Neue Gesichter
Miamis aufgehende Sonne versteckte sich immer noch hinter einer grauen Wolkenschicht. Anscheinend hatte sich das Wetter in den Kopf gesetzt, sich entsprechend der Stimmung im CSI-Labor zu geben. Diese war düster und es fehlte nicht viel und sie würde in Hoffnungslosigkeit umschlagen. Horatio spürte das deutlich, als er durch die Flure ging, die sich nun langsam wieder mit Leben füllten. Gerade eben hatte er eine Mitteilung bekommen, dass die Mutter von Jenna Kenson eingetroffen war. Sie wohnte in Tallahassee und hatte es nicht eher geschafft, nach Miami zu fahren. Jetzt war sie hier und es wartete kein erfreuliches Gespräch auf sie. Horatio holte tief Luft, bevor er die Tür zum Verhörraum öffnete.
Maggie Kenson saß zusammengesunken auf einem Stuhl und spielte nervös mit ihren Fingern. Ihr Blümchenkleid hatte schon vor langer Zeit den größten Teil seiner Farbe verloren und ihre blonden Haaren umrandeten ihre eingefallenen Wangen.
"Guten Morgen, Mrs Kenson", begrüßte Horatio sie und verbannte jede Spur von Müdigkeit aus seiner Stimme. Diese Frau hatte es verdient, dass er ihr seine ganze Aufmerksamkeit widmete.
"Wo ist meine Tochter? Haben Sie sie gefunden" Maggies Stimme war dünn und zitterte.
"Es tut mir aufrichtig leid, aber ihre Tochter ist tot." Maggies blassblaue Augen füllten sich mit Tränen und sie begann zu schluchzen.
"Sie war doch erst seit einem Semester hier! Sie hat nichts getan ... " Horatio spürte einen Kloß in seinem Hals.
"Da bin ich mir sicher", versicherte er der trauernden Mutter und berührte ihre Hand um ihre Beachtung zu erlangen. "Wollen Sie vielleicht ein Glas Wasser haben", bot er ihr an und sie bejahte. Er stand auf und goss ihr Wasser aus einem Glaskrug ein.
"Danke", sagte sie leise und trank einen Schluck, während er sich wieder setzte.
"Ich tue das hier wirklich nicht gern, aber ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen. Fühlen Sie sich dazu in der Lage" Sie starrte ihn einen Moment an und nickte dann fast unmerklich. "In Ordnung. Hat Jenna jemals den Namen Amy Stuart erwähnt"
"Nicht, dass ich wüsste. Sie hat mir jede Woche einen Brief geschrieben, wie toll sie alles hier findet, aber eine Amy? Nein."
"Hat sie einen festen Freund oder so etwas in der Art erwähnt? Irgendwelche Schwierigkeiten mit anderen"
"Nein, sie hatte doch gar keine Zeit dafür. Sie hat so hart gearbeitet um hierher zu kommen." Maggie schüttelte ihren Kopf. "Wieso wollen Sie das wissen" Horatio wusste, dass er ihr eine Antwort schuldete.
"Mrs Kenson, wir glauben, dass ihre Tochter das Opfer eines Serienmörders ist, genauso wie Amy Stuart. Wir suchen nach Verbindungen zwischen den beiden." Maggie hatte nun begonnen, das Glas in ihren Händen hin und her zu drehen.
"Serienmörder? Aber ... aber Sie werden ihn doch finden, oder? Ich meine, bevor er das noch mehr Menschen antut." Einmal mehr berührte Horatio ihre Hände.
"Ja, das werden wir. Versprochen."
"Wie steht es mit dem ballistischen Report", fragte Horatio Calleigh, als er Jennas Mutter verabschiedet hatte.
"Fertig", antwortete sie. "Das selbe Kaliber wie in Las Vegas, aber die Einprägungen durch den Pistolenlauf passen nicht - also eine andere Waffe."
"Ein weiterer Beweis für unsere Zwei-Mörder-Theorie", er stützte seine Hände in die Hüfte.
"Wie war das Gespräch mit der Mutter", fragte sie.
"Wenig aufschlussreich. Jenna scheint ein braves Mädchen gewesen zu sein, jedenfalls weiß ihre Mutter nichts Gegenteiliges. Die Durchsuchung ihres Zimmers im Studentendenwohnheim hat ja auch nichts gebracht. Wir stehen immer noch bei Null." Calleigh legte ihm ihre Hand auf den Arm.
"Wir werden ihn finden."
"Mhhm." Er ließ seinen Blick durch das Labor schweifen. Durch die Glaswand sah er Tim, der seinen Kopf auf die Tischplatte gelegt hatte und schlief. "Wir sollten uns einen neuen Spitznamen für Speed ausdenken", sagte er lächelnd und Calleigh folgte seinem Blick. Sie begann zu grinsen. "Lassen wir ihn noch eine Weile schlafen", meinte Horatio, während er sich auf den Weg zu seinem Büro machte um einen wichtigen Anruf zu tätigen.
Wenig später saß Titia Chambers in einem Flugzeug nach Miami und blätterte durch die Akten ihres neuen Falles. Horatio Caine hatte eine Profilerin angefordert und sie war die nächstbeste gewesen, die man entbehren konnte. Sie war ziemlich klein, hatte eine Stupsnase und intelligente braune Augen, die beständig nach etwas zu suchen schienen und zu ihrer Hautfarbe passten. Überhaupt entsprach sie nicht den gängigen Vorstellungen einer FBI-Agentin, sondern eher denen einer hauptberuflichen Chaotin. Dieser Eindruck wurde sicherlich auch von ihrem kurzen, schwarzen Haar verstärkt, das zu jeder Tages- und Nachtzeit so aussah, als wäre sie gerade aus dem Bett gefallen. Aber nicht nur wegen ihrer Haare, sondern auch durch ihre meist bunt angehauchte Kleidung hatte sie den Ruf einer Exzentrikerin erworben.
Titia Chambers hatte sich einen schwarzen Mietwagen genommen und während sie hoffte, die richtige Ausfahrt genommen zu habenüberlegte sie, ob es in Miami überhaupt einen geschlossenen Raum ohne Klimaanlage gab. Wahrscheinlich nicht, entschied sie, das wäre einfach zu grausam. Schließlich sah sie an der Straßenseite gelb-schwarzes Absperrband auftauchen und trat abrupt auf die Bremse. Hinter ihr hupte jemand und schaffte gerade noch so ein Ausweichmanöver, aber sie bekam davon nicht mehr viel mit. Mit wenigen Schritten hatte sie das Auto hinter sich gelassen und die Absperrung überwunden.
„Ma'am, was machen ... ?" Sie beantwortete die Frage des Polizisten mit dem Zeigen ihrer FBI-Marke. Sie lächelte, als sie sich dem Fundort von Jenna Kenson näherte. Es war immer wieder bemerkenswert, wie diese kleine Marke Türen öffnen und Münder zum schließen bringen konnte. Doch diese Überlegungen verschwanden, als sie in der offenen Schuppentür stand und ein kleines Diktiergerät aus einer Tasche ihrer dunkelgrünen Wolljacke hervorholte. Das hier war bei weitem nicht der erste Tatort, den sie sah und er war nicht einmal besonders erschreckend, wie makaber das auch klang. Hätte man nur einen kurzen Blick darauf geworfen, wäre man wahrscheinlich auf die Idee gekommen, dass sich hier jemand mit einer Säge oder so etwas in der Art verletzt hatte, nichts schlimmes. Nichts an diesem tristen Ort deutete wirklich darauf hin, dass hier ein Leben ausgelöscht worden war. Und doch wurde sie die Vorahnung nicht los, dass dies erst der Anfang war. Nicht nur der Anfang einer Mordserie, sondern von etwas Anderem, Tiefergehenden ... sie konnte es nur noch nicht fassen, es war als versuchte sie Nebel einzufangen. Schließlich gab sie diesen Gedanken auf und konzentrierte sich auf ihre eigentliche Arbeit – diesen Bastard zu enttarnen.
Ein Blick auf die Uhr verriet Gil Grissom, dass es kurz vor neun Uhr war, also elf Uhr in Miami und damit Zeit für ihre Videokonferenz. Er erlaubte sich zu hoffen, dass der Informationsaustausch etwas bringen würde, denn sie waren immer noch nicht weitergekommen. Jede mögliche Spur, die sich hatten, löste sich selbst auf. Irgendwie kam ihm die Midgardschlange, die sich selbst in den Schwanz biss, in den Sinn. Bei diesem Vergleich musste er lächeln.
„Woran denkst du gerade?", fragte Sara, die den Gang entlang kam.
„An die nordische Mythologie." Sie sah ihn fragend an. „Irgendetwas gefunden?"
„Catherine sagt, die Erde von Jacks Schuhen enthält nichts, was auf einen bestimmten Ort hinweist. Wahrscheinlich Campus-Erde. Warrick und gehen nachher noch mal dorthin und befragen ein paar Leute. Jemand muss etwas gesehen haben." Ihre braunen Augen leuchteten voller Entschlossenheit und Tatendrang, obwohl sie ihr Bett wahrscheinlich vor zwei Tagen das letzte Mal gesehen hatte.
„In Ordnung. Dann sehen wir mal, was die Kollegen in Miami zu sagen haben."
Speed war wieder wach und alles andere als erfreut, dass jeder ihn schlafend gesehen hatte, als sich das Team zur Videokonferenz versammelte.
„Jemand hätte mich wecken können", beschwerte er sich, erntete dafür aber nur amüsierte Blicke.
„Lass uns doch auch mal unseren Spaß", erwiderte Alexx und setzte sich neben ihn.
„Verbindung steht?", fragte Horatio, der nun auch den Raum betrat.
„Yep, H", bestätigte Eric. An der Vorderseite des Tisches war ein großer Bildschirm, der einen Konferenztisch tausende Meilen entfernt zeigte.
„Guten Morgen", grüßte Horatio die Mitglieder des CSI-Team in Las Vegas. Ihre müden Gesichter spiegelten die seiner eigenen Leute wieder, aber ihm entging auch nicht der aufmerksame Blick von Gil Grissom. Dann stellten sie sich alle vor und fühlten sich dabei ein wenig seltsam.
„Um sie auf den neuesten Stand zu bringen, ich habe eine Profilerin angefordert. Ich denke, sie dürfte uns eine große Hilfe sein", begann Horatio das eigentliche Gespräch. Er meinte für einen kurzen Moment beobachtet zu haben, wie sich in die Augen von Grissom Abneigung mischte, aber es war nur flüchtig und sofort überlagerte der professionelle Ausdruck in ihnen wieder alles andere. Schließlich übernahmen die anderen das Gespräch und Horatio lehnte sich gegen die Wand und verschränkte die Arme. Er überlegte immer noch, ob er dem anderen Team von den Anrufen erzählen sollte. Doch nach weiteren zehn Minuten Unterredung entschied er sich dagegen, er wollte erst Titia Chambers Meinung dazu einholen. Apropos Ms Chambers, wo war sie? Suchend blickte er durch die Glastür hinaus auf das Labor, das nun endlich wieder voller Leben war. Es war ein vertrauter Anblick und er tat gut. Doch die Profilerin war nicht zu sehen.
Titia Chambers fluchte laut vor sich hin, als sie ihren Mietwagen vor dem Polizeihauptquartier Miamis parkte. Sie war noch eine ganze Weile am Fundort hin und her gewandert, natürlich immer darauf bedacht, nicht irgendwelche Spuren zu zerstören, und hatte versucht sich ein Bild zu machen. Wirklich gelungen war ihr das nicht, alles war immer noch diffus und ohne Konturen. Danach hatte sie sich unversehens in einem wunderschönen, langwierigen Verkehrstau wiedergefunden. Miami hatte schon jetzt ihr Herz erobert. Mit einem lauten Knall schlug sie die Wagentür zu und lief so schnell wie möglich in das CSI-Labor. Sie war noch nie vorher in einem gewesen, gewöhnlich rief sie die normale Mordkommission zu Hilfe, und so stand sie auf einmal völlig unvorbereitet inmitten der vielen Laborgeräte. Das hier war ungewohnt für sie, sie beschäftigte sich mit Menschen, mit ihren Seelen und den unzähligen Masken, die sie oft zur Schau stellten. Aber hier regierte das Abstrakte. Formeln und Beweise waren gefragt, nicht Instinkte und Möglichkeiten. Zumindest dachte sie das. Aber das hier war Miami und das Labor wurde von Horatio Caine geleitet.
„Miss Chambers?", eine freundlich klingende Stimme holte sich in die reale Welt zurück.
„Ja ... Lt. Horatio Caine?" Er nickte und musterte sie. Sie wirkte nicht wie eine FBI-Agentin. Unter ihrer grünen Wolljacke lugte ein sonnengelbes T-Shirt hervor und auch die dunkelblauen Jeans wollten nicht so recht passen. Anscheinend hatte sie seinen Blick bemerkt. „Ich weiß, ich seh' nicht, als wär' ich wirklich von einer Bundesbehörde, aber Sie können gern meinen Ausweis sehen", bot sie ihm an. Er winkte ab.
„Ich glaube Ihnen auch so. Gehen wir in mein Büro?"
Oben angekommen setzte sie sich ihm gegenüber vor den Schreibtisch.
„Okay, ich brauche einen Schreibtisch, Zugang zum internen Netzwerk und natürlich alles was Sie haben – auf dem neuesten Stand. Auf dem Weg hierher hab' ich mir den Fundort der Leiche angeschaut, also brauchen Sie niemanden abzustellen um ihn mir zu zeigen. Ach ja, ich würd' auch gern mal mit ihrer Pathologin reden." Er kannte Titia Chambers erst seit fünf Minuten, aber schon jetzt mochte er sie. Sie schien zielstrebig, energisch und erinnerte ihn auf merkwürdige Art und Weise an ein Glühwürmchen, das immer unterwegs war.
„Kein Problem." Sie spürte, dass er etwas zurückhielt.
„Was noch?", fragte sie und er erzählte ihr von den Anrufen.
