Schuld und Unschuld

„Horatio?" Er sah von den Akten auf, die die spärlichen Ergebnisse des Teams in Las Vegas dokumentierten. Speed stand in der Tür und sah ziemlich durchweicht aus.

„Ja?", fragte Horatio während er aufstand. „Habt ihr etwas gefunden?" Der Ausdruck in Tims Augen ließ seine Hoffnungen in sich zusammen stürzen.

„Weißt du, der Typ ist gut und dann auch noch der Sturm", begann der jüngere Mann entschuldigend, doch Horatio schnitt ihm das Wort ab.

„Es ist nicht deine oder unsere Schuld", sagte er und sah Speed in die Augen, dessen Schultern mutlos herunter hingen.

„Ich weiß", antwortete er zögernd. „Aber ... ", er deutete auf das Fenster hinter Horatio, „er ist irgendwo da draußen und mordet weiter ... und in Las Vegas ist noch so ein Verrückter. Das ist einfach ... frustrierend", versuchte er seine Gefühle zu beschreiben. Horatio verstand ihn nur zu gut.

„Speed, zieh dir erst einmal ein paar trockene Sachen an und dann treffen wir uns in zehn Minuten mit den anderen."


Die zehn Minuten waren schnell vorüber und so saß das Team wenig später in dem Raum, in dem sie auch die Videokonferenz abgehalten hatten. Horatio begann gerade zu sprechen, als Titia die Tür laut hinter sich zumachte. Alle starrten sie an und sie lächelte verlegen.

„Äh ... tut mir leid, dass ich zu spät bin", sagte sie und setzte sich schnell auf einen Stuhl neben Calleigh.

„Also das, Ladies und Gentlemen, ist Titia Chambers – unsere Profilerin", stellte er sie vor. „Haben Sie etwas für uns?", fragte er und war erleichtert, als sie nickte.

„Eine vorläufige Einschätzung", antwortete sie und breitete einige Blätter vor sich aus. „Aber erst einmal Hallo." Sie lächelte in die Runde. „Nach dem, was ich bis jetzt über diesen Fall gelesen hab', ziehe ich folgende Schlüsse: Wir haben es hier in Miami mit einem Täter zu tun, aber in Las Vegas würde ich auf eine Frau tippen." Erstaunte Gesichter sahen sie an. „Ich weiß ... eine Frau als Serientäterin – ungewöhnlich, aber auch das gibt's. Hier sind die Opfer weiblich und in Las Vegas männlich, das ist sicherlich kein Zufall." Sie sah auf ihre Notizen, die kreuz und quer über die Blätter geschrieben waren. „Beide Täter gehen gut organisiert vor und sie müssen sich mit Forensik beschäftigt haben, ansonsten hätten sie sicherlich schon brauchbare Spuren gefunden, das lässt auf eine gute Bildung und geordnete Verhältnisse in ihren Leben schließen. Sie haben die Zeit und das Geld um sich auf ihre Taten vorzubereiten – und das machen sie gut, allerdings ist der Täter hier geschickter und vorsichtiger als die Täterin in Las Vegas. Das deutet daraufhin, dass für ‚unseren' Täter die ganze Sache wichtiger ist als für die Mörderin in Las Vegas ... ich bin mir noch nicht ganz im Klaren über diesen Teil, geben sie mir noch etwas Zeit ... es ist auch merkwürdig, dass die Schnittspuren der Opfer hier tiefer gehen als die der Opfer in Las Vegas." Abwesend fuhr sich Titia durch ihre Haare, was sie nun noch unordentlicher erschienen ließen. „Um mal konkret zu werden. Ich denke, wir suchen hier in Miami nach einem Mann zwischen dreißig und vierzig, ledig – möglicherweise auch mit Freundin, wobei die Täterin in Las Vegas auch in Frage käme, aber er ist nicht verheiratet – hat eine gute Bildung und einem Bürojob; wahrscheinlich jemand, der in der Masse untertauchen kann, aber trotzdem gut aussieht, irgendwie muss er ja seine Opfer kennen gelernt haben. Er sucht sie nach einem bestimmten Typus aus, aber ansonsten ist die Auswahl zufällig. Ich werde mir mal alte Fälle anschauen ... Vermisstenfälle und so etwas, wo eine junge Frau eine Rolle gespielt hat. Vielleicht fällt mir etwas ins Auge." Sie sah zu Horatio. „Das war's erst einmal von meiner Seite."

Für einige Minuten herrschte Stille im Raum, alle versuchten das eben Gesagte zu verarbeiten und zu verstehen.

„Und warum tun sie das Ganze nun?", stellte Eric die Frage, die ihnen allen durch den Kopf ging. Titia sah unbehaglich zu Horatio hinüber. Sie kannte dieses Team erst seit wenigen Stunden und wusste nicht, wie offen sie miteinander umgangen. Außerdem konnte sie mit ihrer Vermutung auch vollkommen falsch liegen und dann würde sie nur unnötigerweise noch mehr Unruhe verbreiten. Schließlich entschied sie sich dafür, die halbe Wahrheit zu sagen.

„Ich denke, es geht um verletzte Gefühle und Rache. Die Opfer stehen für irgendetwas oder irgendjemanden ... wie bei Ted Bundy, seine Opfer hatten alle Ähnlichkeiten mit seiner Ex-Freundin." Den Rest der Unterhaltung hörte sie nur zu und versuchte, etwas von dem Fachgespräch zu verstehen.


Der Regen hatte endlich aufgehört, aber der Himmel blieb weiterhin grau und düster. Titia lehnte gegen ihren Schreibtisch und starrte auf die weiße Tafel, auf der zahllose Worte durch Pfeile verbunden waren und die Photos von den Opfern hafteten. Das Sammelsurium der menschlichen Abgründe, wie es die Profiler untereinander nannten. Irgendwo hinter diesen Tatsachen, Vermutungen und Bildern lag die Lösung dieses Falles. Die Tür zu ihrem Büro war offen und so hörte sie Horatio schon bevor sie ihn sehen konnte. Sie wandte ihren Kopf in seine Richtung.

„Was ist passiert?", fragte sie, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. Schlafmangel und Anspannung der letzten Tage zeichneten sich deutlich in den tief eingegrabenen Linien seines Gesichts ab und er hatte einen seltsam verschlossenen Ausdruck angenommen, als ob er sich von den Vorgängen um sich herum abschottete.

„Sie hatten Recht", sagte er mit monotoner Stimme. „Wir haben eine Täterin in Las Vegas. Ich habe gerade eben einen Anruf erhalten, einer der Kollegen dort wurde von ihr ermordet." Titia zog scharf die Luft ein. Die Hemmschwelle der Täterin sank. Fragte sich nur, warum so schnell und auf so extreme Weise.

„Hier, sie sehen so aus als könnten sie es gebrauchen." Sie hatte den Kaffee in seiner Hand gar nicht bemerkt und nahm ihn nun dankbar entgegen. Über den Rand ihrer Tasse sah sie ihn an. Sie entschloss sich dazu, ihn ein wenig aufzumuntern, er konnte es gebrauchen.

„Durch die Hinweise, die sie für uns am Tatort zurücklassen, wollen sie uns die Verantwortung für ihre Taten zuschieben. Die Menschen sterben, weil wir versagen; weil wir nicht schnell genug sind das Rätsel zu lösen und sie zu stoppen", sagte sie und er legte seinen Kopf schief. „Aber es ist nicht unsere Schuld. Warum auch immer sie das tun – es ist ganz alleine auf ihrem Mist gewachsen. Sie sind dafür verantwortlich und dieser Verantwortung werden sie schlussendlich nicht entkommen können."

„Sind Sie sich da sicher?", fragte er.

„Ja", sie lächelte. „Wie sollte ich diese Arbeit machen, wenn ich nicht fest daran glauben würde, dass am Ende immer die Guten gewinnen?" Ein kleines Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht und Titia war fürs erste zufrieden.


Der Club irgendwo in der Stadtmitte war gut gefüllt. Lynn Matthews feierte ihr gutes Abschneiden in der letzten Geschichts-Klausur und trank ein paar Bier an der Bar. Sie hatte gute Laune und der Alkohol tat sein Übriges, also ging sie auf die Flirtversuche des Mannes neben sich ein. Er befand sich irgendwo in dem undefinierbaren Bereich zwischen Anfang dreißig und noch nicht vierzig. Seine dunkelblonden Haare waren Gott sei Dank keinem Rasenmäher zum Opfer gefallen, sondern fielen in kurzen Strähnen immer wieder in sein leicht gebräuntes Gesicht. Auf der Straße hätte sie ihn wahrscheinlich übersehen, aber hier, wenn er ihr in seinem dunklen Hemd gegenüber saß und sie mit seiner Intelligenz und seinem Humor beeindrucken konnte, nein, hier konnte sie ihn nicht übersehen. Noch einige Bier später war sie so von ihm fasziniert, dass sie nicht nein sagte, als er den Club mit ihr verlassen wollte. Also zog sie sich ihre Jacke über und machte sich Hand in Hand mit Samuel Orwin auf den Weg in die Hölle.