Epilog
Die Sonne hatte gerade die Wipfel der Buchen hinter sich gelassen und begann ihre Wanderung über einen strahlend blauen Himmel, während warmer Wind mit den Blättern der Bäume spielte. Außer diesem Rauschen und dem entfernen Tosen des Ozeans war nichts zu hören. Nichts störte die Ruhe auf dem Friedhof von Miami, während eine einzelne Figur vor einem der frischen Gräber stand. Tief in Gedanken versunken merkte sie nicht, wie sich ihr eine zweite Person näherte.
„Ich hätte mir denken können, dass ich Sie hier treffe", ihre Stimme war leise und die ihr sonst so eigene Energie schien verloren.
„Titia ... schön, Sie zu sehen." Er lächelte sie an und musterte sie gleichzeitig. Seit ihrer letzten Begegnung hatten sich Ringe unter ihren Augen gebildet und sie sah müde aus. „Wie geht es Ihnen?" Ein Hauch von Überraschung breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
„Das sollte ich wohl eher Sie fragen, Horatio. Also?"
„Besser. Heute ist mein erster Arbeitstag nach ... ", seine Stimme verlor sich. Beide fühlten sich merkwürdig, dabei war es gerade erst einmal eine Woche her, dass sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Titia verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere. Sie war aus einem bestimmten Grund nach Miami zurück gekehrt und sie würde nicht kneifen, so eigenartig wie sich die ganze Sache auch anfühlte. Doch vielleicht, vielleicht konnte sie damit noch ein bisschen warten ...
„Ich war in Las Vegas." Seine Augen, die die ganze Zeit auf dem Grabstein geruht hatten, schnellten nun zu ihr hoch.
„Wollen Sie mich ein Stück begleiten?", fragte er und sie nickte zustimmend. Mit wenigen Schritten hatten sie das Grab von Lynn Matthews hinter sich gelassen, nicht wissend, dass nur einige Meter entfernt davon das sorgsam gepflegte Grab von Samantha Mikhailovich lag.
„Erzählen Sie mir von ihm." Wieder zeigte sich Überraschung auf ihrem Gesicht. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er wirklich etwas darüber hören wollte.
„Es ist schwierig gewesen und anstrengend und noch eine ganze Menge mehr ... er hat mich immer Samantha genannt." Er konnte verstehen, dass sie das verstört hatte. Er hatte Bilder von ihr gesehen und Titia wies unbestreitbar eine Ähnlichkeit mit ihr auf. „Andererseits war das ein Vorteil für mich. Auf der Akademie haben wir gelernt, dass absolut jeder einen Stein hat, mit dem man sein Glashaus einwerfen kann. Ich war Samuels Stein, stellvertretend für Samantha." Inzwischen waren sie auf einer der vielen belebten Straßen Miamis, nur fühlte es sich nicht so an, als wären mit ihnen noch andere Menschen auf dem Bürgersteig unterwegs, zu gefangen waren die beiden in ihren Erinnerung. „Im Laufe der Zeit hat er sich weiß gemacht, dass sie perfekt gewesen war und gewissermaßen hat er die anderen Mädchen dafür bestraft, dass sie diese Perfektheit scheinbar erreicht hatten ... für ihn war das Anmaßung. Sie trieben ein falsches Spiel und gaben vor jemand zu sein, der sie nicht waren." Titia seufzte, es tat gut, sich das ganze von der Seele zu reden. Inzwischen waren sie vor dem beeindruckenden Hauptgebäude der Miami Dade Police angekommen und setzten sich auf eine Bank im Schatten der Palmen.
„Aber warum Sophie?"
„Er dachte, sie würde ihn verstehen, dass sie verwandte Seelen wären ... aber nachdem sie die Explosion in Las Vegas ausgelöst hatte, ist ihm klar geworden, dass sie ihn nur beeindrucken wollte ... dass sie perfekt sein wollte. Somit war sie auch nicht besser als die anderen Mädchen und hatte den Tod verdient." Traurig schaute Titia zu, wie sich der Vekehr die Straße entlang quälte. So viele Leben ... sinnlos ausgelöscht und so viele andere dem nur knapp entgangen.
„Geben Sie sich nicht die Schuld." Horatios Stimme war so ruhig wie immer, keinerlei Schuldzuweisung oder Anklage lag darin. Sie sah freudlos zu ihm herüber.
„Das ist etwas schwer. Schließlich haben Sie ... " Sie hätte ihren Kopf am liebsten gegen irgendeine Wand geschlagen. Sie konnte sich einfach nicht dazu bringen, es auszusprechen. Er legte seinen Hand auf ihren Arm und gab ihr eines seiner seltenen Lächeln.
„Es ist nicht Ihre Schuld." Er betonte jedes einzelne Wort.
„Ich weiß." Sie klang nicht sehr überzeugt. „Es fühlt sich nur nicht unbedingt so an." Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht recht. „Ich glaube, Ihre Schicht hat schon ohne Sie angefangen."
Er schaute auf seine Uhr. „Stimmt", allerdings machte er keine Anstalten aufzustehen und einmal mehr bewunderte sie diesen Mann.
„Na los, gehen Sie schon. Den Weg zum Flughafen werd' ich schon allein' finden."
„Ich weiß, aber ... "
„Es ist schon in Ordnung, außerdem sehe ich Ihnen an, dass Sie Ihre Arbeit vermissen. Also los." Er stand gemeinsam mit ihr auf und legte seinen Kopf schief.
„Auf Wiedersehen", sagte er.
„Ja, auf Wiedersehen." Als Horatio die wenigen Stufen bis zum Eingang des Gebäudes hoch ging und schließlich darin verschwand, hatte Titia das merkwürdige Gefühl, dass alle Lebenden am richtig Platz waren. Samuel saß im Gefängnis und würde nie wieder die Freiheit erlangen, Nick war zu Hause bei seinen Eltern um sich zu erholen, Horatio war wieder zurück im Labor um seiner Berufung nachzugehen und sie würde dorthin gehen, wo auch immer der nächste Fall auf sie wartete. Ja, alle waren dort, wo sie hingehörten.
Als Titia Chambers in ein Taxi einstieg, trübte keine Wolke den strahlend blauen Himmel Miamis.
Der Alptraum war vorüber.
Ende
