Kapitel 4 – Der Geist der gegenwärtigen Weihnacht
„Mein Lord", sagte Wurmschwanz, der soeben das Zimmer betreten hatte und beugte sich zu einer tiefen Verbeugung hinunter.
Voldemort starrte weiter vor sich hin und achtete nicht auf seinen Diener.
„Mein Lord, darf ich nun berichten?", fragte Wurmschwanz vorsichtig.
„Verschwinde", zischte Voldemort.
Wie von der Tarantel gestochen rannte Wurmschwanz wieder zur Tür und schloss sie geräuschvoll hinter sich. In dieser Verfassung durfte man ihm keine Widerworte geben, darüber war er sich seit langem im Klaren.
Als dieser Geist aufgetaucht war, war Voldemort entschlossen gewesen sich in keinster Weise von ihm aus der Ruhe bringen zu lassen, doch stattdessen war er nun sogar noch aufgewühlter, als nach der Erscheinung des ersten Geistes.
Was sollte das alles bloß?
Was er dort gesehen hatte, war seine Vergangenheit.
„Nein, mehr als meine Vergangenheit", flüsterte Voldemort düster vor sich hin.
Es war sein vergangenes Ich. Der Junge, der dort so verloren auf dem Bett gesessen hatte, war Tom Riddle gewesen, doch er war nicht mehr Tom.
Er war Lord Voldemort, der Schrecken der Zaubererwelt.
Doch warum berührte ihn dies alles so?
„Wir haben Weihnachten, Nagini", sagte er leise lachend.
Jahrelang hatte er nicht einmal nebenbei mitbekommen, wenn Weihnachten war.
Was kümmerte es ihn schon? Dieses vermaledeite Fest war etwas für Schwächlinge.
Ihn, den dunklen Lord, interessierte so etwas nicht.
Und schon gar nicht interessierte ihn ein kleiner trauriger Junge; selbst wenn er einst dieser Junge gewesen war.
Was wollte ihm dieser Potter-Geist damit beweisen?
Voldemort brauchte nicht viel Schlaf, doch selbst ihm ging es nach einer vollends schlaflosen Nacht nicht gut.
Die Geschehnisse hatten ihn nicht losgelassen.
Das Schlimmste jedoch war gewesen, dass er wusste was ihm heute bevorstand.
Grindelwalds Geist hatte angekündigt, dass drei weitere folgen würden. Es standen also noch zwei Besuche aus.
Was würden diese beiden Geister von ihm wollen?
Lange brauchte er nicht darüber nachdenken, denn schon früh am Morgen tauchte der nächste Geist auf.
„Hallo Tom", begrüßte ihn der Geist und obwohl Voldemort gespannt auf die Ankunft dieses dritten Geists gewartet hatte, zuckte er wieder erschrocken zusammen.
„Ich kenne dich", sagte er nachdenklich, als er den Geist vor sich entdeckt hatte.
„Das ehrt mich", entgegnete der Geist, klang dabei jedoch äußerst sarkastisch.
„Du bist dieser Junge, der mit Potter auf dem Friedhof war", stellte Voldemort fest.
„Cedric ist mein Name", ergänzte der Geist.
„Was willst du?", fragte Voldemort ausdruckslos klingend.
„Das wirst du gleich erfahren", antwortete der Geist Cedric Diggorys und schon musste Voldemort erneut eine seltsame Reise antreten.
„Hogwarts?", fragte er den Geist, als sie angekommen waren.
„Gut erkannt", antwortete Cedric.
„Es ist keine gute Idee mich nach Hogwarts zu bringen", entgegnete Voldemort lächelnd.
„Keiner kann uns sehen und du kannst nichts anstellen, da du nicht wirklich hier bist", erwiderte Cedric unbeeindruckt.
„In welcher Zeit sind wir?", fragte Voldemort.
„Ich bin der Geist der gegenwärtigen Weihnacht, Tom", antwortete Cedric.
„In der Gegenwart also", sagte Voldemort nachdenklich.
„Schlaues Kerlchen", erwiderte Cedric, wieder in einem immens sarkastischen Tonfall, den andere nicht gewagt hätten gegenüber Voldemort anzuschlagen.
„Geh hinauf", sagte Cedric und deutete auf eine Wendeltreppe.
Voldemort schaue sich noch einen Moment in dem Raum, indem sie sich befanden um, tat dann jedoch wie ihm geheißen.
„Wir sind im Gryffindor-Turm, nicht wahr?", fragte er, als sie am Ende der Treppe angekommen waren.
„Das sind wir", antwortete Cedric. „Da hinein".
Voldemort wollte nach dem Griff der Tür greifen, auf die der Geist gedeutet hatte, doch Cedric schüttelte den Kopf und glitt einfach hindurch.
Voldemort tat es ihm nach und stellte fest, dass er tatsächlich ebenfalls einfach durch die Tür hindurchgehen konnte.
„Potter", zischte Voldemort, als er auf der anderen Seite angekommen war.
Er war geradewegs in den Schlafsaal des Potter-Jungens gelangt.
Eben dieser Harry Potter saß im Schneidersatz am Fußende seines Bettes und starrte hinunter auf einige Pakete, die vor seinem Bett lagen.
Im Nebenbett war ein rothaariger Junge eifrig dabei seine eigenen Geschenke auszupacken.
Die drei weiteren Jungen, dessen Schlafsaal dies war, schliefen offenbar noch tief und fest, was durch das gleichmäßige Atmen nicht zu verkennen war.
„Pack schon aus, Harry", sagte der rothaarige Junge begeistert.
Doch Harry saß weiterhin starr auf seinem Bett und machte keine Bewegung.
Voldemort wollte den Gedanken nicht zulassen, doch der Junge hatte eine unbestreitbare Ähnlichkeit mit dem Jungen, den er am gestrigen Tag gesehen hatte. Mit dem Jungen, der er selbst gewesen war.
Im Aussehen unterschieden sie sich sehr, doch der Gesichtausdruck war unverkennbar gleich.
„Was hat er nur?", fragte Voldemort, ohne zu merken, dass er dies laut ausgesprochen hatte.
„Weißt du das denn nicht?", entgegnete Cedric.
„Nein", antwortete Voldemort leise.
„Du hast ihm so viel genommen, Tom", sagte Cedric traurig.
Voldemort konnte nicht antworten.
„Sie mal nach, ob du wieder einen Pulli von Mum hast", sagte der rothaarige Junge, ganz offensichtlich im Bestreben seinen Freund aufzumuntern.
Endlich regte sich Harry und griff nach einem der Pakete vor seinem Bett.
Voldemort beobachtete wie er emotionslos das Paket öffnete, aus dem wie von dem anderen Jungen hervorgesagt ein Pullover zum Vorschein kam.
Ein kleines Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht Harrys, doch es verschwand so schnell wie es gekommen war wieder.
„Er freut sich", sagte Cedric.
„Das tut er nicht", erwiderte Voldemort mit düsterer Stimme.
Was war nur los?
Mitleid mit Harry Potter, wie konnte er Mitleid mit diesem Jungen empfinden?
Er war sein Feind, neben Dumbledore sein größter Feind und doch hatte er ihm leid getan, als er ihn dort so traurig sitzen sehen hatte.
„Er ist nur ein kleiner Taugenichts", sagte er sich laut, doch dieser Satz half nicht.
Voldemort war nie in seinem Leben so verwirrt gewesen, wie in diesem Moment.
Er hasste Harry Potter; er hasste ihn mehr als er es hätte ausdrücken können und doch hatte er Mitleid mit ihm.
