Jem
Armentières
20.02.1915
„Vorwärts!", herrschte Hauptmann Johnson seine Kompanie an. Die ca. hundertfünfzig Soldaten antworteten mehr oder weniger einstimmig mit „jawohl, Herr Hauptmann" und legten an Tempo zu.
„Zugführer, zu mir!", kommandierte der Hauptmann weiter und augenblicklich lösten sich vier Gestalten aus der khakifarbenen Menge, unter ihnen auch Leutnant James Blythe.
„Müssen sofort in die Gräben", erklärte Johnson in seiner knappen Art, „keine halbe Stunde Zeit zum ausruhen. Nicht zu ändern."
Die vier Männer nickten, salutierten und verschwanden, nachdem sie durch eine Handbewegung entlassen worden waren, nach hinten zu ihren Zügen.
„Nicht zu ändern", fauchte Jem Blythe verächtlich, allerdings so leise, dass niemand, schon gar nicht der Hauptmann, ihn hören konnte. Soldat sein, hieß bedingungslos zu gehorchen, selbst einer Anweißung, die den Tod bedeuten würde. Das hatte er mittlerweile gelernt.
„Wir müssen sofort in die vordersten Schützengräben. Macht euch darauf gefasst, keine Zeit zum Verschnaufen zu kriegen", wandte Jem sich dann an die ungefähr vierzig Männer, insgesamt ein Zug, die ihm unterstanden.
Murmeln war die einzige Antwort, die er bekam. Er wusste, dass seine Männer beinahe so verunsichert waren, wie er. Sie gehörten zu den ersten Kanadiern, die an die Westfront geschickt worden waren und obwohl sie alle darauf vorbereitet worden waren… nun, sie hatten keinerlei Ahnung, was ihnen bevorstand.
Nur böse Vorahnungen, davon gab es genug. Und seitdem sie auf dem Weg zur Front waren, hatten die sich nur verstärkt. Sie waren mit dem Schiff von Kanada nach England gebracht worden, von da aus über den Kanal nach Frankreich, dann mit dem Zug bis ‚kurz' vor die Front und die letzten hunderte Meilen zur Front bei Armentières legten sie zu Fuß zurück.
Schon seit längerem ahnte Jem, dass er sich in seiner Ansicht über den Krieg gründlich geirrt hatte. Das hier hatte nicht mehr viel mit ‚Heldenmut', ‚Vaterlandstreue', ‚Ehre' und solchen Dingen zu tun.
Nein, Krieg, das waren Tod, Schrecken, Verstümmelung und vor allem Angst. Obwohl er bezweifelte, dass die Angst noch größer werden konnte. Sie umringte ihn, lullte ihn ein.
Überall, wo er hinsah, sah er Angst. Sah sie in den Augen und Gesichtern seiner Männer, in denen der anderen Soldaten, in denen der Zivilisten, auf die sie vereinzelt trafen.
Die Angst lag in der Luft, wie ein schwerer, unerträglicher Duft und vor allem fühlte er sie selbst. Er hatte Angst wie ein kleines Kind, Angst vor dem, was ihn erwartete und doch marschierte er gradewegs darauf zu, näherte sich diesem Albtraum Schritt für Schritt.
Mit stoischer Ruhe, im Gleichschritt mit den anderen. Denn die Angst vor dem Schicksal eines Deserteurs war schlimmer, als die vor dem Schicksal eines Soldaten.
„Jem!", riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken, „hey, einen Penny für deine Gedanken."
Jem drehte sich um und blickte in das Gesicht von Thomas Carr, einem Oberfähnrich und Führer einer der fünf Gruppen, in die Jems Zug unterteilt war. Sie hatten sich in Kingsport bei den Truppenübungen das erste Mal getroffen und waren seitdem gut befreundet.
„Was soll ich mit einem Penny?", wollte Jem wissen und warf einen kurzen Blick vor sich auf den Hauptmann und hinter sich auf seinen Zug. Alles schien friedlich. Ironischerweise, wenn man bedachte, wohin sie unterwegs waren.
„Weiß nicht, vielleicht bringt er dir ja Glück oder so" ungeduldig zuckte Tom die Achseln und drückte Jem einen Penny in die Hand, „also, woran hast du gedacht?"
„An Angst", erwiderte Jem und sah auf das glänzende Kupferstück in seiner Hand.
„Und?", hakte Tom weiter nach. Jetzt war es an Jem, mit den Achseln zu zucken: „Keine Ahnung." Er war kein großer Redner, der Platz ging an Walter, und besonders schlecht war er darin, seine eigenen Gedanken in Worte zu fassen.
„Hast du Angst?", wollte Tom nach ein paar Sekunden Schweigen wissen.
Jem drehte den Kopf, um seinem Freund ins Gesicht zu sehen: „Hast du keine?"
„Okay, dumme Frage", gab Tom zu und schwieg wieder. „Zugführer!", herrschte der Hauptmann von weiter vorne.
„Na der hat's gut", grummelte Tom, als Jem zu seinem Kommandanten aufschloss, „sitzt da und reitet fröhlich vor sich hin, während wir uns die Hacken ablaufen."
Zustimmendes Grummeln aus den Reihen der Soldaten folgte auf seinen Kommentar, aber dabei blieb es auch. Man wusste nie, wer einen bei den Vorgesetzten verpfeifen würde, also schwieg man lieber.
„Wir sind gleich da, dann haben wir eine knappe Viertelstunde und danach geht es in die Gräben. Vorderste Linie", erklärte Jem knapp, als er zurückkehrte und seine Worte lösten unter den Soldaten Unruhe aus.
Nicht nur, dass sie keine Pause hatten und sofort in die vorderste Linie der Schützengräben mussten, nein, es war vielmehr, dass die blutigste und schrecklichste Form des Krieges in greifbare Nähe rückte.
„Wieso Flandern?", murmelte Tom, „wieso ausgerechnet nach Flandern?" „Wohin würdest du denn lieber?", fragte Jem sarkastisch, „vielleicht an die Champagne?"
„Du weißt, was ich meine", erwiderte Tom. Jem hielt es noch nicht einmal für nötig zu nicken. Ihnen allen war die Flandernschlacht von Oktober und November letzten Jahres ein Begriff. Und ebenso wussten sie genau, was sich in diesen Tagen am französischen Fluss Champagne abspielte.
„Die Hölle ist überall gleich, nur an manchen Orten ist sie schlimmer", klingte sich ein weiterer Leutnant in das Gespräch ein, den Jem als Richard ‚Dick' Geoffrey erkannte.
„Und am schlimmsten ist sie dort, wo man selbst ist, nicht wahr?", fügte Tom hinzu.
„Amen dazu", kommentierte Jem trocken.
Die beiden anderen drehten sich um: „Du glaubst an Gott?"
„Noch", antwortete Jem nachdenklich, „aber nicht mehr lange, wie ich befürchte."
„Dasselbe gilt für mich", schloss Dick sich an. Tom nickte nur müde.
Etwa eine Viertelstunde später erreichte die Kompanie die Lager hinter der Front. Während die Soldaten zu dem Platz marschierten, von dem aus sie an die Front gelangen würden, passierten sie englische Soldaten, die bereits länger an der Front waren.
Graue, ausdruckslose Gesichter betrachteten die Neuankömmlinge ohne wirkliches Interesse.
„Ziemlich desillusionierend", murmelte Jem Tom zu und der nickte, wie hypnotisiert von der Umgebung. Alles war grau, ein feiner Nieselregen durchnässte sie bis auf die Haut und das dumpfe Grollen der Artillerie übertönte alles andere.
Die kanadischen Soldaten hatten grade genug Zeit, etwas zu trinken, eine kurze Notiz an die ‚Lieben zu Hause' zu kritzeln oder sich überhaupt einmal hinzusetzten, da war es auch schon Zeit.
„Kompanie, Aufstellung!", kommandierte der Hauptmann. Die Soldaten nahmen Haltung an und sahen ihre Kameraden an. Jedem war klar, dass die Kompanie diesen Schützengraben nicht komplett wieder verlassen würde.
„Leutnant Blythe!", hörte Jem die Stimme seines Hauptmanns, „Ihr Zug deckt den Abschnitt 206."
„Jawohl, Herr Hauptmann", Jem salutierte und bedeutete seinen Männern mit einem Wink, ihm zu folgen. Die Verbindungsgräben waren schmal und rutschig, aber sie waren nichts gegen den richtigen Stellungsgraben.
Jem fröstelte, als er sich umsah. Der Graben war grade breit genug, dass eine Person in ihm gehen konnte. Rechts und links befanden sich kleine Nischen, in denen sich die Soldaten zusammengekauert hatten. Andere hatten sich Planen und Decken umgelegt, um sich gegen den anhaltenden Regen zu schützen.
Man versank bis zu den Fußknöcheln in Schlamm, so aufgeweicht war der Boden, vielleicht vom Regen, vielleicht vom auch Grundwasser, denn der Graben befand sich etwa zweieinhalb Meter in der Erde.
Leitern führten hoch und durch den Stacheldraht und die anderen Barrikaden, konnte man das zerbombte Niemandsland erkennen. Weiter weg, obschon keine zweihundert Meter entfernt nur schwer auszumachen, sah man die feindlichen Stellungen.
„Leutnant Andrews?", wandte Jem sich an einem Mann in Leutnantsuniform, nachdem sie Abschnitt 206 erreicht hatten. Der Mann drehte sich um und nickte.
Er war vollkommen durchnässt, mager und erschreckend blass. Die Augen, in dunklen Höhlen gelegen, blickten ausdruckslos.
„Leutnant Blythe", fuhr Jem fort, „wir werden Sie hier jetzt ablösen."
„Gut. Viel Glück. Relativ ruhig, die letzten Stunden. Nur ein paar kleine Ausfälle hier und da", erwiderte Leutnant Andrews, ein Brite und rief seine Männer zusammen. Minuten später war von dem britischen Zug nichts mehr zu sehen.
Jem verteilte seine Gruppen, wie er es gelernt hatte, ließ einem Zeit zum ausruhen und gab den anderen vier jeweils einen Teilabschnitt zum ‚bewachen'. Nachdem alles geregelt war, begann Jem, zwischen seinen Männern auf und ab zu gehen und ihnen Mut zuzusprechen.
Woher die Worte kamen, war ihm schleierhaft, denn nicht nur, dass er kein guter Redner war, er hatte auch ebensolche Angst wie alle anderen.
Ehrlich gesagt war Jem nur zu gespannt, was Leutnant Andrews mit ‚ruhig' gemeint hatte. Er hatte da so ein Gefühl, dass seine Auffassung von ‚ruhig' im krassen Gegensatz zu der des Briten stand. Und er sollte Recht behalten.
Tatsächlich gewöhnte man sich bald an das Donnern der Artillerie ein paar Kilometer weiter. Es wurde zu einem dumpfen Geräusch, was man nicht mehr wahrnahm und von dem keine Gefahr ausging.
Zumindest solange nicht, bis die Geschütze im Abschnitt 206 oder in den danebengelegenen ihr Schweigen aufgeben würden. Tatsächlich blieb es verhältnismäßig ‚ruhig', bis auf einmal eine Stimme durch die Luft schallte: „Angriff! Die Boche greifen an!" (A/N: ‚Boche' ist ein französisches Schimpfwort für ‚Deutsche')
Und tatsächlich, aus Richtung der feindlichen Schützengräben stürmten feldgraugekleidete Gestalten auf sie zu. „An die Waffen!", kommandierte Jem und seine Männer taten, wie ihnen geheißen.
Jem selbst griff nach seinem Gewehr, steckte das Bajonett drauf und trat näher an einen der Späher heran.
„Wie viele?", fragte er. „Ein Bataillon vielleicht", antwortete der Späher, „scheint nur ein kleiner Ausfall zu sein um uns Willkommen zu heißen."
Jem nickte und wandte sich wieder den Geschehnissen im Niemandsland zu. Die MGs seiner Leute mähten die Deutschen einfach nieder. Einer nach dem anderen fiel getroffen zu Boden, einige tot, einige verletzt. Wer sich auf den Beinen halten konnte, rannte weiter, verschwendete keinen Blick an die gefallenen Kameraden.
In dem Moment wurde Jem blitzartig bewusst, was dieser Krieg wirklich war. Es war ein Gemetzel in dem Menschenleben verpulvert wurden, wie Munition.
‚Materialschlacht', wurden die Kämpfe an der Westfront genannt und zum ersten Mal begriff James, dass mit ‚Material' gar nicht mal so sehr Munition, Geschütze, Gewehre und ähnliches gemeint war.
Nein, dass wirkliche ‚Material' waren die Grausamerweise die Soldaten selbst.
Diese 800 Deutschen, die grade auf breiter Front gegen die kanadischen und britischen Stellungen rannten, folgten blind einem Todesbefehl.
Und jedem war klar, dass ihre Opfer nicht von Nutzen sein würden. Man brauchte weit mehr, als ein Bataillon, um hier durchschlagende Erfolge zu erzielen. Nein, dieser ‚kleine Ausfall' hatte keinen strategischen oder auch nur taktischen Sinn.
Es war einfach nur ein Gemetzel. Nur ein paar weitere gefallene Soldaten.
Während Jem sein eigenes Gewehr anlegte, schoss ihm ein Wort durch den Kopf: ‚Kanonenfutter'. So leicht wurden ein paar tausend Menschenleben verpulvert, einfach ausgelöscht.
Und alles, was von ihnen bleiben würde, war ein kleines weißes Kreuz auf einem Soldatenfriedhof – und vielleicht noch nicht einmal das.
Oft wurden die Gefallenen aus Zeitgründen einfach verscharrt oder auch liegengelassen. Hier dachte jeder zuerst an sein eigenes Leben und tat auch gut daran. Jem schauderte bei dem Gedanken – der Gewissheit –, dass er ebenso enden könnte. Nur ein weiterer Toter.
All diese Gedanken schossen Jem in ein paar Sekunden durch den Kopf. Automatisch legte er das Gewehr an, entsicherte es, zielte, legte den Finger auf den Abzug – und verharrte regungslos.
Eine kleine Bewegung seines Zeigefingers würde den Tod eines anderen Menschen zur Folge haben. Noch nie hatte Jem darüber nachgedacht, dass man Krieg nicht gegen gefühllose Maschinen führte, sondern gegen Menschen.
Gegen Männer, die ihm gar nicht mal so unähnlich waren. Männer, um die Zuhause Mutter, Vater, Geschwister, vielleicht eine Frau, Kinder oder eine Verlobte, bangten. Männer, die ebensolche Angst hatten wie er.
Männer, die ebenso ein Recht darauf hatten, zu leben, wie alle anderen auch.
Mochten es auch Deutsche sein, der ‚Feind', es waren immer noch Menschen und sie trugen an diesem Krieg wahrscheinlich ebenso wenig Schuld wie Jem selbst. Aber das war es. Töten oder getötet werden.
Ganz langsam, wie in Zeitlupe, krümmte Jem den Finger auf dem Abzug, hörte den Knall, sah, wie die Kugel aus dem Lauf schnellte und schließlich einen Deutschen in die Brust traf. Er sackte regungslos zusammen. Tot.
‚Mörder!' Das Wort hallte in Jems Kopf wieder. In seinen Ohren rauschte es. ‚Mörder! Du hast einen Menschen umgebracht. Du bist ein Mörder! Abschaum!'
Mechanisch legte Jem die Waffe erneut an, zielte, schoss, traf. Immer wieder, wie im Rausch. Ein Deutscher nach dem anderen sackte zusammen. Alles geschah in ein paar Sekunden. Er dachte an alles und an nichts, versuchte nur die schreckliche Wahrheit zu verdrängen.
Dass er einen Menschen getötet hatte. Einen anderen Menschen. Er hatte ein Leben ausgelöscht, er, James Matthew Blythe, war zum Mörder geworden.
Es war erschreckend, wie leicht es ging, jemanden zu töten, und wie leicht es ihm fiel, nachdem er einmal drin war. Er nahm nichts mehr wahr, war wie im Wahn. Schoss, tötete weiter.
Minuten später zogen sich die noch lebenden Deutschen wieder zurück. Die Kanadier und Briten stellten das Feuer ein, blieben aber wachsam und stellten die Waffen erst weg, als sich auch die letzten Deutschen wieder in die Gräben zurückgezogen hatten.
Das Niemandsland zwischen den verfeindeten Stellungen war übersäht mit toten und sterbenden Soldaten. Ihr Stöhnen und ihre Schreie drangen in James Ohren, machte ihn wahnsinnig, rasend.
Zudem das Wort, dass er nicht aus dem Kopf kriegen wollte. ‚Mörder. Mörder. Mörder…'
Jem ahnte nicht nur, er wusste, dass er das hier niemals wieder vergessen würde. Dass das Stöhnen der Soldaten ihn ein Leben lang begleiten würde. Dass der Gedanke an die von ihm Ermordeten ihn nie wieder in Ruhe lassen würde.
Er war erst ein paar Stunden an der Front und doch hatte er bereits genug erlebt – genug getan –, dass es ihn für immer und ewig quälen würde. Früher hatte er davon geträumt, in den Krieg zu ziehen, Ruhm und Ehre zu ernten, ja, sogar vor ein paar Monaten noch war er voller Vorfreude gewesen.
Vorfreude auf diesen Albtraum, diesen Schrecken. Und jetzt war er hier, einundzwanzig und schon ein Mörder.
„Vergib mir", murmelte Jem und wusste selbst nicht, an wen er diese Worte richtete, ob an Gott, die Gefallenen, seine Kameraden, seine Familie und Freunde zu Hause oder an sich selbst.
