Ken

Somme
05.08.1916

Die Nacht senkte sich über den Schützengraben an der Somme-Front und obwohl die schweren Geschütze hinter den vorderen Frontlinien nicht schwiegen und es in den nächsten Stunden auch nicht tun würden, empfanden die Soldaten in den Gräben es als ruhig.

An das ewige Donnern der Artillerie gewöhnte man sich, wenn man es 24 Stunden am Tag um die Ohren hatte. Es war leicht, zu vergessen, welch tödliche Wirkung die Geschosse haben konnten.

Die Nachtwachen stellten sich auf ihre Posten, die restlichen Mannschaften versuchten möglichst bequeme Positionen zum Schlafen zu finden. Die Nacht war warm, der Boden noch aufgeheizt von den unbarmherzigen Sonnenstrahlen, welche die Soldaten tagsüber quälten.

Dazu kamen die Fliegenschwärme, angezogen von den verwesenden Leichen im Niemandsland, die aus Zeitgründen nicht alle hatten geborgen werden konnten, und dem Blut, dass überall zu sein schien.

Der Sommer an der Front, da waren sich alle einig, war fast so schlimm, wie der Winter.

Während die anderen Soldaten sich also schlafen legten, zündete Kenneth Ford, seines Zeichens Oberleutnant der kanadischen Armee, eine zu gut drei Vierteln heruntergebrannte Kerze an, und griff nach Papier und Stift.

Er hatte vor, einen Brief an seine Mutter zu schreiben, die dazu neigte, vor Sorge krank zu werden, wenn sie nicht jede Woche zumindest eine kleine Notiz von ihm bekam. Es war nicht so wichtig, was er schrieb, nur, dass er überhaupt schrieb.

Ein Brief von ihm bedeutete, dass er noch lebte und darum ging es hauptsächlich, soviel war Ken klar. Und sie hatte ja irgendwo auch Recht. Es konnte ihn jeden Tag erwischen. Gegen Krieg wurde man nicht resistent, wie gegen eine Krankheit.

Er schüttelte kurz den Kopf, um ihn wieder freizukriegen und schrieb das Datum in die obere, linke Ecke. Dann stutzte er. Der 05. August. Ken grinste.

Oh ja, er erinnerte sich noch zu gut daran, was vor genau 12 Monaten geschehen war, kurz bevor er nach Übersee geschickt worden war. Immer noch grinsend machte er sich zuerst an die Beschriftung des Briefumschlages, aber er adressierte ihn nicht an seine Mutter.

Miss
Bertha Marilla Blythe
Ingleside
Glen St. Mary
Prince Edward Island
Canada

Ein Jahr, auf den Tag genau, war es jetzt her, dass er sie das letzte Mal gesehen hatte. Vielleicht stimmte sogar die Uhrzeit, so sicher war er sich da nicht. Natürlich, er hätte es nachrechnen könnten, die Zeitverschiebungen einbezogen, aber dazu war er längst zu müde.

Die Hochsommertage in den Gräben gingen mehr an die Substanz als irgendetwas anderes, was er je erlebt hatte – aber eigentlich hatte man nach jedem Fronttag das Gefühl, vollkommen ausgelaugt zu sein, psychisch wie physisch, egal ob Sommer, Herbst, Winter oder Frühling. Und, um ehrlich zu sein, man war es auch.

Ken ließ seine Gedanken wandern und kam am 05.08.1915 an, dem Tag, an dem er seinen Abschiedbesuch in Ingleside gemacht hatte. Er hatte ihr Bild von damals noch genau vor Augen. Wie sie mit Jims auf dem Arm auf der Terrasse gesessen hatte, wie sie ihn nach dem Kuss angesehen hatte und wie sie am Gartentor gestanden hatte.

Und doch war sie heute Abend unendlich weit entfernt. Nein, das stimmte so nicht. Nicht sie war es, sondern er. Er war es, der hunderte von Kilometern von zu Hause entfernt war.

Liebe Rilla,
eigentlich wollte ich heute Abend einen Brief an meine Mutter schreiben, aber dann habe ich einen Blick auf das Datum geworfen und meine Meinung geändert. Weißt du, was heute vor einem Jahr gewesen ist? Abgesehen jetzt mal vom Fall von Warschau. Heute vor 12 Monaten habe ich dich das letzte Mal gesehen. Erinnerst du dich? Ich hoffe es.

Ken grinste, als er den vorletzten Satz schrieb. Als ob er die Antwort auf ihre Frage nicht schon längst gekannt hätte. Natürlich erinnerte sie sich. Er hatte ihr immerhin ihren ersten – und einzigen – Kuss gegeben, daran erinnerte sie sich ganz sicher noch. Aber fragen konnte man ja noch mal.

Ken warf einen Blick auf die Uhr und entschied, dass er den Brief später fertig schreiben würde. Erstmal war ein kurzer Kontrollgang angesagt. Er erhob sich und kam langsam mit seinen Gedanken wieder in die Wirklichkeit zurück.

Die Briefe, dir er an Rilla oder seine Schwester Persis schrieb oder von ihnen bekam, waren die seltenen Ausflüchte, die er hatte. Legte er sie weg, wurde er sofort wieder zurück in die grausame Wirklichkeit geholt. Ken seufzte lautlos und machte sich an die Arbeit.

Er ging von Wachposten zu Wachposten, fragte die Vorkommnisse ab, warf hin und wieder selbst einen Blick aufs Niemandsland und die dahinter liegenden feindlichen Stellungen. Als er sicher war, dass mit seiner Kompanie alles in Ordnung war, setzte er sich wieder und schrieb weiter.

Hier ist die Hitze erdrückend. Wo ‚hier' genau liegt, darf ihr dir nicht sagen, aber ich kann dir sagen, dass die Natur ihr kleines Spielchen mit uns treibt. Es ist elendig heiß, überall schwirren Millionen Insekten herum und diese Sommergewitter sind ebenfalls ziemlich hinderlich. Nicht zu vergessen die Deutschen, die auch hin und wieder den Aufstand proben. Du siehst, es gäbe also keinen Ort, an dem ich momentan weniger gern wäre als ‚hier'. Wo ich gerne wäre, fragst du? Ja, ich glaube, dass kannst du dir denken.

In dem Moment, in dem Ken den Stift absetzte, um das gelesen noch einmal durchzulesen, hörte er einen einzigen Schuss, dem Klang nach aus einem einfachen Gewehr. Sofort stand er auf und ging in die Richtung, aus der er den Schuss gehört hatte.

Im Vorbeigehen griff er nach einer Lampe und leuchtete den Weg. Er brauchte nicht lange zu gehen, da entdeckte er auch schon eine Person im Lichtkegel der Lampe. Ein Gefreiter lag mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden und hielt seine linke Hand, aus der Blut quoll.

Ein an sich nicht unbekanntes Bild. Was Ken jedoch ins Auge stach war das Gewehr der Gefreiten, welches neben ihm auf dem Boden lag. Er begegnete dem Blick des Verletzten und dieser räumte jede Zweifel aus dem Weg. Angstvoll, beschämt, schuldig.

„Name?", fragte Ken knapp. „Peter McAllen, Sir", die Stimme des Soldaten war verzerrt und unsicher. Auf einen weiteren, schweigenden Blick von Ken hin nannte er auch noch seine Zugehörigkeit. Ken betrachtete ihn.

„Ihnen wird klar sein, was für ein Bild sich mir hier grade bietet, oder?", fragte Ken den Gefreiten.

„Ja, Herr Oberleutnant", erwiderte der eingeschüchtert. Ken nickte langsam. Es war ein Gefreiter aus seiner eigenen Kompanie, unterstand also seinem direkten Befehl.

„Und Sie wissen, was auf Selbstverstümmelung steht?", fragt er weiter.

Wieder antwortete der Soldat mit einem eingeschüchterten: „Kriegsgericht, Herr Oberleutnant."

„Sehr richtig", bestätigte Ken. Er hörte Schritte, die sich näherten, zwei Paar, und drehte sich um. Zwei weitere Gefreite, ebenfalls aus seiner Kompanie, näherten sich.

„Pete, was…?", begann der eine und erkannte dann seinen Vorgesetzten, „guten Abend, Herr Oberleutnant." Der zweite wiederholte die Worte seines Kameraden und beide salutierten.

Ken nickte knapp in ihre Richtung und forderte den, der als zweites gesprochen hatte auf: „Holen Sie jemanden, der sich um den Gefreiten kümmern kann." „Jawohl, Sir", der Soldat nahm wieder Haltung an und ging.

„Tun Sie das bitte nicht, Herr Oberleutnant", bat der andere Hinzugekommene.

„Was?", fragte Ken. „Ihn zum Kriegsgericht schicken…", die Stimme des Soldaten verlor sich. „Und was sollte ich Ihrer Meinung nach stattdessen tun?", erkundigte Ken sich.

Weder seine Stimme, noch sein Gesichtausdruck gaben irgendeinen Hinweis darauf, was er dachte. Der Verletzte am Boden stöhnte verhalten.

„Naja, niemand hat etwas gemerkt", wagte sein Kumpane es vorsichtig anzumerken, „Sie könnten doch auch einfach…" Wieder verstummte er eingeschüchtert.

„Ich könnt einfach was genau tun?", hakte Ken nach.

„Darüber… nun ja, hinweg sehen?", hoffnungsvoll sah der Gefreite seinen Vorgesetzten an. Dieser warf einen Blick auf den Soldaten am Boden, dann wandte er sich wieder seinem Gegenüber zu.

„Und wie genau stellen Sie sich das vor?", fragte er weiter, „wie Sie wissen, habe ich auch so etwas wie Vorgesetzte." Der Gefreite zuckte zusammen und suchte nach einer Antwort, als Ken noch etwas einfiel: „Wie heißen Sie überhaupt?"

„Jonathan Miller, Herr Oberleutnant", erwiderte der Soldat prompt, froh, endlich etwas beantworten zu können.

In dem Moment kehrte der andere Gefreite zusammen mit einem Sanitäter zurück. Der Sanitäter beugte sich, nach einem Gruß zum Oberleutnant, über den Verletzten und versorgte die Wunde notdürftig.

„Gefreiter…?", Ken sah den grade zurückgekehrten Mann an.

„Walker", er salutierte, „Benjamin Walker, Sir."

„Gefreiter Walker, holen Sie die Sachen des Gefreiten McAllen und sorgen Sie dafür, dass sie zu ihm ins Lazarett gelangen. Gefreiter Miller, Sie können gehen", kommandierte Ken knapp, nickte allen vier zu und verschwand wieder zu seinem Platz.

Er starrte auf den angefangen Brief in seiner Hand. Sämtliche seiner Gedanken wirbelten durcheinander. McAllen wäre vor dem Kriegsgericht nicht mit dem Leben davonkommen, soviel stand fest. Auf Selbstverstümmelung oder auch Desertion stand Exekution.

Hätte er ihn nicht davonkommen lassen sollen? Hätte er ihn melden und verurteilen lassen sollen? Jeder vernünftige Mensch würde mit einem Blick auf die Wunde sofort wissen, was passiert war. Es geschah so oft dieser Tage.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass du bereits gemerkt hast, dass ich alles abschwäche, bevor ich es dir schreibe. Ich möchte dich nicht erschrecken, weißt du. Aber eben grade, bevor ich begonnen habe, diesen Abschnitt zu schreiben, ist etwas passiert. Ich weiß, ich sollte dir nichts darüber schreiben, aber ich glaube, ich drehe durch, wenn ich es nicht tue. Du musst es nicht lesen, wenn du nicht willst, aber ich muss es schreiben. Ist das in Ordnung für dich? Ich hoffe es. Ich hoffe es wirklich.

Ich habe eben einen der Soldaten aus meiner Kompanie gefunden, kurz nachdem er sich selbst in die Hand geschossen hatte. Selbstverstümmelung. Einige Soldaten tun so etwas, weil sie dann in die Lazarette hinter der Front oder evt. auch auf Krankenurlaub nach Hause können. Wird jemandem Selbstverstümmelung nachgewiesen, kommt er vors Kriegsgericht und meistens nicht mit dem Leben davon. Exekution. Zur Strafe und um Exempel zu statuieren. Außer mir hatten es nur zwei andere Gefreite bemerkte. Ich habe ihn davonkommen lassen. Und mich dabei gegen alles gewandt, was man mir beigebracht hat.

Ken hielt inne und seufzte. Er machte sich keine Illusionen. Er hatte mehr als einen Menschen getötet in den Monaten, die er sich jetzt schon an der Front befand und er hatte auch schon gesehen, wie Deserteure und Selbstverstümmeler verurteilt oder hingerichtete wurden, aber er selbst hatte noch nie selbst solch einen Befehl erteilt.

Hätte er ihn gemeldet, so hätte er diesen Mann in den sicheren Tod geschickt. In einen Tod, der vermeidbar gewesen wäre. In einen Tod, den der hätte vermeiden können. Vermieden hatte. Stattdessen hatte er ihn stillschweigend davonkommen lassen. Hatte ihm das Leben gerettet, wenigstens für diesen Moment. Verboten war es trotzdem.

Es war nicht zu erwarten, dass jemand nachfragen oder seine Entscheidung anzweifeln würde. Als Oberleutnant stand er zwar nicht über allem, aber über einigem. Falls allerdings einer seiner Vorgesetzten etwas davon mitbekommen würde, hätte das natürlich unangenehme Folgen für ihn. Er hatte immerhin eine der wichtigsten Regeln gebrochen, die ein Offizier kannte. Sie würden ihn bestrafen, so viel war sicher.

Natürlich nicht mit dem Tod, aber unangenehm trotz allem. Und der Gefreite würde ohne großes Aufhebens exekutiert werden. Anderseits war die Chance, dass die Geschichte an irgendwelche anderen gelangen würde, sehr gering. Ken seufzte noch einmal und fuhr fort zu schreiben.

Ich habe schon so oft getötet, seit ich hier bin, dass ich aufgehört habe, zu zählen, aber vor so ein Problem wurde ich noch nie gestellt. Wahrscheinlich habe ich gerade sein Leben verschont, auch wenn die Wunde ausheilen und er zurückkommen und dann vielleicht doch noch sterben wird. Aber im Moment lebt er. Für diesen einen Moment habe ich sein Leben in der Hand gehalten. Seine ganze Zukunft. Es erleichtert mich, dass er leben wird, aber etwas daran ärgert mich auch. Viele sind hier kurz davor, sich in die Hand oder den Fuß zu schießen, nur um diesem Krieg zu entgehen. Ich bilde da keine Ausnahme. Wieso sollte ausgerechnet er ungeschoren damit wegkommen?

Ich weiß, ich sollte so nicht reden. Ich weiß, dass es unverzeihbar gewesen wäre, wenn ich ihn gemeldet hätte. Es mag zwar nur wie ein Leben unter vielen erscheinen, vor allem, weil ich ihn nicht mit eigenen Händen getötet hätte, aber ich hätte den Befehl dazu gegeben, was viel schlimmer gewesen wäre. Ich hätte einen Tod bewilligt, den ich allein hätte verhindern können. Wenn sie es rauskriegen – sie, die höheren Offiziere, meine Vorgesetzten –, dann bin ich mit dran, aber das ist unwahrscheinlich und selbst wenn, dann wird es nicht schlimm sein. Nicht schlimm genug, um das zu rechtfertigen. Und trotzdem, für einen Moment stand ich dort und wollte ihn melden. Aus reiner Eifersucht, schätze ich.

Ich hoffe wirklich, du denkst jetzt nicht allzu schlecht von mir, Rilla. Es würde mir wehtun, aber ich schätze, ich hätte es verdient. Wobei es wohl am merkwürdigsten ist, wie oft ich in diesem Brief das Wort ‚ich' verwendet habe. Denn der Einzelne zählt in diesem Krieg nicht. Für die Generäle zählt nur Kampfkraft und im Alltag… ohne seine Kameraden ist man dem Tod geweiht. Deshalb habe ich es nicht gemacht, glaube ich. Deshalb habe ich das Leben dieses Mannes verschont. Weil man ohne den Zusammenhalt hier sterben würde. Ohne die Kameraden kann man in dieser Hölle nicht überleben. Und ich will leben, glaub mir das, Rilla. Glaub es mir ruhig. Ich werde alles tun, wenn es darum geht. Ich will nicht sterben…

Ken las den Brief noch einmal durch und sah dann nachdenklich in die Kerzenflamme. Sie erinnerte ihn an den Krieg. Nur ein kleines Flämmchen, aber dennoch in der Lage, die Welt in Brand zu setzten.

Genau wie dieser Virus, der die ganze Welt eingenommen zu haben schien wie ein Großbrand. Ausgelöst von einem kleinen Flämmchen, vielleicht noch nicht einmal absichtlich, aber mittlerweile zu einer Feuerwand geworden, die praktisch unmöglich zu löschen war.

Er wusste nicht genau, wie es für seine Eltern, seine Schwester, seine Freunde zu Hause war, aber er wusste doch, dass sie, obwohl sie grade psychisch viel durchmachten, im Gegensatz zu den Soldaten ein paradiesisches Leben führten.

Und diese beiden Leben sollten nach Möglichkeit nicht vermischt werden. Es würde zu viele Schwierigkeiten, zu viel Leid mit sich bringen.

Ken nahm den Brief in die Hand, hielt ihn an die Flamme und sah, wie das Papier sich krümmte und zu Asche zerfiel. Es war besser so. Und abgesehen davon: Der Brief wäre nie im Leben durch die Zensur gegangen.

So war es nun mal: Als Soldat hatte man sich selbst aufzugeben, Leben, Seele und Träume. Und das für immer.