Alles hat seine Zeit

Zeit ist relativ.

Samuel hatte fast zehn Jahre auf diesen Moment gewartet und er genoss ihn. Er hatte es geschafft, alle Fäden lagen nun in seiner Hand. Es war unbeschreiblich – nichts konnte diesen Moment zerstören. Selbst wenn die Polizei in diesem Augenblick durch die Türe gestürmt wäre, hätte er sich als Sieger gefühlt. Horatio Caine hatte sich seinem Willen gebeugt, allein das zählte und war alles wert, was danach kommen sollte. Aber es kam keine Polizei. Niemand schien auch nur die geringste Ahnung davon zu haben, was hier vor sich ging. Samuel lächelte zufrieden und hob den nun leeren Kaffeebecher auf. Er war am Ziel, nur noch wenige Stunden trennten ihn von seinem endgültigen Sieg.

„Ihr habt es mir fast zu einfach gemacht", flüsterte er, als sich zu Horatio herunter beugte.


Für Gil Grissom dehnten sich die Minuten gerade ins Unendliche. Es war, als verschluckten sie alles, was um ihn herum geschah. Keine Geräusche, keine Bewegungen – nichts.

„Grissom?", auch Brass' Stimme klang wie vom Wind über viele Kilometer getragen. Nur sehr langsam schaute er zu ihm hinauf und musste blinzeln, weil das helle Licht der Neonröhren ihn blendete. „Was ist mit Nick? Und Catherine?" Mit einem Mal hörte er die Stimme des Captains so deutlich, dass sie durch Papier hätte schneiden können. Auch der Geruch von Desinfektionsmitteln und der typische Geräuschpegel einer Notaufnahme kehrten wieder zurück. Er stand auf und sah zu der Tür, hinter der Nicks lebloser Körper vor einer Viertelstunde verschwunden war.

„Catherine hat eine Gehirnerschütterung und eine Platzwunde. Die Ärzte wollen sie eigentlich hier behalten, aber sie will nach Hause. Sie zieht sich nur noch an und dann fahre ich sie hin. Was Nick angeht", sein Gesicht nahm einen verschlossenen Ausdruck an, doch Brass kannte ihn schon lange genug um zu wissen, wie besorgt der Leiter der Nachtschicht um sein jüngstes Teammitglied war. „Ich weiß es nicht ... die Ärzte können noch nichts sagen. Er wird im Moment operiert." Brass musterte ihn für einen Moment.

„Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie fahren Catherine nach Hause und finden, wer auch immer das hier getan hat und ich bleibe hier und rufe Sie an, sobald ich etwas Neues bezüglich Nick weiß. In Ordnung?" Grissom überlegte einen Augenblick und nickte dann.

„Danke", sagte er noch bevor er losging, um Catherines Zimmer zu suchen. Brass setzte sich auf einen der unbequemen, orangefarbenen Plastikstühle und während er durch eine Zeitung blätterte, betete er, dass Nick überleben würde.


Titia Chambers hatte das letzte Mal solche Kopfschmerzen gehabt, als sie in Las Vegas mit einem Ehering am Finger aufgewacht war. Zum Glück war dieser ebenso wie die Kopfschmerzen wieder verschwunden.

„Na, wieder wach?" Die Stimme ließ ihr ihre Nackenhaare zu Berge stehen. Sie hatte sie noch nie zuvor gehört, doch sie wusste sofort wem sie gehörte. Es gab nur eine Erklärung, Samuel Orwin. Der Mörder von drei jungen Frauen. Sie wollte ihm etwas erwidern, doch sie konnte nicht, Klebeband hinderte sie daran. „Ich wollte nur verhindern, dass Sie schreien." Er beugte sich näher zu ihr heran und sie wich nach hinten, was ihr allerdings durch ihre gefesslten Hände erschwert wurde. „Aber, aber ... Sie brauchen doch keine Angst vor mir zu haben. Ich habe jemanden versprochen, dass Ihnen nichts geschehen wird." Seine Augen blitzten auf und sie hatte das Gefühl, er kostete irgendeine Art von Triumph aus. Ein ungutes Gefühl beschlich sie und sie hoffte inständig, dass sie mit ihrer Vermutung falsch lag. Samuel starrte sie unverwandt an und er schien weit weg. Er hob seine Hand und sie wich bis zur Wand zurück. „Keine Angst", seine Stimme war nur noch ein Flüstern als er über ihre Wange fuhr. „Samantha ... " In einem Sekundenbruchteil verstand sie, was er in ihr sah. Samantha, sie musste der Grund für die Ereignisse der vergangenen Tage sein. Schließlich löste er das Klebeband und legte seinen Zeigefinger auf ihren Mund. „Shhhh." Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell während sie versuchte, die Kontrolle über sich zu behalten. Sie hatte sich schon oft in Geiseln hinein versetzen müssen, sie hatte während der Ausbildung sogar selber Geiselnahmen nachgespielt. Nur war das nichts gegen die Realität, diese konnte von nichts und niemanden geschlagen werden. Dass dies die Realität war, wurde ihr noch umso mehr bewusst, als Samuel sich vorlehnte und sie küsste. Vollkommen überrascht dachte sie nicht einmal über eine Reaktion nach, sondern verharrte einfach nur in ihrer Position. Nach endlosen Sekunden löste er sich wieder von ihr und stand auf.

„Wem haben Sie versprochen, dass mir nichts passiert?", wollte sie wissen und fragte sich doch, ob sie die Antwort hören wollte. Er setzte sich wieder auf das Bett neben ihr und seine Augen waren unverwandt auf sie gerichtet.

„Beleidigen Sie nicht meine und Ihre Intelligenz", erwiderte er und schien sich sogar ein wenig zu amüsieren. Titia fühlte sich, als hätte ihr jemand in die Magengrube geschlagen.

„Horatio, nicht wahr?" Er nickte. „Was haben Sie mit ihm gemacht?"

„Sagen wir es so, er hat sich freiwillig in meine Hände begeben." Plötzlich wurde die Luft in dem Raum eiskalt und sie vergaß zu Atmen. Nein, das durfte nicht wahr sein.

„Sie glauben mir nicht?" Er hörte sich verletzt an und sie hätte angefangen zu lachen, wäre die Situation nicht so ernst gewesen. „Aber denken Sie doch einmal nach ... womit könnte man einen Mann wie Horatio Caine ködern?" Sie schluckte trocken. Auch wenn sie Horatio erst seit drei Tagen kannte, so hatte sie doch eine Ahnung davon, was Samuel meinte. Horatio würde nicht zulassen, dass jemand zu Schaden kam, vor allem nicht durch seine Schuld oder Untätigkeit. „Es ist so einfach, wenn man erst einmal hinter den Spiegel geschaut und die ganzen Scherben gesehen hat." Titia hätte ihn nur zu gerne in irgendeiner Art verletzt, aber sie wusste, dass das keine gute Idee war. Er hatte Horatio, sie war sich sicher, dass er in diesem Punkt die Wahrheit gesagt hatte. „Ich werde Sie dann alleine lassen", sagte er unvermittelt und nahm das Klebeband in die Hand. „Leben Sie wohl", waren seine letzten Worte, bevor er die Tür hinter sich schloss und sie stumm zurück ließ.


Grissom nahm schweigend das Ausmaß der Zerstörung im Labor in sich auf. Er konnte immer noch nicht ganz glauben, was passiert war. Von rechts hörte er schließlich Schritte und nach der Gangart zu urteilen, konnte es nur Warrick sein.

„Was haben wir bis jetzt, Warrick?", fragte er ohne sich umzudrehen. Warrick verkniff sich die Frage, wie er das machte, es gab im Moment wesentlich Wichtigeres.

„Noch nicht viel. Angie zufolge wurde das Paket von UPS geliefert. Sara besorgt uns gerade einen Gerichtsbeschluss, der uns erlaubt, den Auftraggeber zu ermitteln. Der Sprengstoff an sich ... ", sein Blick blieb auf dem getrockneten Blut hängen, das auf dem Boden verschmiert war. „ ... also das war C4. Wer auch immer das war muss Ahnung gehabt haben."

„Ich glaube, ich weiß wer es war."

„Ach ja? Und wer?"

„Unsere geheimnisvolle Mörderin, sie-", weiter kam Grissom nicht, denn sein Handy klingelte. Ein Blick auf sein Display offenbarte, dass es Brass war. „Wie geht es Nick?", fragte er ohne zu grüßen. Warricks Gesicht zeigte tiefe Besorgnis, während Gil am Handy zuhörte. Nach nicht mal einer Minute war das Gespräch beendet. „Er wird es schaffen, Nick wird wieder gesund", sagte Gil schließlich und dankte im Stillem jeder höheren Macht, die er kannte.


Ein Schlag ins Gesicht weckte Horatio Caine aus seinem erzwungenen Schlaf. Das erste was er wahrnahm, war der stechende Schmerz in seinem linken Arm und er sog scharf die Luft ein.

„Kommt Ihnen das bekannt vor?" Schlagartig machte er seine Augen auf und starrte in das Gesicht von Samuel Orwin.

Horatio reagierte nicht auf die Frage, sondern versuchte, soviel wie möglich von seiner Umgebung wahrzunehmen. Er befand sich in einem kleinen Schuppen, nicht dem unähnlich, in dem sie Jenna Kennsons Leiche gefunden hatten. Er schluckte trocken, als ihm sein Verstand die dazugehörigen Assoziationen aufzeigte. Samuel hatte sich inzwischen an die gegenüberliegende Wand gesetzt und drehte eine blutbefleckten Glasscherbe in seinen Händen hin und her.

„Wissen Sie, ich habe lange auf diesen Moment gewartet." Horatio hatte Probleme sich auf die Worte zu konzentrieren, sein Arm brannte inzwischen wie Feuer und es half auch nicht, dass seine Hände mit Handschellen an ein altes Kupferrohr über seinem Kopf gefesselt waren.

„Und es mussten drei unschuldige junge Frauen sterben, damit Sie bis hierher kommen, oder wie?" Die Luft in dem Raum war stickig und heiß und machte das Atmen zu einer Qual.

„Sie verstehen nicht ... sind Sie schon jemals mit nackten Füßen über Scherben gegangen?" Er blickte auf den Boden und senkte seine Stimme. „Es ist grausam, es tut weh. Die Scherben schneiden ins Fleisch und man weiß, dass, egal was man tut, es noch mehr weh tun wird. Man wünscht sich, dass es aufhört ... und man geht los, einen Schritt nach dem anderen. So schnell wie möglich, es soll nur vorbei sein." Unvermittelt hob er seinen Kopf und starrte Horatio wütend an. „Im Nachhinein hat mich das an einen Tanz erinnert ... an einem Tanz über Scherben. Erinnern Sie sich?" Natürlich erinnerte Horatio sich, es war eines der Bilder, die sich für immer in sein Gedächtnis eingebrannt hatten. So wie Rays Leiche oder die Unterzeichnung seiner Scheidungsurkunde. Sie hatten eine Bombendrohung für ein Kaufhaus in der Innenstadt bekommen und er war gerade in der Nähe gewesen. Doch die Zeit war gegen sie gewesen und so hatten sie weder alle Leute evakuieren, noch die Bombe entschärfen können. Er hatte nur hilflos zusehen können, wie alles in ein Inferno ausartete. „Und Sie haben es nicht verhindert ... und euer tolles CSI-Team hat noch nicht einmal diesen Bastard gefunden, der das getan hat." Horatio fragte sich, ob Samuel eigentlich die Parallelen zwischen ihm und dem Bombenleger erkannte. Um sich zu rächen war er genauso schlimm geworden, er hatte auch unschuldige Menschen getötet.

„Was ist mit Titia?", fragte er und versuchte nicht daran zu denken, was Samuel noch alles mit dieser Scherbe anstellen konnte.

„Ich halte meine Versprechen, ihr geht es gut und sie wird bald frei sein." Im Gegensatz zu Ihnen, fügte er in Gedanken hinzu. Aber er brauchte es nicht laut auszusprechen, seine Gedanken waren klar auf seinem Gesicht ersichtlich. Hass und Wut spiegelten sich darin wieder. Er stand wieder auf und ging bis zur Mitte des Raumes, stoppte dann aber abrupt. Die Glasscherbe wanderte wieder unruhig von einer Hand in die andere und Horatio fragte sich, ob seine Zeit jetzt endgültig abgelaufen war. Doch anscheinend hatte Samuel andere Pläne, er war die Glasscherbe vor Horatios Füße und schaute ihn verächtlich an. „Ich bin noch nicht fertig mit Ihnen."

Wenig später war Horatio alleine in dem dunklen Schuppen und lehnte seinen Kopf gegen die Wand, von der schon der Putz abbröckelte. Samuel war tatsächlich verschwunden. Aber für wie lange und wohin? Er schloss die Augen um die aufkommenden Bilder von Calleigh oder Tim in Samuels Gewalt abzublocken. Stattdessen sagte er sich, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sein Team ihn fand. Doch als er wieder die heiße Luft einatmete und Schweißtropfen auf seiner Haut spürte wurde ihm etwas klar.

Zeit war etwas, was er nicht hatte.