Erkenntnisse

Nach seinem Gespräch mit Catherine entschloss sich Horatio einen ausgedehnten Strandspaziergang zu machen. Er hoffte, dass er so seine Gedanken ordnen konnte, denn er war einzig und allein damit beschäftigt, herauszufinden warum man ihn suspendiert sehen wollte.

Die Nachmittagssonne stand bereits tief über dem Strand, spiegelte sich in einem feurigen Halbkreis am Horizont über dem Wasser und tauchte Miami in ein warmes Abendlicht. Die meisten Menschen waren bereits auf dem Heimweg und aufgrund des schlechten Wetters der letzten Tage hatten sich ohnehin nur wenige Touristen an den Strand gewagt. Außer Horatio waren nur noch ein paar einsame Angler am Strand, die von den Piers herunter versuchten einige Fische zu fangen.

Horatio zog seine Schuhe und Strümpfe aus und ließ sie zusammen mit seiner Jacke im Wagen. Er öffnete die obersten Knöpfe seines mitternachtsblauen Hemdes, krempelte die Ärmel nach oben und schlug seine Hosenbeine um. An seinem linken Unterarm hob sich, im Kontrast zu seiner sonnengebräunten Haut, eine feine längliche Narbe ab, die sonst kaum zu sehen war.

Der Strand erstreckte sich an dieser Stelle meilenweit in Richtung Süden und in der Ferne konnte man den Hafen von Miami erkennen. Der perfekte Ort für einen langen Spaziergang.

Der Sand war noch warm von der Mittagsonne, aber vom Meer wehte eine kühle Brise Richtung Stadt, so dass die Sommerhitze erträglich blieb.
Während Horatio langsam den Strand entlang schlenderte, drehten sich seine Gedanken mit der zehnfachen Geschwindigkeit.

Es gab nur eine einzige Erklärung für seine Suspendierung. Irgendjemand wollte ihn aus dem Weg haben. Befand er sich zu nahe an der Lösung des Falles? Nein, das konnte es nicht sein. Sie hatten ja kaum Beweise und es war eigentlich unmöglich, dass jemand von außerhalb über den Stand der Ermittlungen so genau Bescheid wusste . Und warum war er suspendiert worden und nicht Grissom? Hatte Titia wirklich Recht und der Täter in Miami hatte größeres Interesse an dem Fall als die Täterin in Las Vegas? Verfolgte er ein anderes Ziel? Und wenn ja welches und weshalb?

Auch nach zwei weiteren Meilen hatte Horatio auf diese Fragen noch keine richtige Antwort gefunden als plötzlich sein Handy klingelte und ihn aus seinen Gedanken riss. Die Nummer des Anrufers war unterdrückt worden; auf dem Display blinkte nur „Unbekannter Teilnehmer".

„Horatio!"

„Wie fühlt es sich an, wenn dein Lebensinhalt zu einem Scherbenhaufen zerfallen ist?", fragte die dunkle Stimme, die Horatio mittlerweile nur allzu gut kannte. „Man fühlt sich einfach ohnmächtig und hilflos, nicht wahr?"

„Wer auch immer sie sind, wir werden Sie finden und dann werden sie ihre gerechte Strafe erhalten", antwortete Horatio ruhig.

„Ich habe den dritten Spiegel", war die Antwort die er erhielt bevor aufgelegt wurde.

Zum ersten Mal in einer sehr langen Zeit wusste Horatio nicht was er tun sollte. Er konnte Speed nicht anrufen, da er suspendiert worden war, aber irgendetwas musste er unternehmen. Ein weiteres Menschenleben war in Gefahr. Es waren schon zu viele Leben von den beiden Mördern ausgelöscht worden. Horatio musste handeln.

Er lief dennoch weiter. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass es um ihn ging. Der Täter wollte sich an ihm rächen. Er war suspendiert worden. Sein Manschettenknopf war unter den Beweisen aufgetaucht. Der Mörder aus Miami rief ihn an und war in seinem Haus gewesen. Der Rest der beiden Teams hatte zu den Tätern bisher keinen Kontakt gehabt. CSI war sein Lebensinhalt und nun war er davon ausgeschlossen, das war es was der Täter meinte. Es gab viele Menschen, die einen Grund hatten ihn zu hassen, aber die meisten davon saßen hinter Gittern. Unwillkürlich begann Horatio zurückzudenken, an Fälle bei denen die Täter Rache geschworen hatten, an Menschen, die den Willen hatten sein Leben zu zerstören, aber nichts passte wirklich zusammen. Sein Instinkt, ein Gefühl, das er nicht genau definieren konnte, drängte ihn weiter zurück zu gehen, vor seine Zeit beim CSI, und plötzlich mischten sich die Bilder von überführten Verbrechern mit anderen dunklen Erinnerungen, welche diese dann vollkommen verdrängten. Mit einem Mal sah Horatio Bilder von Orten vor seinem inneren Auge, an denen reine Zerstörung geherrscht hatte. Trümmer lagen in einem Unkreis von mehreren hundert Metern verteilt und überall waren Scherben von zerbrochenen Fensterscheiben. Glassplitter, die selbst den Überlebenden oft tiefe Wunden zufügten. Hier hatten er und das Bombenkommando versagt; in diesen Fällen waren sie zu spät gekommen.
Horatio hielt einen Moment inne. Scherben, das musste es sein. Die Täter spielten nicht nur metaphorisch auf die Scherben an, sie meinten es wörtlich. Ging es vielleicht um seine Arbeit beim Bombenkommando? War der Täter einmal ein Opfer eines solchen Anschlages gewesen, hatte er damals einen Angehörigen verloren? Er musste sich unbedingt die alten Akten anschauen. Das Einzige was nicht zu dieser Theorie passte war der Mord an dem Leiter der Tagschicht in Las Vegas. Warum musste er sterben, wenn es doch eigentlich um ihn ging? Waren der Rest seines Teams und das Team in Vegas vielleicht auch in Gefahr? Und was hatte die Fibonacci-Folge mit all dem zu tun?

Horatio blieb stehen und sah sich um. Er war mindestens vier Meilen gelaufen und hatte beinahe den Fairgreen Park erreicht. Kurz vor der Straße wuchsen am Strand einige alte Eichen. Horatio setzte sich in ihren Schatten und beobachtete wieder den Sonnenuntergang über dem Meer. Er dachte über seine nächsten Schritte nach. Er würde Titia anrufen. Sie war in der Lage eine Untersuchung seines Hauses zu veranlassen. Vielleicht fanden sich dort noch Spuren des Täters. Dann wäre er entlastet.

In diesem Moment klingelte sein Handy erneut und zum ersten Mal in seinem Leben zuckte Horatio bei diesem Geräusch zusammen.

„Horatio!"

„Hier ist Catherine. Wir haben hier ein paar Neuigkeiten!"

Horatio unterbrach sie, bevor sie noch etwas hätte hinzufügen können. Catherine war die Einzige, die ihm jetzt helfen konnte.

„Catherine. Es geht um mich. Der Täter hier in Miami will sich an mir rächen. Ich glaube, es muss ein Fall aus meiner Zeit beim Bombenkommando gewesen sein. Er hat mich angerufen und mir gesagt, dass er bereits sein nächstes Opfer hat. Sie müssen das meinem Team ausrichten."

Erstaunt hörte Catherine zu, was Horatio zu sagen hatte. Zwar war die Ermittlerin in ihr der Auffassung, dass Horatios Erkenntnisse sich praktisch auf keinerlei Beweise stützten, aber sie glaubte ihm dennoch. Etwas an der Art wie er seine Theorie erklärte, ließ sie glaubhaft klingen und Catherine hatte während ihrer Zusammenarbeit in Miami gelernt, dass Horatio sich nur selten irrte.
Sie ließ ihn ausreden und zögerte nur einen kurzen Augenblick bevor sie ihm antwortete. Horatio war zwar suspendiert und unter normalen Umständen hätte sie den Fall nicht mit ihm diskutieren dürfen, aber Catherine wusste, dass sie ohne Horatio keine Chance hatten, den Fall zu lösen.

„Ich werde ihren Stellvertreter so schnell wie möglich in Kenntnis setzen. Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Haben Sie schon eine Ahnung um welchen alten Fall des Bombenkommandos es sich handeln könnte?", fragte sie.

„Nein. Ich muss mir die alten Akten noch ansehen. Ich war damals an vielen Einsätzen beteiligt und manchmal waren wir machtlos..."
Horatio versuchte, die Gedanken an die Tatorte abzuschütteln, die ihn an das Leid der Menschen erinnerten und fragte stattdessen:
„Haben sie neue Informationen über die Fibonacci-Folge?"

„Deswegen rufe ich an. Unsere Suche erweist sich als schwieriger als wir gedacht haben."

„Inwiefern?"

„Teile der Folge finden sich überall: In Kontonummern, Telefonnummern, Postleitzahlen, Autokennzeichen, Zulassungsnummern von Fischkuttern von Maine bis Vashon Island, Washington, in Sozialversicherungsnummern und natürlich auch in alten Akten aus Las Vegas, Miami, New York, Los Angeles und anderen Städten. Es sind mehr Informationen als wir auswerten können." , antwortete Catherine.

„Können Sie die Suchen jetzt nicht einschränken?"

„Theoretisch schon, allerdings besteht dabei ein kleines Problem. Wir haben die Zahlenfolge in alle uns zugänglichen Datenbanken eingegeben, nur sind viele der alten Fälle noch nicht im Computer gespeichert, darunter wohl auch etliche des Bombenkommandos. Die Akten existieren nur in den Archiven des Miami Dade Police Departments."

In der Leitung herrschte für einen Augenblick Schweigen. Horatio hatte vollkommen vergessen, dass viele alte Fälle in den Datenbanken noch nicht vorhanden waren. Dies war ein weiteres Symptom des chronischen Personalmangels im öffentlichen Dienst. Alle diese Akten per Hand zu sichten würde sehr lange dauern, vielleicht zu lange. Er musste sich etwas einfallen lassen.

„Ich werde einen Weg finden unverzüglich Einsicht in die Akten zu erhalten", versprach er Catherine. „Was gibt es sonst Neues?"

„Nicht allzu viel, aber unsere Mörderin scheint einen erlesenen Geschmack zu besitzen, was Kleidung betrifft. Wir haben weitere Fasern gefunden..."
Catherine war immer noch geschockt, dass jemand aus den Reihen des CSI der Täterin zum Opfer gefallen war. Eckley als „das letzte Opfer" zu bezeichnen, fiel ihr schwer. Sie wollte und konnte sich nicht vorstellen, wie sie reagieren würde, wären Grissom, Greg, Warrick, Nick oder Sara das Opfer einer solchen Tat geworden.
„...Dunkelblaues Kaschmir. Höchste Qualität. Ob das unsere Suche allerdings besonders einschränkt, ist fraglich. Wir tun unser Bestes, auch im Bezug auf die Fibonacci-Folge. Sollten wir darüber noch etwas in Erfahrung bringen, lasse ich es Sie wissen."

„Viele Dank, Catherine. Ich weiß ihre Hilfe sehr zu schätzen, Ich werde tun, was ich kann. Sobald ich etwas zu den Akten weiß, rufe ich Sie an!"

„Gut. Ich werde als nächstes noch einmal Mr. Speedle anrufen. Passen Sie gut auf sich auf!", sagte Catherine und beendete das Gespräch.

Horatio stand auf und ging langsam zu seinem Wagen zurück. Mittlerweile war es dunkel geworden.