12.Lebensträume

Langsam ließ sie sich neben ihm zu Boden sinken, strich ihm sanft mit der Hand die blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht. Sie waren gegangen und er hatte sich noch immer nicht gerührt. Ihr Fluch hatte ihn stärker getroffen, als sie es beabsichtigt hatte.

Leblos lag er da, das Haar unordentlich um seinen Kopf herum ausgebreitet, die schwarze Robe zerknittert und verrutscht. Seine Augen blickten starr geradeaus. Narzissa konnte nicht sagen, ob er sie überhaupt wahrnahm.

„Verzeih mir", sagte sie leise und küsste ihn dann sanft auf die Stirn.

„Ich musste es tun, Lucius, weißt du… es… nicht nur ihretwegen, sondern auch wegen uns, Lucius… oh Lucius…" Für einen Moment hielt sie Inne und sah ihn an. Seine Gesichtszüge noch immer von Entsetzen gezeichnet, so als wollte er ihr ihren Verrat vor Augen halten.

„Bei Merlin, Lucius. Ich wollte dich nicht verletzen, aber… wieso hast du es nie verstanden? Warum nie begriffen, wovon ich all mein Leben geträumt habe? Nicht von Macht, nicht von all dem Reichtum, den du angehäuft hast. Nein… nein… ich wollte einfach nur ein bisschen Wärme. Doch wir haben beide versagt… Draco gegenüber, uns gegenüber."

Sie nahm sanft seine Hand.

„Ich wünschte du könntest mir dies verzeihen…"

Eine Träne lief ihre Wange herab und tropfte auf seine dunkle Robe, wo sie langsam versickerte.

Sie ließ seine Hand los und stand langsam auf. „Ich weiß dass du mich für dies alles töten könntest, aber… vielleicht begreifst du es irgendwann. Unser beider Leben ist zerstört. Deines, weil du nie die Macht erlangen wirst, die du dir einst gewünscht hast und meines… meines weil ich das Monster in dem Mann erblickt habe, den ich einst liebte."

Langsam drehte sie sich von ihm fort und ging zur Tür.

„Wir haben keine Träume mehr zu träumen", sagte sie, bevor sie die Tür hinter sich schloss und den leblosen Lucius Malfoy zurück ließ.

„Mutter?"

Narzissa hatte den Mantel tief in das Gesicht gezogen, feine Regentropfen perlten die Kapuze herab und tropften auf ihre Hände und den kleinen Koffer, den sie mit sich führte.

„Kann ich herein kommen?"

„Ähm… ja… sicher." Draco trat einen Schritt beiseite und wies seiner Mutter einzutreten.

Es war ein kleines Landhaus, das er bewohnte. Es lag unweit von London. Lucius hätte es als primitiv bezeichnet, doch für Narzissa war es in diesem Augenblick der wundervollste Ort der ganzen Welt. Sie stellte ihren Koffer in den schmalen Eingangsflur und ließ ihren Mantel von den Schultern einfach zu Boden gleiten. Dann ging sie an Draco vorbei in den Raum, in dem sie die Wohnstube vermutete.

Es war ein kleiner Raum, klein, wie alles in diesem Haus. Ein Kamin, in dem ein Feuer glühte und den Raum in ein warmes rotes Licht tauchte. Ein alter Holzschreibtisch auf dem sich allerlei Zettel stapelten und eine Sitzgruppe aus dunklem Leder links vom Kamin. Die zwei kleinen Fenster waren mit weinroten Vorhängen verhangen.

„Was kann ich für dich tun, Mutter?"

Draco war hinter ihr in den Raum getreten.

„Darf ich mich setzen?"

„Sicher." Draco ging an ihr vorbei, setzte sich in den Sessel und deutete auf das Sofa. „Bitte."

Narzissa setzte sich, sah Draco dabei an. Er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem Vater in jungen Jahren und doch war er ganz anders. Seine Gesichtszüge waren feiner und das grau seiner Augen dunkler. Er trug sein Haar offen, es war genauso glatt wie Lucius Haar, doch noch eine Spur heller. Er war attraktiv, sehr sogar. Narzissa lächelte, doch er erwiderte ihr Lächeln nicht.

„Also, was kann ich für dich tun, Mutter? Schickt Vater dich? Was will er?" Seine Stimme war so kalt, dass es Narzissa wehtat. Was hatte sie getan, um soviel Kälte erleiden zu müssen? Es war ihre eigene Schuld, Draco hatte nie so etwas wie Wärme erfahren. Wie sollte er da anders reagieren?

„Nein, Vater schickt mich nicht… ich…" Narzissa spürte wie Tränen in ihr aufstiegen. Nicht weinen, bitte nicht jetzt, nicht vor deinem Sohn.

„Mutter, was soll das? Was willst du von mir."

Narzissa wandte den Blick ab und starrte in das Feuer, sie spürte das kühle Feucht in ihren Gesicht und wünschte noch immer, dass er es nichts sah.

„Ich habe ihn verlassen…", sagte sie leise.

„Was?" Sie konnte Dracos Unverständnis aus seiner Stimme heraus hören.

„Ich habe deinen Vater verlassen, Draco." Und dann drehte sie sich zu ihm um. „Ich kann nicht mehr zurück."

„Aber du… du weinst ja…" Zum ersten Mal hörte Narzissa so etwas wie Zärtlichkeit aus seiner Stimme heraus.

„Er ist ein Monster, Draco, er ist… ich kann nicht mehr bei ihm bleiben, jetzt nicht mehr. Er hat alles kaputt gemacht. Ich hasse ihn." Sie barg ihr Gesicht in den Händen. Er sah alles und sie schämte sich für ihre Schwäche. Doch mit wem sollte sie reden, wenn nicht mit ihm? Ihrem Sohn?

Vorsichtig setzte er sich neben sie und legte einen Arm um sie. Narzissa spürte, wie er einen Moment zögerte und sie dann zu sich heran zog.

„Was ist passiert?"

Sie schüttelte leicht den Kopf. „Nicht jetzt… nicht heute…", flüsterte sie und lehnte sich gegen Dracos Schulter, wie sie sich einst gegen die Schulter ihres Ehemannes gelehnt hatte.

„Egal, was es ist… du kannst hier bleiben. Du musst nicht zu ihm… Mutter. Du…" Er strich ihr sanft über das lange Haar. Sie konnte seine Verlegenheit spüren, seine Schüchternheit, die er angesichts der plötzlichen mütterlichen Nähe empfand.

„Ich liebe dich, mein Sohn", sagte sie und zog ihn sanft zu sich heran, „das habe ich immer."