Am Wendepunkt
Titia starrte ihre Notizen an, die kreuz und quer über dem Schreibtisch verteilt waren, doch vor ihren Augen verschwamm alles. Sie blinzelte mehrmals, doch der Schleier vor ihren Augen lichtete sich nicht. Sie hatte seit mehr als zwei Tagen nicht geschlafen und selbst Kaffee vermochte nicht mehr zu helfen. Vielleicht sollte sie sich wirklich mal in das Motel begeben, in dem ihr das FBI ein Zimmer spendiert hatte. Mit einem Verstand, der irgendwo, nur nicht hier schlummerte, war sie niemandem eine große Hilfe. Das Klingeln ihres Handys setzte ihren Überlegungen ein vorläufiges Ende.
„Titia Chambers", meldete sie sich und war erfreut, Horatios Stimme zu hören.
„Ich brauche Ihre Hilfe", sagte er und klang im Gegensatz zu ihr hellwach.
„Was soll ich tun?", fragte sie und drehte den Kuli in ihrer Hand hin und her. Je länger Horatio redete, um so wacher wurde sie. Zum ersten Mal seit zwei Tagen hatte sie das Gefühl, dass sie diesen Bastarden näher gekommen waren.
„In Ordnung, ich werde Calleigh und Eric zu Ihrem Haus schicken und mich um die Akten kümmern." Der Kuli landete wieder inmitten der Akten. „ ... Sie sollten vielleicht nicht grad' zu Hause sein, wenn die beiden kommen. Sie wissen schon, Beeinflussung oder so", setzte sie widerstrebend hinzu.
„Sie haben Recht. Ich werde einfach ... nicht da sein." Sie wollte nicht, dass er so verloren klang, doch im Moment konnte sie nichts weiter für ihn tun.
„Dann werd' ich mich mal an die Arbeit machen. Ich ruf' Sie an, sobald ich was weiß", verabschiedete sie sich.
Die Akten des Bombenkommandos wollten einfach kein Ende nehmen. Titia hatte den leisen Verdacht, dass sie sich heimlich hier unten in den Archiven vermehrt hatten. Aber natürlich war das Blödsinn, aber so müde wie sie war schien selbst diese Idee nicht allzu weit her geholt. Sie war gerade bei ihrer dritten Tasse Kaffee, als sie Schritte hörte. Innerlich seufzend drehte sie sich um und sah einen wütenden Staatsanwalt auf sie zusteuern. Am liebsten hätte sie ihm einfach ihre FBI-Marke gezeigt und ihn so zum Schweigen gebracht, doch sie erinnerte sich an das Benehmen, das ihr ihre Eltern so mühevoll beigebracht hatten und erhob sich um ihn zu begrüßen.
„So spät noch auf, Mister Mallory?" Anscheinend hatte der Staatsanwalt sein Benehmen an den Pforten des Archivs abgegeben, denn er verzichtete sogar auf eine Begrüßung und fing gleich mit seiner Tirade an.
„Was fällt Ihnen ein, zwei meiner Leute zur Spurensicherung zu Caine zu schicken? Sie sollen eine Mordserie aufklären – keinen Phantomen hinterher jagen! Um Caine werde ich mich später kümmern." Titia hörte sich seine Bemerkungen ruhig an und lächelte, als sie ihm antwortete.
„Erstens, das sind nicht Ihre Leute, sie spielen in einer ganz anderen Liga ... außerdem wurde Lt. Caine nur suspendiert, das heißt formal ist er immer noch deren Vorgesetzter solange er nicht entlassen wird. Zweitens, ich bin Bundesagentin und habe einige weiterreichende Befugnisse. Wenn ich es für nötig erachte gewisse Maßnahmen zu ergreifen", sie sah Alistair direkt in die Augen, „dann ergreife ich sie. Punkt. Drittens, wenn wir mit unseren Vermutungen richtig liegen, dann hat die Mordserie tatsächlich etwas mit Lt. Caine zu tun, aber nicht mit ihm als Täter. Also sparen Sie sich ihren Atem lieber für das Plädoyer auf, wenn Sie den richtigen Mörder anklagen." Sie sah ihn herausfordernd an. „Sonst noch etwas?" Mallory glättete seine Krawatte, schaute unschlüssig von einem Aktenregal zum nächsten und verabschiedete sich dann.
Calleighs Gesichtsausdruck spiegelte Unbehagen wieder, als sie mit Delko vor dem zweistöckigen, weiß getünchten Haus stand, das in einer ruhigen Nebenstraße lag und hinter dem das Meer begann. Helles Mondlicht verlieh allem eine gewisse Schärfe und ließ die Szenerie beinahe gespenstisch wirken.
„Es fühlt sich falsch an", sagte Calleigh, als sie mit ihrem metallisch glänzenden Koffer in der Auffahrt zu Horatios Haus stand.
„Geht mir genauso. Aber sieh es mal so, wenn wir etwas finden was auf einen Einbruch schließen lässt, dann hätten wir bewiesen was wir sowieso schon wissen", versuchte er sie aufzumuntern.
„Hast du den Schlüssel?", fragte sie, während sie die kleine Treppe zur Eingangstür hoch gingen.
„Sicher ... H hat immer ein Paar Ersatzschlüssel im Büro." Er zeigte ihr den Schlüsselbund.
„Na dann ... los." Sie holten tief Luft und betraten das Haus.
Titia dachte inzwischen ernsthaft darüber nach, ins Motel zu fahren und zu schlafen. Die Zahlenreihen vor ihr ergaben schon lange keinen Sinn mehr und sie hätte sich nicht gewundert, würden sie plötzlich mit Stepptanzen anfangen. Wenn sie recht darüber nachdachte, dann würde sie das sogar ganz lustig finden. Stepptanzende Zahlen ... sie kicherte und beschloss, noch eine weitere Akten anzuschauen, dann wäre es genug. Mit ihren Gedanken immer noch bei stepptanzenden Zahlen erkannte sie die Sequenz vor ihr erst gar nicht – 2415/3908. Sie rieb sich ihre Augen, doch die Zahlenfolge blieb die selbe, eine Zusammensetzung aus zwei aufeinander folgenden Fibonacci-Zahlen. Mit einem Schlag war sie wieder hellwach. Sie überflog die Akte und ein Kribbeln breitete sich in ihrem Magen aus. ‚Officer vor Ort: Lt. Horatio Caine' las sie und stand mit einem Elan auf, den sie sich selber nicht mehr zugetraut hatte. Auf dem Weg zu ihrem Büro las sie den Bericht gründlicher und war auf einmal dankbar, dass sie seit Stunden nichts mehr gegessen hatte. So stellte sie sich die Apokalypse vor ...
„Etwas gefunden?" Speeds Stimme schreckte sie auf und einige der Bilder fielen zu Boden.
„Ich denke schon", antwortete sie, während sie die Bilder gemeinsam mit ihm aufsammelte. „Ich will die Namen der Beteiligten durch die Datenbanken jagen, vielleicht finde ich ja etwas." Speed hielt eines der Bilder in den Händen und sie konnte direkt sehen, wie sich in seinem Kopf die Puzzelteile aneinander reihten.
„Das ist eine Akte des Bombenkommandos."
„Ja", bestätigte sie das Offensichtliche.
„Horatio war beim Bombenkommando." Er sah sie an. „Das war es, was Sie bei der Besprechung verschwiegen haben." Nach einigen Sekunden nicke sie. Er kombinierte schnell, aber ansonsten wäre er wohl nicht beim CSI gelandet. „Also geht es um Horatio?" Wieder nickte sie.
„Aber das hilft nicht, wenn wir nicht wissen warum." Sie nahm ihm das Bild aus der Hand. „Entschuldigen Sie mich."
Samuel saß in seiner Wohnung vor dem Computer, als das Telefon klingelte. Leicht genervt erhob er sich und nahm ab.
„Samuel Orwin."
„Hallo", er erkannte sofort die Stimme von Sophie.
„Du hast jemanden vom CSI-Team umgebracht." Sie lachte.
„Jemanden von der Tagschicht ... du glaubst nicht, wie einfältig die Leute sind." Sie schien das alles sehr lustig zu finden. „Außerdem hast du doch das gleiche vor." Mit dem Unterschied, dass es bei mir gerechtfertigt ist, dachte er. Er ging von der Kommode, auf der die Station für sein schnurloses Telefon stand, wieder zurück zu seinem Schreibtisch. Dort fuhr er behutsam über die vier Fotos, die ordentlich nebeneinander auf der Glasplatte lagen.
„Sag mir eine Zahl zwischen eins und vier!", forderte er sie auf und schaute abwesend wieder auf den Bildschirm, der ihm alle Tätigkeiten an den Computern des CSI-Teams in Miami aufzeigte. Eine Suchanfrage erregte seine Aufmerksamkeit, Namen wurden eingegeben. Patricia Amon, Joshua Mayweather, Gwen Vanderberg, Mary Lindahl, Valentin Gonzales … Samuel Orwin. Er stutzte.
„Ich nehme Nummer drei", antwortete Sophie, die von alledem nichts mitbekommen hatte. Sie wusste, wen die Fotos zeigten. Mitglieder des CSI-Teams in Miami. „Samuel? Noch da?" Sie mochte Stille nicht, sie bedeutete nie etwas Gutes.
„Sie haben es gefunden."
„Was? Wovon redest du eigentlich? Habe ich schon erwähnt, dass ich noch eine Überraschung für dich habe? ... Samuel?"
„Ich hätte nicht gedacht, dass sie meinen Namen jetzt schon kennen." Langsam verstand Sophie.
„Du meinst, sie kennen den Fall?"
„Es ist kein Fall", wurde sie unwirsch von ihm zurecht gewiesen. „Das ändert alles." Er versuchte seine Gedanken zu ordnen. „Ich muss gehen."
„Aber die Überraschung?", doch Sophie sprach nur noch mit sich selbst.
Horatio saß in einem Restaurant und war in Gedanken versunken, als sein Handy mal wieder klingelte. Inzwischen hatte er sich angewöhnt, einen kurzen Moment zu zögern bevor er abnahm.
„Horatio?"
„Hier ist Titia. Ich hab gute Neuigkeiten für Sie. Calleigh und Delko sind wieder auf dem Weg hierher und sie scheinen etwas gefunden zu haben, was Sie entlasten könnte. Außerdem hab ich einen alten Fall entdeckt, dessen Nummer zu den Fibonacci-Zahlen passt. Ich schick' ihnen diese Akte per Fax und geb' die dazugehörigen Namen in die Datenbank ein, vielleicht wissen wir dann mehr ... ach ja, ehe ich's vergesse, der Staatsanwalt wird uns vorerst keine Probleme mehr bereiten." Horatio fühlte sich zum ersten Mal seit vier Tagen etwas entspannter. Sie kamen endlich weiter. Sie hatten eine Spur. Doch trotz der Erleichterung überhörte er nicht die Müdigkeit in Titias Stimme.
„Wann haben Sie das letzte Mal geschlafen?", fragte er und stand auf, um nach Hause zu gehen.
„Äh ... vor zwei Tagen."
„Ruhen Sie sich aus. Die Namen können auch noch warten. Ich schaue mir die Akte an und rufe sie morgen an. Gute Nacht."
„Gute Nacht", erwiderte sie und beschloss, nun wirklich ins Motel zu fahren. Mit wenigen Handgriffen hatte sie die nötigen Sachen zusammen und mit einem letzten Blick auf die Karte von Miami, wo die Fundorte der Leichen mit kleinen roten Nadeln markiert waren, schloss sie die Tür zu dem Büro. Da sie Speed nirgends sehen konnte, hinterließ sie ihm eine Nachricht und stieg schließlich erschöpft in ihr Auto. Miamis Straßen waren auch noch zu so später Stunde gut gefüllt und sie war mehr als dankbar, als sie endlich auf den nur schwach beleuchteten und unbefestigten Parkplatz des Motels fuhr.
„Am Arsch der Welt", fluchte sie leise vor sich hin, während irgendwo in der Nähe ein paar Züge dahin donnerten und ihre Worte übertönten. Der Lärm und die Müdigkeit ergaben eine Mischung, der Titia nicht einmal mehr ihr FBI-Training entgegen zu setzen hatte und so war es für Samuel ein leichtes, sie zu betäuben und in sein Auto zu legen. Als sein dunkler Wagen vom Parkplatz fuhr ahnte nicht ein einziger Motelbewohner, dass keine hundert Meter von ihnen entfernt ein Verbrechen begangen war.
Die Sonne war am nächsten Morgen noch halb im Meer versunken, doch schon jetzt deutete alles auf einen sehr heißen Tag hin. Horatio war schon früh aufgestanden, um sich weiter durch die Akte zu arbeiten. Sein kurzer Schlaf war von Alpträumen über die Bombenexplosion geprägt gewesen und so hatte er es nach nur vier Stunden aufgegeben, Ruhe zu finden. Gedankenverloren rieb er sich über die feine Narbe an seinem linken Arm, eine bleibende Erinnerung daran, dass er in diesem Fall versagt hatte. Nachdem er seinen Kaffee restlos ausgetrunken hatte, wählte er Titias Nummer. Er war sich sicher, dass sie inzwischen wieder wach und an der Arbeit war. Sie wirkte nicht wie jemand, der lange seine Finger von einer so wichtigen Sache ließ. Doch auch nach mehrmaligem Klingeln nahm niemand das Gespräch entgegen. Horatio runzelte verwundert die Stirn, beschloss dann aber, es später noch einmal zu versuchen.
In ihrem kleinen Büro in der Universität von Las Vegas starrte Sophie Lear auf die Anzeige ihrer Funkuhr.
Nicht mehr lange ... du wirst stolz auf mich sein, Samuel.
Nick Stokes hatte nach fünf Stunden Schlaf wieder ein Lächeln auf den Lippen, als er das CSI-Labor betrat.
„Neue Freundin?", zog ihn Angie, die Rezeptzionistin, auf.
„Nein, Schlaf", erwiderte er und wollte schon weitergehen, als sie ihn zurück rief.
„Ich hab' hier ein Paket für euch", sagte sie und reichte ihm einen A4-Umschlag.
„Vielleicht Grissoms neueste Ausgabe von ‚Insekten heute'", bemerkte er grinsend und verabschiedete sich. Auf dem Gang wurde er noch einmal angehalten, also legte er den Umschlag auf eine freie Stelle auf einem der zahlreichen Labortische.
Drei.
Horatios Handy klingelte, als er gerade den fünften Versuch aufgegeben hatte, Titia zu erreichen.
„Horatio", meldete er sich hoffnungsvoll.
„Es ist alles Ihre Schuld. Hätten Sie sie nicht hierher geholt, wäre es nicht so weit gekommen, aber nun gehört sie dazu", sagte die vertraute Stimme ohne jede Gefühlsregung. Horatio versuchte ruhig zu bleiben, auch wenn sich in seinem Innersten plötzlich eine eisige Kälte ausbreitete.
„Meinen Sie Titia? Was haben Sie mit ihr gemacht?" Horatio schloss die Augen, als er die nächste Frage stellte. „Lebt Sie noch?"
„Ja, aber ob das so bleibt liegt ganz bei Ihnen. Ich melde mich wieder."
Zwei.
Calleighs und Speeds Handys klingelten gleichzeitig und gleichzeitig beendeten sie auch ihre Gespräche. Ihre Gesichter waren ernst, als sie sich anschauten.
„Der Mörder hat Titia", sagte Speed tonlos.
„Sie haben die Leiche einer weiteren Studentin gefunden", fügte Calleigh ein weiteres Stückchen zu diesem nicht enden wollendem Albtraum hinzu.
Eins.
Als die Bombe explodierte hatte Nicks Verstand nicht einmal mehr die Zeit zu begreifen, dass etwas nicht stimmte, bevor ihn die Dunkelheit umfing und mit sich in die Tiefe zog.
