Kapitel 1

Harry erwachte zu einem ungeduldigen Klopfen gegen seine Fensterscheibe. Es war seine treue Schneeeule Hedwig. Der junge Zauberer rollte sich aus seinem Bett und tapste verschlafen Richtung Fenster. Die frische Morgenluft schlug ihm ins Gesicht und weckte ihn vollkommen. Hedwig machte es sich inzwischen auf seinem Schreibtisch bequem und streckte ihm ihr Bein entgegen.

Der Umschlag, der an ihr Bein gebunden war, erkannte Harry sofort an der fein säuberlichen Schrift, stammte von Albus Dumbledore. Dumbledore war der Schulleiter von Hogwarts, der Schule für Hexerei und Zauberei, in der Harry Anfang September sein sechstes Schuljahr beginnen würde.

Hin und hergerissen zwischen Neugierde und Wut auf den Schulleiter, die ihn dazu führte den Brief am liebsten in Flammen aufgehen zu lassen, öffnete er den Umschlaf mit leicht zitternden Händen.

Der Ärger auf Dumbledore war längst nicht versiegt. Auch wenn Harry sich die Schuld an Sirius Tod gab, so war es der alte Zauberer, der Harry letztes Schuljahr im Dunklen gelassen hatte. In den Stunden, in denen Harry nicht vollkommen in Schuldgefühlen versank und klar denken konnte, gab er auch Dumbledore ein wenig der Schuld. Schließlich war er es, der Harry nicht in die Augen sehen konnte und wichtige Dinge, wie die Prophezeiung von ihm verschwiegen hatte.

Ja, vielleicht wäre es alles anders ausgegangen, hätte der Schulleiter Harry aufgeklärt. Aber es war zu spät, um das Geschehene rückgängig zu machen. Harry musste nun mit den Konsequenzen leben. Und das bedeutete Sirius Tod zu akzeptieren und alles in seiner Macht stehende zu tun, um Voldemort zu besiegen.

Dies hatte Harry in einer einsamen Nacht in Ligusterweg eingesehen. Er wollte nicht, dass der Tod seiner Eltern oder der von Cedric und Sirius oder der vieler Menschen, die ihr Leben in einem Kampf gegen Voldemorts Anhänger verloren, umsonst gewesen ist. Wenn er derjenige sein sollte der Voldemort besiege, so würde er alles in seiner Macht stehende tun und wenn es sein müsste auch sein Leben in dem entscheidenden Kampf lassen. So könnte er doch wenigstens seine Eltern und Sirius wieder sehen.

Hedwig machte mit einem leisen Huten auf sich aufmerksam, was den jungen Zauberer wieder in die Gegenwart tauchen ließ. Noch halb in Gedanken reichte er seiner geliebten Eule ein paar Kekse und widmete sich dann wieder dem Brief in seiner Hand.

Lieber Harry,

Da die letzten Ereignisse nicht leicht für dich waren, wäre es vielleicht das Beste, wenn du den Rest der Ferien nicht bei den Dursleys verbringst. Deshalb habe ich Vorbereitungen getroffen, dass du die restlichen Wochen bei den Weasleys residieren kannst. Remus wird dich heute um 17Uhr abholen.

Falls du dich fragen solltest, warum ich dir dies nicht schon früher angeboten habe, habe ich nicht viel zu meiner Verteidigung vorzubringen. Vielleicht war es wieder ein Versuch dich zu Beschützen. Ich dachte es wäre das Beste für dich erst einmal bei den Dursleys zu bleiben und mit dir selbst ins reine zukommen über Sirius Tod und die Prophezeiung. Es tut mir leid, dir schon wieder die Entscheidung abgenommen zu haben.

Ich hoffe du kannst einem alten Mann noch einmal für seine Fehler verzeihen. Wir alle begehen hier und da den einen oder anderen Fehler und selbst das Alter und die damit verbundene Weisheit kann uns nicht immer davor bewahren.

Ich wünsche dir noch weiterhin angenehme Ferien.

Ich sehe dich am 2. September in Hogwarts.

Albus Dumbledore

Nachdenklich ließ sich Harry auf sein Bett sinken. Der alte Zauberer hatte Recht, wieder einmal hat er eine Entscheidung bezüglich Harrys Leben selbst getroffen. Auch wenn die Wut überwiegte, so war er doch froh, dass Dumbledore die richtige Entscheidung getroffen hatte. Er hatte diese letzten Wochen wirklich für sich alleine gebraucht. Auch waren die Dursleys netter als sonst zu ihm, was wohl mit der Drohung der Mitglieder des Orden am Bahnhof zu tun hatte. Die Schlösser an seiner Tür hatten sie entfernt, so war er frei, sein Zimmer zu verlassen, wann er wollte. Auch wenn er davon nicht oft gebrach machte, denn die meiste Zeit des Tages verbrachte er in seinem Zimmer.

Der schwarzhaarige Zauberer las sich den letzten Absatz des Briefes ein weiteres Mal durch. Er merkte, dass es dem Schulleiter wirklich leid tat und er seine früheren Handlungen bereute. Dumbledore war für Harry bis zum letzten Schuljahr immer eine Art Großvaterersatz gewesen. Doch dieses Bild geriet ins wanken. Konnte er Dumbledore verzeihen?

Eines war klar, er brauchte Dumbledors Hilfe auf jeden Fall, um sich auf den letzten entscheidenden Kampf vorzubereiten. Harry hatte sich viel vorgenommen. Er wollte Voldemort besiegen und er wollte nicht mehr so voreilig sein wie im letzten Jahr und wegen seinen Dummheiten auch noch seine Freunde in Gefahr bringen. Nein, das würde sich ändern. Und der erste Schritt, wusste Harry, war es, dem Schulleiter zu verzeihen.

Als Harry am frühen Vormittag sein Zimmer verließ, saßen die Dursleys schon am Frühstückstisch und beachteten ihren Neffen nicht. Harry setzte sich ohne etwas zu sagen mit einer Scheibe Toast an den Tisch.

„Ich werde heute gegen 17 Uhr abgeholt. Ich werde also den Rest der Ferien nicht hier verbringen.", eröffnete der grünäugige Teenager die Unterhaltung.

„Wie werden sie dich abholen?", während Onkel Vernon diese Frage stellte las er uninteressiert weiter in der Zeitung.

„Hm, das haben sie nicht gesagt."

Onkel Vernon legte nun die Zeitung beiseite und sah seinen Neffen an. „Ich hoffe diese... diese Leute werden nicht schon wieder unsere Wohnung demolieren so wie sie es das letzte Mal getan haben."

„Es war nur der Kamin! Und außerdem hat Mr. Weasley alles wieder repariert.", verteidigte Harry seine Freunde.

„Ja, nachdem sie meinen Sohn verhext hatten!" Mr. Dursley meinte damit das Toffee, das Fred und George Weasley damals rein zufällig auf dem Bode fallen gelassen hatten, damit Dudley es aß, was er auch getan hatte. Seine Zunge ist daraufhin um Meter angeschwollen.

Mit einem Grinsen erinnerte sich Harry wieder all zu gut an diese Szene, doch er verkniff sich einen weiteren Kommentar und stahl sich hinauf in sein Zimmer.

Harry verbrachte den Rest des Tages in seinem Raum. Er packte seine Sachen, so dass er um kurz vor 17Uhr mit seinem Koffer und Hedwigs Käfig im Wohnzimmer saß und ungeduldig auf die Ankunft von Remus wartete. Die Dursleys hatten um halb fünf verkündet außerhalb zu essen und waren seit dem verschwunden. Harry wusste, dass dies nur ein Vorwand war, um eine weitere Begegnung mit ‚diesen Freaks' zu umgehen.

Punkt 17Uhr läutete es an der Haustür. Überrascht, dass Remus auf Muggelweise kam, öffnete Harry die Tür. Und tatsächlich, der grauhaarige Zauberer stand in Muggelklamotten, einer ausgewaschenen Jeans und einem längeren schwarzen Mantel, vor der Tür und schenkte dem schwarzhaarigen Jungen ein aufmunterndes Lächeln.

„Hallo Harry. Wie geht es dir?"

„Professor Lupin! Kommen Sie doch herein." Das Lächeln des älteren Zauberers wurde nur noch breiter, als er ins Haus trat.

„Harry, ich bin schon lange nicht mehr dein Professor. Nenne mich doch Remus oder Moony.", bot er mit einem Zwinkern an.

„Okay, Remus." Harry schloss die Tür hinter dem anderen Zauberer und deutete auf sein Gepäck, „wir können sofort los. Ich habe schon alles gepackt."

„Langsam, bevor wir aufbrechen, erst einmal, wie geht es dir?" Der Werwolf ließ sich auf einen Küchenstuhl nieder und deutete Harry sich ihm gegenüber zusetzten.

„Gut.", war die knappe Antwort des Gryffindors.

„Wie geht es dir wirklich, Harry?" Remus blickte Harry, der die Tischplatte anschaute, aus seinen blauen Augen wissend und verständnisvoll an.

„Die erste Zeit war schrecklich, aber mittlerweile... Ich habe viel nachgedacht und ich weiß, dass man nichts mehr ändern kann... Aber ich vermiss ihn schrecklich."

Remus griff mit einer Hand nach den Händen des jüngeren Zauberers, die nervös miteinander spielten, und drückte sie leicht. „Auch ich habe mit Sirius einen guten Freund verloren. Ich hoffe, du weißt, dass du immer zu mir kommen kannst, wenn dich etwas bedrückt. Ich will nicht seinen Platz einnehmen... keiner will das. Aber ich möchte für dich da sein."

In den grünen Augen blitzten Tränen auf, als er in das Gesicht seines Vaters Freundes blickte. „Danke Moony. Das bedeutet mir wirklich viel."

Der ältere Zauberer erhob sich mit einem Lächeln. „Na dann, lass uns aufbrechen." Er holte seinen Zauberstab aus einer seiner vielen Jackentaschen hervor und murmelte einen Zauberspruch, der Harrys Gepäck auf Miniaturgröße schrumpfen ließ und steckte sich Koffer und Käfig in die Tasche.

„Wohin gehen wir? Ich meine wohnen die Weasleys noch im Hauptquartier?" Der ernste Blick von Remus beantwortete seine Frage.

„Ich weiß nicht, ob ich dazu bereit bin... Ich meine, es war sein Haus und nun ist er tot und..."

„Harry," unterbrach Remus das Gestotter des jüngeren Zauberers, „Du kannst nicht ewig vor den unschöneren Erinnerungen davon laufen. Alle deine sind Freunde dort. Sirius hätte nicht gewollt, dass du dich wegen ihm isolierst."

Widerstrebend willigte Harry schließlich ein. Remus schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln und zog einen Schokoriegel aus einer Jackentasche hervor. Auf den verwunderten Ausdruck auf Harrys Gesicht hin erklärte Remus mit einem Schulterzucken. „Ein Portkey. Albus und seine Vernarrtheit in Muggelsüssigkeiten."

Harry legte einen Finger auf den Riegel, während Remus das Passwort zur Aktivierung des Portkeys murmelte. Harry spürte das gewöhnte Ziehen in seinem Bauch, als sich die Wohnung der Dursleys in einen Wirbel aus Farben verwandelte und schon fand er sich in der Küche von Grimmauldplatz 12 wieder.