihr Gesicht in ihrem Kissen. Tränen liefen ihr in Bächen die Wangen runter und durchnässten den warmen Stoff. Sie krallte ihre Finger noch fester in das Bettlaken, sodass ihre Knochen knackten. Sie zitterte, obwohl die Sonne warm ins Zimmer schien, und ihr Atem ging nur stoßweise.
„Warum? Warum hat er mich weggeschickt? Er hat alles kaputt gemacht. Dabei hab ich ihm doch gar nichts getan!" Sie schniefte und strich sich die nassen, im Gesicht klebenden Haare hinter die Ohren. „Warum Inu Yasha?", flüsterte sie traurig, „ich hatte doch nichts von dir verlangt. Wir waren so was wie Freunde. Ich hab dir geholfen, wie du mir. Warum sagst du solche Dinge? Warum sagst du, dass du mich hasst? Es tut so weh, so schrecklich weh. Mein Herz, es brennt, als wollte es zerbrechen. Warum hast du mir das angetan? Ich... ich mag... ich liebe dich doch, du Scheißkerl! Ich liebe dich..." Ihre Stimme war immer leiser geworden und die letzten Worte verschwanden geradezu in ihrem Kissen. Sie rollte sich wie ein kleines Kind zusammen und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen „Warum?"
‚Da ist doch wer!" Er hielt die Nase unauffällig in die Luft und schnüffelte, bevor er aufstand und auf die paar Bäume einige 100 Meter hinter ihm zu ging. Es war selbst für seine guten Augen niemand zu erkennen, aber er wusste, dass sie da war, er spürte es, wie er es immer gespürt hatte.
„Wir haben uns lange nicht mehr gesehen!", sagte eine Frauenstimme, als der Hundedämon direkt vor einem bestimmten Baum stehen geblieben war. „Komm runter!", murrte er. Eine schwarzhaarige Frau in rot-weißem Kimono schwebte von einigen Seelen umgeben aus dem Baum heraus und landete leichtfüßig vor ihm. „Schlecht gelaunt?", fragte sie lächelnd und streichelte einer der Seelen über den Kopf.
„Du solltest damit aufhören, Kykio!", sagte er mit vor der Brust verschränkten Armen. „Du weißt, dass ich das nicht kann, Inu Yasha!", sagte sie kaum noch lächelnd. „Doch du kannst es!", entgegnete er stur. „Du willst, dass ich aufhöre? Willst du etwa, immer noch, dass ich sterbe?", fragte sie sauer und entsetzt zugleich, wobei sie ihm direkt in die Augen sah. „Immer noch? Du weißt genau, dass der mittlerweile tote Naraku dich damals getötet hat!", knurrte er. „Wo ist der Unterschied? Du hast ihn getötet, er mich! Also hast eigentlich du mich getötet!", schnurrte sie provozierend. „Du weißt, dass das Quatsch ist. Du wolltest ihn doch auch umbringen. Ich hatte eben eben die Gelegenheit und hab sie genutzt!", grinste er. „Aber du willst, dass ich wieder sterbe, wegen der Kleinen!", sagte sie kalt. „Ich will nur, dass du die Seelen der Menschen in Ruhe lässt! Und lass Kagome da raus!", sagte er locker. „Du weißt, dass ich ohne sie nicht leben kann!", meinte die Priesterin, „außerdem denke ich, dass Kagome hierbei eine wichtige Rolle spielt!" „Nein, das tut sie nicht. Ich habe sie weg geschickt, ich hasse sie!", antwortete er trotzig, „außerdem lebst du schon lange nicht mehr, Kykio!" „Ach nein? Können das hier auch Tote?"
Blitzartig hatte sie ihre Arme um seinen Hals geschlungen und ihre Lippen auf die seinen gedrückt. Vor seinen Augen erschien ein Bild: Kykio und er. Sie standen in einer Wiese voller bunter, prächtiger Blumen in inniger Umarmung und küssten sich. Automatisch legte er seine Arme um sie und zog sie näher zu sich. Die Priesterin presste sich an ihn und ihre Zunge drang in seinen Mund ein. Er spürte ihre Wärme, roch ihren Duft.
Aber plötzlich veränderte sich das Bild, ihre schwarzen Haare wurden immer kürzer und der Kimono verwandelte sich in Rock und Shirt. Vor ihm stand nicht länger Kykio, sonder Kagome. ‚Kagome!', dachte er traurig. Auf einmal spürte er keine Wärme mehr. Kykios Lippen waren eiskalt, genau wie ihre Körper. Entschlossen schuppste er sie von sich weg. Mit großen Augen starte sie ihn wütend an.
„Vielleicht bist du nicht tot, aber lebendig bist du auch nicht,. Dein Körper ist ganz kalt, denn ein Mensch kann nicht allein von der Rache leben. Das musst du langsam verstehen, Kykio!", sagte der Halbdämon und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. Ihr Gesicht verzog sich noch mehr. „Du gehörst mir, Inu Yasha! Wir waren ein Paar. Das hast du jawohl nicht vergessen!", entgegnete sie sich selbst beruhigend. „Ich werde es nie vergessen! Aber es liegt mehr als 50 Jahre zurück und heute liebe ich dich nicht mehr!", gab er sie ansehend zu. ‚ Ich hab es wirklich gesagt! Ich liebe sie nicht mehr. Warum nur ist mir das nicht eher eingefallen?' Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. „Rede doch nicht so einen Mist! Klar liebst du mich?", flüsterte sie sauer. Erneut ging sie auf ihn zu, doch r hielt sie auf Abstand. „Nein, das tue ich nicht. Kykio, ich liebe dich nicht, ich liebe eine andere!", sagte er ebenfalls leise.
Noch bevor er über seine Worte nachdenken konnteöffnete er mit einer Hand ihren Mund und flößte ihr eine bläuliche Flüssigkeit ein, die Kaede ihm einst gegeben hatte. „Geh wieder zurück, Kykio!", sagte er lächelnd und mit sanfter Stimme. Sie zog eine Fratze. Die Seelen schwebten davon und sie begann langsam sich aufzulösen. „Warum?", hauchte sie traurig. „Es ist das beste für dich!", lächelte er noch immer. Kurz bevor sie endgültig verschwand, huschte noch ein letztes Lächeln auf ihrem Gesicht und sie hob kurz die Hand zum Winken, zum Abschied. Auch er hob die Hand und ließ sie oben bis Kykio schließlich verschwunden war. Er starrte noch eine Weile auf die leere stelle, wo sie gestanden hatte. Ihr Duft wurde von dem Wind für immer weg geweht und er war wieder allein, ganz allein.
Eine Weile schwelgte er mit den Gedanken in der Vergangenheit. Dann schweifte sein Blick in die Ferne. Kurz genoss er die Freiheit. Doch dann plagte ihn die Einsamkeit auch schon wieder und er ging zu den anderen zurück. Irgendwie hatte er sich an Sango und Mirokus Gestreite gewöhnt und brauchte es vielleicht sogar. Im Gegensatz zu früher, hielt er es nicht mehr allzu lange aus, alleine zu sein – schon seltsam. Allerdings erwartete ihn bei der kleinen Hütte auf der Lichtung, wo sie übernachten wollten, eine böse Überraschung.
Fortsetzung folgt