Verzweifelte Suche

Horatio wusste nicht, wie lange er schon in dem Schuppen saß. Auf alle Fälle zu lange. Sein Mund war völlig ausgetrocknet und seine Zunge fühlte sich an, als bestünde sie aus Matratzenfüllung. Er schwitzte schon eine ganze Weile nicht mehr und das war gar nicht gut. Horatio wusste das. Er kannte die Symptome eines Hitzschlages, auch wenn er längst nicht mehr in der Lage war, sie als solche zu erkennen. Seine Kopfschmerzen waren, verursacht durch eine hitzebedingte Hirnschwellung, unerträglich geworden. Vor seinen Augen begannen rote Flecken zu tanzen und er halluzinierte bereits. Aber auch das war ihm nicht bewusst.


Der Morgenhimmel über Miami hatte einen goldenen Schimmer angenommen und kündigte damit einen weiteren heißen Tag an. Einen Tag, den die meisten Menschen genießen würden, doch nicht so die Menschen, die beim Miami Dade Crime Lab arbeiteten.
Dort war die Stimmung auf einem nie da gewesenen Tiefpunkt. Der einzige Mensch, der wusste, wo Horatio war, schwieg beharrlich - und Horatio lief die Zeit davon.

Speed lief unruhig im Labor auf und ab. Er war alleine und das war auch gut so. Unruhig fuhr er sich durch die Haare und spielte mit den Knöpfen seines Hemdes herum. Er versuchte immer noch zu begreifen, was alles passiert war und vor allem, warum. Doch irgendwie ergab es für ihn keinen Sinn und was noch schlimmer war, er sah einfach keine Lösung. Es war als wollte das Universum, dass Orwin siegte. Schließlich blieb Speed stehen und schüttelte den Kopf, solche Gedanken halfen niemanden. Es musste einen anderen Weg geben, Horatio zu finden.

Eric saß im Pausenraum, der Fernseher lief und er war nicht minder nervös und wütend als Speed oder Calleigh. Sie alle warteten auf den erlösenden Anruf aus Las Vegas, der einfach nicht kommen wollte. Am liebsten wäre Eric nach Vegas geflogen und hätte Orwin selbst ‚verhört'. Sie alle sahen in Horatio einen Freund und ihm nicht helfen zu können, zerrte unglaublich an ihrer aller Nerven. Er sah zum Fernseher und stand auf, um seine Wanderung über den Teppich wieder aufzunehmen. Wenn man genau hinsah, konnte man schon seinen Weg darauf nachvollziehen. Im Fernsehen liefen Nachrichten, doch Eric hörte nicht zu. Er sah durch den Fernseher hindurch und fragte sich, ob Horatio noch am Leben war und was er tun sollte, falls nicht. Daran mochte er überhaupt nicht denken. Auf einmal fokussierte er seinen Blick dann doch auf das Bild, das sich ihm bot. Die Nachrichten waren bei den täglichen Staumeldungen angelangt und zeigten Luftaufnahmen. In Eric keimte eine Idee auf, die zwar verrückt klang, aber soweit er es beurteilen konnte, möglicherweise Horatios einzige Chance war. Er sprang auf und stürmte zu Speed ins Labor.

„Speed, die Luftaufnahmen", sagte er atemlos, als er seinen Kollegen gefunden hatte. „In Miami wird doch nahezu alles aus der Luft überwacht... Verkehr, Polizei, Nachrichten.. dauernd kreisen irgendwelche Hubschrauber."

Speed musste kein weiteres Wort mehr hören. „Wir besorgen uns alle Videobänder von gestern und sehen sie durch, ob uns etwas Ungewöhnliches in der Nähe von Horatios Haus auffällt." Er hatte schon den Telefonhörer in der Hand um eventuell den nötigen Gerichtsbeschluss zu erhalten. „Informiere Calleigh und sag auch Sevilla, Tripp und Bernstein Bescheid, die müssen uns helfen, die Bänder durchzusehen." Titia stand leider nicht zur Verfügung. Sie befand sich noch immer im Krankenhaus. Die ganze Sache hatte sie furchtbar mitgenommen.

„Schon unterwegs", sagte Eric im Hinausgehen und war verschwunden. Es war das erste Mal, seit sie von Horatios Entführung erfahren hatten, dass sie wirklich etwas tun konnten.

Zwei Stunden später saßen sie zu sechst vor verschiedenen Monitoren und schauten fern. Die Cops hatten sich nicht lange bitten lassen müssen, denn sie wussten, dass Horatio seinerseits alles tun würde, um ihnen in solch einer Situation zu helfen. In einer Aufnahme sahen sie schließlich tatsächlich Horatios Haus und - Gott sei Dank - einen Wagen in der Einfahrt, der nicht ihm selbst gehörte. Es war ein weinroter Chrysler LeBaron - solch einen Wagen hatte Orwin gefahren und war am Flughafen sichergestellt worden. Daher hatten sie gewusst, dass Orwin auf dem Weg nach Las Vegas war. Kupferrote Haare - wie Horatios - waren im Kofferraum gefunden worden. Zum Glück war es kein zu häufig vorkommendes Modell, schon gar nicht in dieser Farbe.

„Hier ich habe etwas", schrie Tripp ganz aufgeregt, als er den Wagen entdeckt hatte. Jetzt mussten die Anderen die Gegend um Horatios Haus mithilfe der Luftaufnahmen nach diesem Wagen durchsuchen. Sie schafften es, in mühevoller Puzzlearbeit, den Wagen etwa eine Stunde lang auf den Bändern zu verfolgen. Speeds Augen waren schon blutunterlaufen und Calleigh lebte nur noch von dem starken Kaffee, den Eric immer braute - so, wie die Anderen auch.

Dann geschah ein Unglück. Unter einer Brücke verloren sie den LeBaron aus den Augen und als er danach wieder zum Vorschein kam - waren es plötzlich zwei...

Bernstein stöhnte auf, als er es auf einem seiner Bänder bemerkte. „Und was jetzt?", fragte er entmutigt.

„Dann suchen wir jetzt eben nach beiden Autos... bis wir eines von ihnen ausschließen können", erwiderte Calleigh ärgerlich.

Als die Autos durch eine Allee fuhren, wurde eines von ihnen freundlicherweise von einem Vogel, dem das frischgewaschene Auto wohl ein Dorn im Auge war, mit einem weißen Fleck versehen - was die Sache wieder etwas vereinfachte. Zumindest hofften sie das. Diese Hoffnung währte nur so lange, bis sich die beiden Wagen an der übernächsten Kreuzung trennten. Gerade, als sie alle angefangen hatten, wieder Hoffnung zu schöpfen

Die weitere Suche gestaltete sich alles andere als einfach. Ihre Kräfte waren halbiert, da sie ja zwei Wagen verfolgen mussten und Erschöpfung und die Sorge um Horatio nahm zu. Nach einer weiteren Stunde verzweifelten Suchens, fuhr einer der infrage kommenden Wagen in die Einfahrt eines Einfamilienhauses. Sie sahen, wie eine Frau mit zwei kleinen Kindern ausstieg und ins Haus ging. Dies war also das falsche Auto gewesen...

Jetzt wurde es wieder einfacher - es ging nur noch um den markierten Wagen. Sie verfolgten den Wagen bis an den Rand eines militärischen Sperrgebietes. Aus diesem Bereich hatten sie keine Luftaufnahmen. Es war für Hubschrauber ohne Sondergenehmigung verboten, eine Militärbasis zu überfliegen.

„Das darf doch nicht wahr sein", stöhnte Speed deprimiert. „Wir sind so weit gekommen und das soll es jetzt gewesen sein?" Er fegte wütend die bereits überprüften Videobänder vom Tisch. Sie polterten zu Boden. Sie alle ließen die Köpfe hängen, als Speeds Handy klingelte.

Als er sich meldete, hörte man seiner Stimme seine Wut an. „Ja?"

Am anderen Ende war Warrick. „Leider haben wir immer noch nichts Neues. Seid ihr ein Stück weiter gekommen?"

Speed schloss gequält die Augen. Er hatte das Gefühl, dass sie Horatio im Stich ließen. Horatio verließ sich auf sein Team und sie kamen einfach nicht weiter. „Wir haben mittels Luftaufnahmen den Wagen ausfindig machen können, mit dem Horatio transportiert wurde, aber am Rand einer Militärbasis haben wir ihn aus den Augen verloren - die Hubschrauber haben keine Überflugerlaubnis für solche Sperrgebiete."

„Und diese Militärbasis grenzt die Suche nicht ausreichend ein?"

„Bedauerlicherweise nicht, in unmittelbarer Nachbarschaft ist ein riesiges Industriegebiet, das stillgelegt werden musste, als die Basis gebaut wurde. Das sind immer noch mehrere hundert Quadratkilometer, die wir durchsuchen müssen..."

Als Warrick antwortete, war er ganz aufgeregt. „Speed, ich rufe gleich noch mal an, Grissom scheint eine Idee zu haben." Damit legte er auf.

„Was ist?", fragte er Grissom, der ihm - als er den Begriff ‚Militärbasis' gehört hatte - sofort Zeichen gegeben hatte.

„Erinnerst du dich noch an den Fall mit den toten buddhistischen Mönchen? Der Parkplatz des Tempels lag in der Nähe einer Militärbasis. Seit dem 11. September werden alle Militärbasen via Satellit überwacht. Davids Vater hat uns damals geholfen... Er ist Colonel der Luftwaffe und hat uns mit Satellitenfotos dieser Gegend versorgt, so konnten wir einen Wagen auf dem Parkplatz identifizieren. Lass dir eine genaue Beschreibung des Wagens geben", mit diesen Worten war er auch schon zur Tür heraus, auf dem Weg in die Leichenhalle, um David erneut um Hilfe zu bitten.
Warrick rief Speed an und ließ sich eine Beschreibung des gesuchten Wagens geben - bis hin zu dem weißen Fleck auf der Motorhaube. Das Kennzeichen hatten sie von der Zulassungsstelle.

„David", Grissom platzte mitten in eine Autopsie rein. „Sie müssen für mich noch einmal Kontakt mit Ihrem Vater herstellen."

David sah ihn überrascht an. „Was wollen Sie denn von ihm?"

Grissom wurde ungeduldig, ihnen lief die Zeit davon. „Er muss uns Satellitenfotos von einer Militärbasis in Miami besorgen - irgendwo in dem angrenzenden Industriegebiet ist Caine und wenn wir uns nicht sehr beeilen, kommen wir zu spät! Diese Fotos sind seine einzige Chance."

Colonel Philips war nicht sehr erfreut, aber als er die Dringlichkeit sah, erklärte er sich damit einverstanden, die Fotos zu besorgen.

Die Aufnahmen waren wirklich überragend. Zum Glück für Horatio war der Himmel über Miami sonnenklar, denn durch eine Wolkendecke hätten sie kaum auf visuelle Aufnahmen hoffen können.

Grissom erinnerte sich noch an das damalige Gespräch mit dem Colonel. „Wir können eine Briefmarke auf dem roten Platz noch erkennen", hatte Davids Vater stolz verkündet und Grissom hatte daran keinen Zweifel mehr.

Eines der Bilder war aus einem niedrigen Winkel aufgenommen worden, aus dem man sogar das Kennzeichen entziffern konnte. Damit war der endgültige Beweis erbracht, dass es sich bei dem Auto mit dem Vogelkot tatsächlich um den Wagen Orwins handelte.
Im Gegensatz zu den Bildern der Verkehrsüberwachung handelte es sich bei den Satellitenaufnahmen um Standbilder, die im Abstand von fünf Minuten gemacht worden waren. Warrick und Sara sahen die Aufnahmen in aller Eile durch, bis sie den Wagen schließlich sechs Bilder lang, also etwa dreißig Minuten vor einer kleinen Wellblechhütte stehen sahen, die wohl mal als Lagerschuppen gedient hatte.

Warrick rief eilig Miami an und nannte Speed die genauen Koordinaten der Hütte. „Dort muss er sein!"

Eric hatte mitgehört und eilig ein GPS auf diese Koordinaten programmiert, so dass sie nicht auch noch Zeit verlieren würden, wenn sie sich verfahren sollten. Der Gerichtsbeschluss lag vor - falls die Jungs von der Basis Schwierigkeiten machen sollten und ein Rettungswagen stand auch bereit, für alle Fälle.
Mit Sirenen jagten sie die Hummer in einem nie da gewesenen Tempo durch halb Miami um zu diesem Industriegebiet zu kommen. Der einzige Gedanke, der sie im Augenblick alle beschäftigte, war ‚Hoffentlich kommen wir nicht zu spät...'

Dank des GPS fanden sie die Baracke auf Anhieb. Tripp und Bernstein sicherten die Umgebung - obwohl Orwin gefasst worden war, war es denkbar, dass er irgendwelche Überraschungen zurückgelassen hatte.

Speed trat die Tür ein und da saß Horatio... die Hände mit Handschellen über den Kopf gefesselt und den Kopf an die Wand gelehnt. Seine Augen waren geschlossen. Auf diese Entfernung konnte Speed nicht erkennen, ob sein Vorgesetzter und Freund noch lebte. Mit drei Schritten war er bei ihm.

„Horatio! Horatio, hörst du mich?" Speeds Stimme hatte einen verzweifelten Ton angenommen und er suchte an Horatios Halsschlagader nach einem Puls. Er war schwach und unregelmäßig, aber vorhanden. Eilig schloss er die Handschellen auf und als Horatios Arme zu Boden fielen, stöhnte dieser vor Schmerzen auf. Er saß schon seit über vierundzwanzig Stunden reglos in dieser Position. Dann sank er langsam zur Seite. Speed fing ihn vorsichtig auf . Er sah, dass Horatio versuchte, die Augen zu öffnen und redete weiter auf ihn ein. „Horatio sieh mich an!", forderte er besorgt.

Eric hatte Speed die Wasserflasche, die er immer im Hummer hatte, zugeworfen, bevor er sich hinkniete und Horatios Fußfesseln zerschnitt. „Er hat einen Hitzschlag. und ist völlig dehydriert!"

„Das sehe ich selber Eric, wo ist dieser verdammte Rettungsarzt!" Speed versuchte Horatio das lauwarme Wasser einzuflößen.
Horatio fühlte irgendetwas Feuchtes auf seinen Lippen und schluckte instinktiv. Er öffnete die Augen, aber außer den roten Flecken, die schon seit Stunden vor seinen Augen tanzten, konnte er nichts erkennen. Er glaubte, aus weiter Entfernung Speeds Stimme gehört zu haben, der irgendetwas von einem Arzt geredet hatte. Dann wurde es wieder dunkel um ihn.

Wie aufs Stichwort kam der Arzt endlich zusammen mit den Sanitätern herein und scheuchte die beiden Ermittler raus.

Speed und Delko sahen vom Eingang aus zu, wie die Sanitäter den Bewusstlosen auf die Rolltrage legten und den Blutdruck maßen. „60:30 - das ist nicht gut. Sofort eine Infusion, schnell, bevor der Kreislauf kollabiert", forderte der Arzt, während er Horatios Hemd aufriss um den Herzschlag abzuhören. Sie brachten Horatio zum Rettungswagen und fuhren so schnell es nur ging ins nächstgelegene Krankenhaus. Zurück blieben Eric und Speed.

„Wir haben alles getan was wir konnten", versuchte Speed Zuversicht zu zeigen.

„Ja ... beten wir, dass wir nicht zu spät gekommen sind", sagte Eric tonlos.