Der zweite Spiegel
Miamis Sonne war schon lange untergegangen und mit ihr war auch die Wärme verschwunden, die sie verbreitete. Statt dessen wehte es nun kühl vom Meer her und hohe Wellen schlugen gegen die Küste. Die Palmen bogen sich, doch wie immer würden sie standhalten. Horatio Caine stand an dem Fenster seines dunklen Büros und sah zu, wie sich der Wind in der nachtschwarzen Landschaft austobte. Bald würde es anfangen zu regnen und mit dem Regen würden noch mehr Spuren verloren gehen. Er fragte sich, ob auch das vom Mörder mit eingeplant gewesen war. Sein Handy klingelte und für einen winzigen Moment zögerte er, den Anruf entgegen zu nehmen.
„Horatio."
„Hallo, hier ist Catherine Willows aus Las Vegas." Verwundert drehte er sich vom Fenster weg und machte die Lampe auf seinem Schreibtisch an.
„Was kann ich für Sie tun?"
„Wir haben Ihren aktuellen Mord mit VICAP gefunden, es scheint, als hätten wir ein und denselben Mörder. Wir haben einen jungen Studentenüberseht mit Schnittwunden. Alles inklusive einer geheimnissvollen Nachricht über Zerbrechlichkeit." Horatio fühlte sich mit einem Mal seltsam taub. Es war schlimm genug, dass es in Miami geschah, aber jetzt hatte der Täter noch in einer anderen Stadt mit seinem perfiden Spiel begonnen. „Horatio? Sind Sie noch dran?"
„Ja", er räusperte sich. „Ich schlage vor, dass ich Ihnen unser Material faxe. Wir haben die Leiche der Studentin gefunden."
„Ich tippe auf ein Einschussloch zwischen den Augen?"
„Sieht so aus. Näheres weiß ich erst nach der Autopsie." Er schaute auf seine Armbanduhr. „Wie wäre es, wenn wir morgen um 11 Uhr eine Videokonferenz abhalten. Meine Leute sind zwar noch im Labor, aber ich würde sie gerne erst einmal nach Hause schicken. Ist das in Ordnung?"
„Sicher. Wir schieben hier auch schon Doppelschichten." Er konnte an ihrer Stimme hören, dass sie lächelte. „Dann bis morgen."
„Bis morgen", sagte er und legte auf. Hinter seinem Rücken konnte er hören, wie schwere Regentropfen gegen das Fenster prallten.
Samuel Orwin saß in einem bequemen Sessel ins seiner geräumigen Wohnung und sah zu, wie der Regen Miami in eine Schlammwüste verwandelte. Ein selbstzufriedenes Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht, als er den Rotwein in dem Kristallglas schwenkte und einen Schluck trank. Das Trommeln der Tropfen gegen seine Balkontür wurde mit einem Mal von der Melodie des Kanons von Pachelbel übertönt. Mit einer geschmeidigen Bewegung erhob sich Samuel und ging zu der Kommode aus dunklem Holz, auf der sein Telefon stand.
„Samuel Orwin", meldete er sich.
„Hallo", begrüßte ihn die melodiöse Stimme von Sophie Lear und er entspannte sich ein wenig. „Wie geht es dir?"
„Gut. Sie zermartern sich gerade ihre klugen Köpfe über die Verbindung zwischen ihren Städten."
„Ah, dann haben sie also endlich VICAP benutzt?" Sie klang belustigt und er starrte abwesend auf das Rotweinglas in seiner Hand.
„Ja ... Rate mal, wie das Wetter hier ist", forderte er sie auf.
„So wie du klingst, gut für dich und schlecht für alle anderen." Sie lachte über ihren eigenen Scherz.
„Es regnet ... also wird die kleine Amy schon heute von ihrem Elend erlöst." Er stellte das Glas auf die Kommode. „Ich muss los, bis bald." Das Gespräch wurde beendet, bevor Sophie etwas erwidern konnte.
Die Flure des Labors in Miami hatten sich gelichtet und nur noch vereinzelt waren Mitarbeiter zu sehen. Die meisten waren zu Hause und erholten sich von einer Doppelschicht, beziehungsweise bereiteten sich auf die nächste vor. Sie nutzten ihre rare Zeit um mit ihren Partnern romantisch zu essen, ihre Kinder zu Bett zu bringen oder auch um sich ein Footballspiel im Fernsehen anzuschauen. Für einen kurzen Zeitraum verbannten sie jeden Gedanken an die grausamen Verbrechen in dieser Stadt aus ihren Köpfen und wiegten sich in der Illusion, dass sie sicher waren.
„Auf dem Weg nach Hause, hoffe ich", hallte Adell Sevillas Stimme über den Flur und erreichte Horatio.
„Eigentlich ja. Ich wusste nicht, dass du noch hier bist. Irgendetwas über die Fangschaltung heraus bekommen?" Sie holte zu ihm auf und schüttelte ihren Kopf.
„Nur eine nicht gespeicherte Telefonnummer und dieser Anruf war zu kurz. Ich nehme an, er war es, der dir den Fundort von Jennas Leiche gesagt hat?" Er nickte müde. „Hast du es den anderen schon erzählt?"
„Nein. Sie hatten genug mit der Spurensicherung zu tun." Er bemerkte ihren auffordernen Blick. „Ich werde es ihnen morgen sagen. In Ordnung?"
„Ja. Gute Nacht", verabschiedete sie sich und ließ ihn alleine im Flur stehen. Erneut klingelte sein Handy und er nahm ab.
„Horatio."
„Sie müssen mir wirklich mal erklären, was sie gegen ihren Nachnamen haben", die verzerrte Stimme klang amüsiert.
„Wer sind Sie?" Horatio war sich darüber im Klaren, dass er darauf keine vernünftige Antwort bekommen würde, aber vielleicht konnte er ihn so hinhalten.
„Das ist egal – noch. Viel wichtiger ist ... der zweite Spiegel ist heute zerbrochen." Auch dieser Anruf endete unvermittelt und Horatio rieb seine Augen. Die kurze Erholungspause war damit beendet und als er sich wieder auf den Weg ins Labor machte, orderte er sein Team zurück.
