Beweise lügen nicht...

Samuel sah sich in dem Haus um. Überall lag Parkettboden, die Wände bestanden aus weißem Rauputz und das Wohnzimmer wurde auf der einen Seite von einem Flügel, auf der anderen Seite von einem großen Kamin dominiert, vor dem ein weicher flauschiger Teppich lag. Ein Großbildfernseher und eine sorgfältig zusammengestellte Surround-Anlage rundeten das Bild eines Menschen, der klare Linien bevorzugte ab. Die Möbel bestanden größtenteils aus Kiefernholz, welches im Laufe der Zeit einen honiggoldenen Farbton angenommen hatte und verliehen der Atmosphäre des Hauses so die nötige Gemütlichkeit. Samuel trug Latexhandschuhe und eine Mütze um sicher zu gehen, dass er weder Fingerabdrücke noch Haare hier zurücklassen würde. Er genoss den Gedanken, im Privatleben des Bewohners herumzuschnüffeln und lachte, als ihm auffiel, dass er im Augenblick genau das tat, was der eigentliche Bewohner normalerweise tat - im Leben anderer herumschnüffeln, das Unterste zuoberst kehren. Der Bewohner war nicht da... er war zur Zeit sehr beschäftigt.
Samuel lächelte bei der Idee, dass der Bewohner sich gerade in diesem Moment mit ihm - Samuel - beschäftigte. Er ging hinauf in das Schlafzimmer, immer noch unschlüssig, was er von hier als "Andenken" mitnehmen sollte. Er zog wahllos Schubladen auf und durchwühlte sie. Dann fand er es. Ja, dachte er, das war genau das Richtige. Er steckte den kleinen Gegenstand in ein braunes Papiertütchen, wie sie die Leute vom CSI immer benutzten und ließ ihn in seiner Jackentasche verschwinden. Jetzt kommt der schwierige Teil, dachte Samuel, als er Horatios Haus verließ.


Calleigh brütete über der Kugel des letzten Mordes, als einer der Servicetechniker das Labor betrat und irgendetwas murmelte, dass er nach der Klimaanlage sehen müsse. Calleigh ignorierte ihn. Sie war in die Analyse der Kugel vertieft.
Damit hatte Samuel gerechnet. Sie bemerkte nicht, dass er ein kleines braunes Papiertütchen in der Kiste mit den Beweisen, die auf ihrem Tisch stand, verschwinden ließ. Eines, das in keiner Inventarliste auftauchen würde.

"Ich will sofort die Beweise vom letzten Tatort sehen." Der Staatsanwalt kam wie immer hereingerauscht ohne anzuklopfen und ohne zu grüßen. Calleigh ärgerte sich über die erneute Störung. Sie sah nicht auf die Uhr und wusste nicht, dass sie immerhin eine Stunde in Ruhe hatte arbeiten können.
Sie sah unwillig auf.

"Da steht sie. Was suchen Sie denn", fragte sie misstrauisch. Wie üblich erhielt sie keine Erklärung. Dieses Verhalten war sogar für Alistair Frederic Mallory untypisch... er war ein guter Staatsanwalt, aber kein Teamspieler und daher arbeitete niemand wirklich gerne mit ihm zusammen. Trotzdem war es nötig, zu kooperieren... Calleigh griff zu ihrem Handy um Horatio anzurufen. Irgendetwas war hier im Busch.

Das Klingeln seines Handys riss Horatio aus dem Schlaf. Er lag in seinem Büro auf der Couch, die er und sein Team sich schon seit Beginn dieses Falles für ein kurzes Nickerchen teilten um wenigstens ein Minimum an Schlaf zu bekommen. Das war praktischer und zeitsparender als nach Hause zu fahren und schlafen mussten sie ja.
Als er sich hingelegt hatte war er so erledigt gewesen, dass er sicher war, gar keinen Schlaf zu finden, aber irgendwie war das Bild zweier gesichtsloser Serienmörder, die ihn verhöhnten dann doch einem nicht sehr viel besseren Traum gewichen. Er war wie immer sofort hellwach. Auf dem Display sah er, dass es Calleigh war.

"Was gibt es Calleigh"

"Tut mir leid, dass ich Dich wecke, aber der Staatsanwalt ist gerade hier und durchwühlt die Beweise...", flüsterte sie. "Horatio, irgendetwas stimmt hier nicht." Sie klang sehr besorgt.

"Ich bin schon auf dem Weg", versprach er.

Als er nur wenige Minuten später das Labor betrat, kam ihm ein sehr wütender Mallory entgegen, der mit einer Inventarliste und einem braunen Beweismitteltütchen bewaffnet, gerade das Ballistiklabor verlassen wollte.

"Caine, mit Ihnen wollte ich reden." Er kochte vor Wut. "Und zwar sofort! In ihrem Büro"

Horatio sah Calleigh fragend an. Sie zuckte nur die Achseln. Beide konnten sich keinen Reim auf das Verhalten Mallorys machen.
In Horatios Büro angekommen sah Horatio den Staatsanwalt an. Er war zu müde, zu hungrig und zu beschäftigt mit dem Fall um sich jetzt irgendwelche juristischen Launen anzuhören und von seiner Arbeit ablenken zu lassen.

"Also, was soll das? Was haben Sie an den Beweisen zu suchen, mit denen wir noch gar nicht fertig sind" Horatios Laune war wirklich nicht die beste.

"Das kann ich Ihnen sagen, Lieutenant. Sie haben es versaut" Horatio wollte etwas erwidern, aber der Mallory schnitt ihm mit einer barschen Handbewegung das Wort ab. "Ich habe ein Beweisstück gefunden, das komischerweise in keiner Ihrer Listen auftaucht." Er hielt Horatio das Papiertütchen unter die Nase. Horatio öffnete das Tütchen und ließ den Gegenstandüber den der Staatsanwalt sich so aufregte, auf seine Hand gleiten... es war ein silberner Manschettenknopf mit den Initialen "HC".

"Das ist meiner", sagte er verwundert. Er runzelte die Stirn. Dann sah er den Staatsanwalt wütend an, als ihm dämmerte, worauf dies hier hinauslief.

"Das war nicht am Tatort"

"Natürlich nicht", bemerkte der Staatsanwalt sarkastisch. "Und wie erklären Sie sich dann, dass es jetzt da ist"

"Was genau glauben Sie eigentlich? Dass ich den Mord begangen habe"

"Nein, natürlich nicht", der Staatsanwalt genoss die Situation sichtlich. "Ich weiß, dass Sie ein Alibi haben", bemerkte er gönnerhaft. "Sonst hätte ich längst einen Durchsuchungsbefehl für Ihr Haus und Ihr Büro beantragt. Aber ganz offensichtlich haben Sie schlampig gearbeitet! Da gibt es ein Beweisstück, das in keiner Ihrer Inventarlisten auftaucht. Die Geschworenen werden glauben, dass Sie vorhatten, das Beweisstück in einem geeigneten Augenblick verschwinden zu lassen, zumal es ja eine direkte Verbindung zu Ihnen gibt. Sie werden glauben, dass Sie etwas vertuschen wollten. Ich kann es mir nicht leisten, dass der Fall auf Grund Ihrer Inkompetenz platzt" Die nächsten Worte wählte er sorgsam, damit sie ihre Wirkung auch nicht verfehlten.
"Lieutenant Caine, Sie sind vom Dienst bis auf Weiteres suspendiert." Seine nächsten Worte troffen förmlich vor Sarkasmus. "Möchten Sie es Ihren Leuten sagen, oder soll ich das tun"

Horatio trat einen Schritt auf sein Gegenüber zu und sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Seine Worte waren gefährlich leise.
"Was Sie hier jetzt brauchen, sind MEHR Leute und nicht weniger! Mit dieser Hexenjagd verringern Sie unsere Chancen, den Mörder zu schnappen. SIE sind dann für alles Weitere verantwortlich! Sagen Sie mal... woher wussten Sie eigentlich davon" Horatio war sich fast sicher, dass er die Antwort bereits kannte. Er sollte sich nicht getäuscht haben.

"Ein anonymer Anruf..."

"Ah ja... ein anonymer Anruf", höhnte Horatio ungläubig, dann wurde er wieder ganz ruhig. "Ich werde mein Team übrigens selbst informieren."

Der Staatsanwalt konnte es nicht lassen. "Das ist jetzt nicht mehr Ihr Team, Caine", rief er ihm über den Flur hinterher.

Als Horatio den Konferenzraum betrat, waren die anderen bereits da, inklusive Titia. Er hatte alle angepiept und sie wissen lassen, dass es Neuigkeiten gab. Er hätte sich nur gewünscht, dass es bessere gewesen wären...

"Was ist los, Horatio" Eric wirkte besorgt. Calleigh hatte den beiden erzählt, was bei ihr in der Ballistik losgewesen war.

"Wir haben ein Problem." Er hielt inne und sah einen nach dem anderen an.
"Mallory hat einen anonymen Tipp bekommen, dass mit unseren Beweismittellisten etwas nicht stimmt."

Speed konnte es nicht glauben. "Was? Wieso? Fehlt denn etwas"

"Nein", erwiderte Horatio. "Wir haben etwas zuviel" Er ließ ohne ein weiteres Wort seinen Manschettenknopf aus dem Tütchen auf den Tisch fallen.
Eric nahm ihn in die Hand. "HC... ist das Deiner, Horatio" Erics Gesicht spiegelte das Entsetzen und den Unglaube wider, den alle empfanden, als Horatio nur stumm nickte.

Horatio wandte sich mit seinen nächsten Worten an Speed.
"Speed, Du übernimmst." Der jüngere Mann wollte protestieren, doch Horatio ließ ihn nicht zu Wort kommen. "Ich bin bis auf Weiteres suspendiert." Er konnte sehen, dass seine Worte sie wie ein Schlag ins Gesicht trafen. Er musste sie dringend etwas motivieren; sie durften nicht nachlassen. Zuviel stand auf dem Spiel. Leider wusste er im Augenblick auch nicht, was er ihnen sagen sollte.

Speed fand als Erster die Sprache wieder.
"Horatio, wir finden heraus, wie das gelaufen ist. Wir finden heraus, wer Dir da etwas anhängen will."

Er redete sich richtig in Fahrt, doch Horatio unterbrach ihn unwirsch.
"Nein" Horatios Worte waren sehr bestimmt. "Wenn Ihr Euch jetzt ablenken lasst, werden weitere Menschen sterben. Ich erwarte von jedem einzelnen von Euch, dass ihr weiter macht. Ich erwarte, dass Ihr Euer Bestes gebt. Wenn Ihr mir wirklich helfen wollt, dann arbeitet ihr mit Las Vegas so eng wie möglich zusammen und löst diesen Fall. Lasst nicht zu, dass die Morde weiter gehen. Ist das klar"

"Versprochen", sagte Eric nach einigem Zögern. Die anderen nickten langsam. Sie fühlten sich alle fast als Verräter. "Und... wir halten Dich auf alle Fälle auf dem Laufenden - inoffiziell."

"Nein", sagte Horatio schnell. "Ihr dürft nichts, aber auch gar nichts tun, was den Fall gefährden könnte. Ist das klar" Er sah sein Team eindringlich an, bis sie wieder nickten. Ob sie sich daran halten würden, stand auf einem anderen Blatt.

Horatio konnte hier nichts weiter tun. Er wollte gerade das Gebäude verlassen, als er jemanden seinen Namen rufen hörte. Er drehte sich herum und sah Titia auf ihn zulaufen.

"Horatio, ich weiß zwar nicht, was hier los ist, aber ich wollte Ihnen sagen, dass ich weiß, dass Sie nichts damit zu tun haben. Sie wissen, ich bin von Berufswegen eine ziemlich gute Menschenkennerin." Sie wollte ihm Mut machen.

"Danke", erwiderte er. "Helfen Sie uns einfach, die Täter zu finden und... passen Sie auf die anderen auf. Versprechen Sie mir das"

"Natürlich." Sie sah ihm unglücklich nach, als er sich herumdrehte und ging.

Nach Hause wollte Horatio nicht. Es war nicht, weil jemand in seinem Haus gewesen war - er hatte nicht vor, sich davon beeindrucken zu lassen, diesen Triumph wollte er dem Mörder nicht gönnen - sondern vielmehr weil er das Gefühl hatte, dass ihm dort die Decke auf den Kopf fallen würde.
Er fuhr an den Strand, setzte sich auf die Motorhaube seines Wagens, lehnte sich gegen die Windschutzscheibe und sah sich den Sonnenuntergang an, in der Hoffnung, dass dies seine blankliegenden Nerven beruhigen würde - Fehlanzeige.

Grissoms Anruf ging ihm nicht aus dem Kopf. Sie hatten in Las Vegas einen Mitarbeiter verloren und hier in Miami war er suspendiert worden. Der Mörder ging in seinem Haus ein und aus, rief ihn an und versuchte, einen Keil zwischen ihn und sein Team zu treiben. Wenigstens das wird ihm nicht gelingen, dachte Horatio. Und dann diese Zahlen... die Fibonacci-Folge. Er war sich nicht sicher, ob sie jetzt, da sie wussten, was die Zahlen waren ein Problem gelöst oder ein neues entdeckt hatten.

Horatio musste sich eingestehen, dass er anfing, die ganze Sache persönlich zu nehmen... Ganz so, als wollte der Täter sich mit ihm messen... er wälzte den Gedanken eine Weile in seinem müden Kopf herum und versuchte, die Idee, die sich langsam daraus entwickelte zu greifen... es WAR etwas Persönliches. Dessen war sich Horatio plötzlich sicher. Er griff zu seinem Handy und wählte eine Nummer.


In Las Vegas sah Grissom Catherine ungläubig an.
"Dieser Mr. Speedle aus Miami hat gerade angerufen. Sein Boss ist suspendiert worden... er soll die Inventarlisten unsauber geführt haben."

"Grissom...", ihr Stimme klang ermahnend, als redete sie mit Lindsay. "Das kann nicht sein", Catherine schüttelte energisch den Kopf. "Nie und nimmer."

"Catherine, sie haben ein Beweisstück im Labor in der Beweismittelkiste gefunden - nebenbei bemerkt eines, das Caine gehört - das in keiner Liste auftaucht."

"Grissom, komm mir jetzt nicht mit, 'die Beweise lügen nicht'." Sie kannte ihren Boss lange genug, um zu wissen, was er als nächstes sagen wollte. "Ich habe ihn kennen gelernt." Grissom wollte sie unterbrechen, doch Catherine gab ihm keine Chance dazu. "Wäre das gleiche hier passiert und Du wärst suspendiert worden, würde das auch keiner von uns glauben."

"Okay, worauf willst Du hinaus" Gegen Catherines Intuition - wie sie es nannte - kam er einfach nicht an. Außerdem wusste er, dass er sich auf ihren Instinkt meist verlassen konnte. Auch, wenn er das nicht zugeben würde.

Bevor Catherine antworten konnte, klingelte ihr Handy.
"Willows", meldete sie sich. Es war Horatio. "Ja, wir haben schon gehört, was passiert ist. Das ist schlimm. Es tut mir leid", erwiderte sie mitfühlend.

"Danke und mir tut es um Ihren Mitarbeiter leid, aber deswegen rufe ich ehrlich gesagt nicht an. Mein Gefühl sagt mir, dass es hierbei um etwas Persönliches geht." Damit war Catherine auch klar, warum er sie und nicht Grissom angerufen hatte. Sie musste unwillkürlich lächeln. Auf Gefühl und Intuition gab Grissom nicht viel. "Haben Sie und Ihre Leute schon die übrigen Zahlen der Fibonacci-Folge mit irgendwelchen Hinweisen aus alten Fällen verglichen", fragte Horatio weiter.

"Horatio, glauben Sie, dass die Morde mit einem alten Fall zusammenhängt" Er hörte die Zweifel in ihrer Stimme.

"Ich weiß es einfach nicht. Aber die Möglichkeit sollten wir nicht außer acht lassen."

"Gut, einverstanden. Wir werden die Zahlen, die wir schon haben und die, die wir noch erwarten mit allem vergleichen, was mit alten Fällen zu tun hat. Machen Ihre Leute in Miami das gleiche"

"Das weiß ich ehrlich gesagt nicht", sagte Horatio frustriert. "Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie Tim Speedle anrufen und ihn entsprechend informieren könnten. Wenn ich das tue, konstruiert der Staatsanwalt vielleicht daraus auch noch etwas."

"Ich rufe ihn gleich an", versprach Catherine und legte auf.

Horatio fühlte sich ein wenig besser.