Der Tag danach

Horatio versuchte jetzt zum siebten Mal, Catherine zu erreichen. Es klingelte endlos und mit jedem neuen Klingeln schien dieses Geräusch ihn zu verhöhnen. Er war sich nicht sicher, ob das, was er jetzt vorhatte, klug war, aber er hatte keine andere Wahl. Die Zeit der Spielchen war vorbei. Er griff erneut zu seinem Handy und wählte eine andere Nummer.

"Horatio...", Speeds Stimme klang sehr erleichtert, als er Horatios Nummer auf dem Display erkannte, doch dieser ließ ihn nicht zu Wort kommen.
"Speed, hör zu! Titia muss etwas gefunden haben...", weiter kam er nicht.
"Was", Speed wirkte überrascht. Der Klang seiner Stimme ließ in Horatios Gedanken das beunruhigende Bild seines Freundes entstehen - müde, erschöpft und kurz vor der Resignation. "Du glaubst, sie ist ihm zu nahe gekommen"

Horatios Stimme klang ungeduldig. "Das weiß ich nicht, eigentlich ging ich davon aus, dass es um mich geht, aber dessen bin ich mir jetzt doch nicht mehr so sicher. Die Entführung von Titia passt nicht ins Bild, sie entspricht nicht dem Profil. Das würde nur Sinn ergeben, wenn sie tatsächlich etwas herausgefunden hätte." Speed hörte die Zweifel in der Stimme seines Bosses. "Sie hat auf meine Bitte hin die alten Fälle des Bombenkommandos durchgesehen und etwas von einem Fall erzählt, dessen Aktenzeichen einen Bezug zur Fibonacci-Folge hat. Weißt du etwas darüber? Titia wollte die Namen durch die Datenbank laufen lassen."
Speed dachte an letzte Nacht, als er sie mit ihrer Akte fast umgerannt hatte. "Horatio, sie hat die Akte mitgenommen..."
"Das macht nichts", unterbrach Horatio ihn ungeduldig. "Ich habe hier zu Hause eine Kopie und faxe sie gerade in mein Büro. Du musst die Namen überprüfen. Ihr müsst euch auch um den Tatort von Titias Entführung kümmern."

Und wir müssen uns um noch eine weitere Leiche kümmern, dachte Speed, schwieg aber. Lynn Matthews konnten sie nicht mehr helfen - Titia möglicherweise schon, daher hatte sie Vorrang.
"Horatio, kann es sein, dass dieser Kerl Insider-Informationen hat? Woher wusste er, dass Titia etwas gefunden hat - falls sie tatsächlich etwas gefunden hat."
Darüber hatte Horatio sich auch schon Gedanken gemacht und sie gefielen ihm ganz und gar nicht. "Ich weiß es nicht", gestand er. "Aber ich rate dir, mit niemandem von unserer Behörde über den Fall zu sprechen. Die Datenbanken wirst du benutzen müssen, aber abgesehen davon, lass die Finger von den Computern - möglicherweise werden sie überwacht." Er konnte hören, dass Speed mit Papieren raschelte. Das Fax war inzwischen bei ihm angekommen und er machte sich sofort daran, die Namen durch den Computer zu jagen:... "Mary Lindahl - keine weiteren Einträge; Valentin Gonzales - keine weiteren Einträge; Samuel Orwin...", Speed stutzte. "Horatio sagt dir der Name Samuel Orwin etwas? Er hat bei der Explosion seine Verlobte Samantha verloren. Sie ist einige Tage danachähhh, am 13. Dezember im Krankenhaus gestorben ohne aus dem Koma erwacht zu sein."

Horatios Verstand arbeitete auf Hochtouren. Orwin, der 13. Dezember 93... 13. Dezember... er wälzte dieses Datum in seinen Gedanken herum. "Speed, das muss er sein. Der Todestag seiner Verlobten 12/13/93, das ist auch wieder eine Fibonacci-Zahl, richtig"
"Mein Gott, du hast Recht... Horatio, jetzt haben wir einen Namen UND ein Gesicht." Speed klang richtig euphorisch. "Er ist kein Phantom mehr"
Horatio hasste es, ihn bremsen zu müssen. "UNSER Täter ist kein Phantom mehr, die Täterin in Las Vegas kennen wir aber immer noch nicht, oder"
"Ja, du hast Recht", Speed klang etwas zerknirscht, weil er sich zu früh gefreut hatte. "Ohübrigens haben Calleigh und Eric in deinem Haus Fußabdrücke gefunden, die nicht von dir stammen. Also haben wir einen Hinweis für einen Einbruch. Vielleicht reicht das schon, um dich zu rehabilitieren. Wir brauchen dich hier dri...", Speed unterbrach sich fluchend, als sein Blick auf den laufenden Fernseher fiel. "Horatio schalte CBS ein - das CSI-Labor in Las Vegas ist in die Luft geflogen"


In Catherines Kopf rauschte und klingelte es ununterbrochen. Sie hatte das Gefühl, die Welt um sich herum nur durch Watte wahrzunehmen. Ihr ganzer Körper tat weh. Warum war es hier nur so unordentlich? Irgendwie sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen... etwas Warmes lief ihr über das Gesicht. Sie fasste sich an die Stirn und besah sich ihre Hand, die mit ihrem Blut beschmiert war, ohne jedoch zu realisieren, was das rote Zeug war. In ihrem Blickfeld tauchten zwei Grissoms auf, die sie beide gleichzeitig irgendetwas fragten, aber sie verstand nicht, was die Grissoms von ihr wollten. Dann wurde es wieder dunkel um sie. Die Sanitäter hoben sie vorsichtig auf eine Trage und brachten sie zum Rettungswagen und dann ins Krankenhaus.

Grissom sah sich fassungslos um. Wo war Nick? Er rief voller Sorgen nach seinem Kollegen, bekam aber keine Antwort. Außer Catherine und Nick war niemand in unmittelbarer Nähe gewesen, als die Bombe explodierte und so war es hauptsächlich eine ganze Menge Materialschaden.

"Nick" Grissom fing an, zusammen mit den Sanitätern und der Feuerwehr, das Labor auf den Kopf zu stellen. "Nick"
"Hier, ich habe etwas", einer der Sanitäter zeigte auf ein Bein, das unter einem schweren völlig verbogenen Metallregal herausragte. Eilig machten sie sich daran, das Regal anzuheben und hofften inständig, dass sie dort mehr als nur ein Bein finden würden. Ein leises Stöhnen ließ sie neue Hoffnung schöpfen. Als sie das Regal beiseite gewuchtet hatten, bot sich ihnen ein beunruhigender Anblick. Nicks Augen waren geschlossen. Sein Brustkorb war eingedrückt und er blutete aus Mund und Nase. Das Bein, das unter dem Regal herausgeragt hatte, war merkwürdig verdreht und der Oberschenkelknochen hatte seine Haut und die Hose durchbohrt.
Die Sanitäter machten sich sogleich daran, sein Genick zu stabilisieren und der Notarzt setzte einen Tubus, um die Atmung aufrecht zu erhalten. Dann betrachtete er sich sorgenvoll die offensichtlich gebrochenen Rippen seines Patienten.
"Was ist los, Doktor", Grissom war offensichtlich in großer Sorge. "Wie geht es ihm? Wird er durchkommen" Seine sonst eher kühle und distanzierte Art hatte deutliche Risse bekommen.

Der Notarzt sah den Leiter der Nachtschicht an und erkannte, dass er ihm nichts vormachen durfte. "Ich weiß es nicht", antwortete er dennoch ausweichend. Dieser Teil seines Jobs fiel ihm nie leicht. Die Sanitäter hatten den Verletzten mittlerweile auf eine Trage gebettet und der Notarzt drückte Grissom die Infusionsflasche in die Hand, die in Nicks Vene führte und bedeutete ihm so, mitzukommen.
"Doktor", das ungeduldige Drängen in Grissoms Stimme war nicht zu überhören, während er neben der Trage hereilte.
"Wir müssen die Untersuchungen abwarten. Er hat eine offene Oberschenkelfraktur, das kann zu einer Embolie oder sogar zum Verlust seines Beines führen. Sein Kreislauf ist im Augenblick stabil. Sollten allerdings die Rippen seine Lunge punktiert haben, kann ich für nichts garantieren"

Horatio verfolgte kreidebleich die Nachrichten. Er sah Grissom wie er neben einer Trage mit einem Schwerverletzten hereilte und dabei die Infusionsflasche hochhielt. Als sie an der Kamera, die diese Aufnahme gerade machte, vorbeihasteten, hielt ein Reporter Grissom sein Mikrofon ins Gesicht und bombardierte ihn mit völlig sinnlosen Fragen. Grissom geriet außer sich. Mit seiner freien Hand packte er wütend die Kamera und warf sie zu Boden. Das Bild erlosch, wurde aber sogleich von einer anderen Kamera wieder aufgenommen.


Andernorts verfolgte auch Samuel die Nachrichten. Sophie hatte ihn vor wenigen Minuten angerufen und ihn aufgeregt dazu aufgefordert, sofort die Nachrichten einzuschalten. Jetzt griff Samuel zu seinem Telefon, um sie anzurufen. Sie nahm mitten im ersten Klingeln ab, so ungeduldig hatte sie auf seinen Rückruf gewartet. Ihre Stimme klang immer noch völlig aufgekratzt, ja richtig euphorisch. "Und, wie findest du das, Samuel? Ist das nicht toll? Jetzt können sie uns nichts mehr anhaben", sie kicherte fast hysterisch. "Ich habe das komplette CSI lahmgelegt - und es liegen jede Menge Scherben herum..."
"Das hast du toll gemacht, Liebling", sagte er sanft, weil ihm klar war, wie sehr sie auf ein Lob von ihm wartete. "Ich bin so stolz auf dich. Das war eine hervorragende Idee."
Im Geiste stellte er sich vor, wie er sie in die Arme nahm, wie seine Hände sanft ihren Hals streichelten - und dann... er verwarf den aufkommenden Gedanken - vorerst.
"Jede Menge Scherben", dachte Samuel verächtlich. Sie hat wirklich nichts verstanden. "Ich werde dich bald besuchen kommen, ich habe hier nur noch eine Kleinigkeit zu erledigen, dann bin ich bei dir." Er sah die immer noch betäubte Titia an. Ja, dachte Samuel, das hier hatte Vorrang. Er verabschiedete sich von Sophie.

Titia lag auf seinem Bett. Er setzte sich auf die Bettkante und sah sie lange an. Seine ganze Rache entwickelte sich nun nicht mehr ganz so, wie er es geplant hatte.
Das war eigentlich kein Problem - er hatte gewusst, dass er flexibel sein musste, wenn er sich mit dem CSI anlegte. Das Problem war diese Frau selbst. Er streckte seine Hand auf, um sie zu berühren, hielt jedoch inne. Sie sah Samantha so ähnlich. Würde er sie, falls es darauf ankam, ebenfalls töten können?

Ein erneuter Blick auf den Computer hatte ihm verraten, dass sein Name zum zweiten Mal überprüft worden war. Er hatte das Apartment zwar unter einem anderen Namen angemietet, dennoch war es Zeit, seinen Unterschlupf aufzugeben. Er stand auf, steckte sein Handy ein, nahm seine Jacke, eine Thermoskanne Kaffee und die Wagenschlüssel und verließ die Wohnung. Titia ließ er zurück - vorerst.

Als er im Auto saßüberlegte er sich, ob er Caine anrufen und ihm von Titia erzählen sollte, entschied sich aber dagegen, obwohl es ihm Spaß gemacht hätte, ihn zu quälen. Allerdings wollte er ihm keine Zeit zur Vorbereitung geben. Nach dreißig Minuten Fahrtzeit durch Miamis katastrophalen Verkehr hatte er sein Ziel erreicht. Er stand - wieder einmal - vor Horatios Haus. Er vermutete Caine in seinem Arbeitszimmer und verschaffte sich deshalb leise Zutritt durch die Küche. Samuel schlich durch das Haus. Er hörte ein Faxgerät arbeiten und im Wohnzimmer lief der Fernseher - die Nachrichten. Seine Wut auf Sophie kochte erneut hoch.

Schwungvoll betrat er Horatios Arbeitszimmer und grinste kaltschnäuzig, denn dieser war so vertieft in seinen Fall gewesen, dass er ihn tatsächlich nicht gehört hatte.
"Hallo Horatio" Zum ersten Mal seit fast zehn Jahren stand er dem Mann wieder gegenüber, dessen Aufgabe es eigentlich gewesen wäre, Samantha zu retten - nicht sie zu töten. Samuel war nicht bewaffnet, aber das brauchte er auch nicht, denn er hatte einen Trumpf in der Hand. Er hatte Titia.

Horatio sah überrascht auf, als er die Stimme hörte. Er sah Samuel an, dann wurde er wütend, als er erkannte, wen er da vor sich hatte. "Wo ist Titia, Orwin! Warum sie? Warum die Morde in Las Vegas"
"Immer mit der Ruhe, Horatio." Samuel lächelte in sich hinein, als er sah, dass er es geschafft hatte, Horatio zu verwirren. Er hatte ihn lange genug studiert, um zu wissen, dass er es hasste, etwas nicht zu verstehen. "Da Sie nicht überrascht zu sein scheinen, nehme ich an, Sie erinnern sich an mich. An meine Verlobte, die von einer Bombe getötet wurde, die SIE hätten entschärfen sollen" Seine Stimme war laut geworden und überschlug sich fast. Er hatte die Beherrschung verloren und kämpfte darum, sich wieder in den Griff zu bekommen. Für einen kurzen Moment fragte sich Samuel, wo Horatios Waffe war, aber er war sich sicher, dass Horatio ohnehin nicht schießen würde.

"Ich sage Ihnen jetzt, wie das hier laufen wird", er sah Horatio mit einem Ausdruck der Überlegenheit an. "Ich will Sie! Sie erhalten von mir die Chance, die Frau zu retten. Ich schlage Ihnen einen Deal vor." Er stellte die Thermoskanne vor Horatio auf den Schreibtisch. "Sie trinken das und dann", er fing an zu lächeln"lasse ich Titia frei.?
"Was ist da drin" Horatio runzelte misstrauisch die Stirn.
"Nur ein Betäubungsmittel. Ich will ja nicht, dass Sie mir wieder weglaufen", er lachte hämisch. "Und töten will ich Sie auch nicht", noch nicht, setzte er in Gedanken hinzu. "Sie trinken das und wenn ich Sie dort habe, wo ich Sie haben will, sage ich Ihren Leuten, wo die Frau ist. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort." Horatio hätte ihm zu gerne das süffisante Lächeln ausgetrieben. "IHNEN soll ich vertrauen"
"Hmm, das müssen Sie wohl. Übrigens, bevor Sie fragen, NOCH lebt sie..."

"Und was, wenn ich das nicht trinke" Horatio war aufgestanden und ging drohend auf Samuel zu, zu allem bereit.
"Ganz einfach", erwiderte Samuel genüsslich. "Dann gehe ich wieder und sie stirbt. Ich weiß als Einziger, wo sie ist. Oh, und drohen Sie mir nicht, denn wenn ich tot bin, werden Sie sie nie finden." Er schenkte Horatio den Inhalt der Kanne in den zugehörigen Becher und hielt ihm das schwarze Gebräu auffordernd hin. "Bon Appétit"

Horatio nahm den angebotenen Becher und zögerte nur einen Moment, wohl wissend, dass er sich möglicherweise gleich vergiften würde. Offensichtlich gab es aber keine andere Chance für Titia. Er trank den Inhalt in einem Zug. Die Wirkung setzte beinahe augenblicklich ein. Ihm wurde schwindlig und der Raum begann sich zu drehen...

Samuel genoss den Anblick, er hatte triumphiert. Er konnte beobachten, wie Horatio die Augen verdrehte. Seine Lider flatterten, dann brach er bewusstlos zusammen.