Gefallener Engel
Es war ein ungewöhnlich heißer Tag in Las
Vegas. Es war hier fast immer heiß, aber heute brannte die
Sonne schon seit dem Morgen erbarmungslos von einem klaren, blauen
Himmel und verwandelte die Stadt in ein kochendes Straßenlabyrinth.
Die Luft flimmerte über der Wüste; es gab nicht einen
kühlenden Windzug. Das Thermometer war auf über 40 Grad
geklettert. Die meisten Menschen waren in die Schwimmbäder zu
den Seen, oder in die klimatisierten Einkaufszentren geflüchtet.
Gegen Mittag wirkten Teile von Las Vegas wie ausgestorben.
Sara
und Warrick liefen langsam über den Campus der University of Las
Vegas. Die Studenten saßen in kleinen Gruppen im Gras unter den
hohen Bäumen, die in der Hitze ein wenig Schatten spendeten. In
zwei Wochen würden ihre Sommerferien beginnen.
Die beiden
CSIs überquerten den großen Innenhof und bogen in Richtung
Studentensekretariat ab.
„Glaubst du wir haben noch eine Chance
den Fall zu lösen?", fragte Sarah plötzlich.
Alle
Mitarbeiter des CSI fühlten sich im Fall von Jack Hollison
vollkommen hilflos. Es gab keine brauchbaren Hinweise und in Miami
schien die Lage auch nicht besser. Keiner wollte daran denken
aufzugeben; langsam aber sicher gingen ihnen jedoch die Spuren aus.
Am Abend als Jack verschwand hatte niemand etwas verdächtiges
beobachtet. Es gab für das Verbrechen keine Zeugen.
„Ich
bin nicht sicher", antwortete Warrick. „Grissom sagt zwar immer,
dass die Beweise nicht Lügen, aber in diesem Fall schweigen sie
jedenfalls hartnäckig. Vielleicht können uns ja die Leute
an der Universität irgendwie weiterhelfen", sagte er und
öffnete die Tür zum Verwaltungsgebäude.
Als
sie es eine halbe Stunde später wieder verließen waren sie
auch nicht viel klüger als vorher. Jack Hollison war ein
durchschnittlicher Schüler gewesen, der die UNLV wegen eines
Schwimm-Stipendiums besucht hatte. Er stammte ursprünglich aus
einer Kleinstadt in Utah und hätte dieses Jahr sein
Sophomore-Jahr abgeschlossen. Seine Hauptfächer waren Biologie
und Chemie. Er hatte später Medizin studieren wollen.
Ein
Gespräch mit seinem Trainer ergab, dass Jack zwar im Varsity
Schwimm-Team gewesen war, aber nicht zu den Besten gehört hatte.
Diese Saison hatte er die Kriterien für ein Letter knapp
verfehlt, was ihn nach Angaben des Trainers aber nicht sonderlich
geärgert hätte. Er wäre sehr bescheiden gewesen. Neid
schien als Mordmotiv also auch nicht in Frage zu kommen.
Als
nächstes befragten Warrick und Sara Jacks Mitbewohner Steven
Maxwell. Der junge Student sah vollkommen mitgenommen aus. Er hatte
dunkle Ringe unter den Augen und trug sein T-Shirt falsch herum. Der
Tod seines Freundes hatte ihn zutiefst erschüttert. Für die
Tatzeit hatte er ein wasserdichtes Alibi, er war beim
Leichtathletik-Training gewesen, und schied deshalb als
Tatverdächtiger ohnehin aus. Jacks Sachen waren aus dem
Doppelzimmer bereits entfernt worden. Die eine Seite war nun
vollkommen leer.
Fast entschuldingend sagte Steven: „ Ich habe
es nicht über mich gebracht etwas von mir auf seine Seite zu
stellen. Es ist als wäre er immer noch da."
Dann begann er
über Jack zu sprechen.
„Jack war ein ganz normaler
Student. Er hat sich unheimlich gefreut in Las Vegas studieren zu
können. Er kam ja vom Land, wenn sie wissen was ich
meine."
„Hatte er irgendwelche Probleme? Geld, Drogen, oder
irgendetwas in der Art?", fragte Warrick.
„Nein, er trank ja nicht mal Alkohol wegen dem Sport. Geraucht hat er auch nicht. Klar sind wir manchmal Poker spielen gegangen, aber Jack hat nie mehr als 50 Dollar verspielt. Er war sehr verantwortungsvoll."
„Gab es jemanden mit dem er sich nicht verstanden hat?", warf Sara ein.
„ Sie meinen ob er Feinde hatte? Nein, er hat sich mit allen Leuten gut verstanden und jedem geholfen, der seine Hilfe brauchte. Jack hatte hohe moralische Prinzipien. Seine Eltern haben ihn streng religiös erzogen. Er hätte niemandem die Freundin ausgespannt oder dergleichen. Sein einziger Feind waren die Noten!"
„Wie meinen sie das?", hakte Sara nach.
„Wie soll ich sagen. Jack war nicht der allerhellste. Er musste sich sehr anstrengen um seinen Durchschnitt zu halten, gerade in Chemie. Er hat hart gearbeitet. Ich erinnere mich, dass er immer gesagt hat seine Professorin sei eine Sklaventreiberin." Steven lachte nervös. Jacks Tod hatte ihn sichtlich mitgenommen und Sara und Warrick wollten ihn nicht mehr zusätzlich belasten.
„Danke für ihre Hilfe", sagte Warrick. „ Wie melden uns, sollten wir noch Fragen haben."
Vor dem Wohngebäude blieben die beiden stehen.
„Es scheint als wäre Jack Hollison fast ein Engel gewesen. Warum hätte ihn jemand ermorden sollen?", sagte Sara und fasste damit zusammen was beide dachten.
„Das ist die Millionen-Dollar Frage und vielleicht ist die Chemie Professorin unser Joker. Jacks Stundenplan zufolge heißt sie Sophie Lear und hat gerade unterrichtsfrei", antwortete Warrick düster und lief schnellen Schrittes in Richtung der Naturwissenschafts-Fakultät. Sara folgte ihm so schnell sie konnte.
Sophie Lear war Anfang
vierzig, hatte kinnlanges, tiefschwarzes Haar, grüne Augen und
war ungefähr einen Meter siebzig groß.
In ihrem Büro
konnte man sich aufgrund der Enge kaum bewegen, aber es war perfekt
aufgeräumt. Sophie selbst war ebenfalls perfekt angezogen,
dezent geschminkt und frisiert. Sie trug ein leichtes,
anthrazitfarbenes Baumwollkostüm mit einem dunkelblauen T-Shirt
und dunkelblauen Loafer. An ihrem Ringfinger schimmerte ein
einkarätiger Saphirring.
„Miss Lear? Mein Name ist Warrick Brown und das ist meine Kollegin Sara Sidle. Wir sind vom CSI."
„Geht es um den Mord an dem Studenten vor einigen Tagen?", fragte Sophie. Sie sprach mit einem leichten Akzent, der Warrick irgendwie bekannt vorkam, aber nachdem Sophie schon einige Jahre in Las Vegas lebte, war der Akzent kaum noch zu erkennen. Er hatte diesen Akzent schon einmal gehört, nur wo?
„Ja, wir würden gerne mit ihnen über Jack Hollison sprechen. Sie haben ihn unterrichtet. Was für eine Art Schüler war er?", begann Sara.
„Jack Hollison hatte akzeptable Noten. Er war sehr ehrgeizig, hat oft Zusatzarbeiten abgegeben, da er mit den Spitzenschülern mithalten wollte, aber das hat er nie geschafft." Sie machte eine kurze Pause, bevor sie hinzufügte: „ Er hat aber auch den Versuch nie aufgegeben perfekt zu sein." Ihr Ton war vollkommen neutral.
„Kennen sie jemanden, mit dem Jack sich nicht gut verstanden hat?"
„Nein. Er war bei seinen Mitschülern durchaus beliebt."
„Wirkte er vor seinem Tod irgendwie verändert? Hat er sich anders verhalten?"
„So weit ich das beurteilen kann, war mit ihm alles in Ordnung. Ich verlange von meinen Schülern im Unterricht eine ganze Menge, aber ich mische mich nicht in ihr Privatleben ein. Ich kann ihnen über Jack Hollison nichts außergewöhnliches sagen und es tut mir leid, dass ich ihnen nicht helfen kann seinen Mörder zu finden. Ich habe über 500 Studenten ihn meinen Kursen: ich kann mich leider nicht um jeden Einzelnen kümmern, auch wenn ich das bedauere. Ich muss jetzt zu einer Vorlesung. Sollten sie noch Fragen haben rufen sie mich an."
„Danke für ihre Zeit, Miss Lear. Wir melden uns, sollten wir noch etwas wissen wollen", sagte Warrick und öffnete die Tür.
Er und Sara verließen schweigend den Campus und fuhren zum CSI Labor zurück. Greg hatte heute morgen die Analyse der Fasern abgeschlossen. Sie stammten von einem weißen Oxford-Shirt, vermutlich von Ralph Lauren oder Tommy Hilfiger. Den Rest des Tages würden sie damit verbringen die Sachen von Jack durch zu sehen, ob er eins dieser Shirts besessen hatte, oder es vielleicht vom Mörder stammte. Mit anderen Worten: Sie klammerten sich also an den letzten Strohhalm.
Sophie wartete, bis sie aus ihrem Fenster sehen konnten wie die beiden Ermittler das Gebäude verließen und zum Parkplatz zurückgingen. Sie nahm ihr Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer in Miami. Sie wusste, dass dies höchst gefährlich war, aber sie musste unbedingt mit Samuel sprechen. Mit zitternden Fingern hielt sie das Telefon, bis nach dem dritten Klingeln abgenommen wurde.
„Ja?"
„Ich bin es.", sagte sie nur. „Eben waren zwei Ermittler vom CSI hier, die mit mir über Jack sprechen wollten."
„Wie sind sie auf dich gekommen?", fragte Samuel sichtlich irritiert.
„Ich weiß es nicht", sagte Sophie vollkommen verängstigt. „Sie wollten wissen, ob er sich vor seinem Tod anders verhalten hätte, ob er Feinde hatte."
„Was? Er war ein Student von dir? Wir konntest du nur so dumm sein." Samuel war jetzt nicht nur irritiert, sondern wütend.
„Aber ich habe alles so gemacht wie du es gesagt hast. Ich habe keine Spuren hinterlassen. Sie werden nicht herauskriegen das ich es war!" Sophie war in Panik.
„Tu das nie wieder, hörst du. Den nächsten hast du vorher noch nie gesehen. Hast du verstanden. Nie wieder", sagte Samuel und legte auf. Er musste sich erst beruhigen und sich dann überlegen wie es weiter gehen sollte.
In Las Vegas starrte Sophie ihr Handy an, ließ es auf die Tischplatte fallen und legte den Kopf in ihre Hände. Sie hatte Samuel doch nur gefallen wollen.
In Miami war gegen Nachmittag ein Gewitter heraufgezogen. Innerhalb kürzester Zeit verdunkelte sich der Himmel und Blitze zuckten in kurzen Abständen über die Stadt. Vom Meer war ein fernes Donnergrollen zu hören. Viele der Touristen und Einheimischen, die den Tag zu einem Ausflug genutzt hatten, packten hastig ihre Sachen zusammen und machten sich auf den Heimweg. Zum Glück hatte es noch nicht begonnen zu regnen.
„Caramel, Caramel komm her!", rief eine Mutter aufgeregt. Sie war mit ihren Kindern zum picknicken in den Park nahe der 77th Avenue gefahren und suchte nun nach dem Golden Retriever der Familie. „Vermutlich jagt er wieder Kaninchen", dachte sie und lief einen schmalen Pfad hinauf, der vom Parkplatz wegführte. Sie wollte nach Hause, bevor es begann wie aus Eimern zu schütten. Sie bog um eine Kurve und war für einen Moment erleichtert als sie das goldene Fell des Hundes sah. Als sie jedoch näher herankam, da sich Caramel trotz wiederholten Rufen nicht von der Stelle bewegte, wurde ihr bei dem was sie sah plötzlich schwindelig und sie konnte sich nicht dazu zwingen ihren Blick noch mal auf den überwucherten Pfad vor ihr zu richten. Ihr Hund kauerte winselnd neben der Leiche einer jungen Frau.
Im CSI Hauptquartier klingelte das Telefon keine halbe Stunde später.
„Delko!"
Eric hörte schweigend zu, was Adele zu sagen hatte. Dieser Fall wurde langsam zu einem Albtraum.
„Wir sind in 20 Minuten da!"
Er legte auf, verließ das Büro und sagte Speed, Alexx und Calleigh Bescheid. Dann machte er sich auf die Suche nach Horatio.
