Das Versprechen
Die Ideen von Albus Dumbledore im Hinblick auf die Besetzung der offenen Stellen in Hogwarts waren aus Sicht der anderen Lehrer manchmal schwer verständlich. Jetzt fragte sich der eine oder andere, ob Dumbledore nicht einfach den Verstand verloren hatte.
Es gab zwei freie Stellen im neuen Schuljahr zu besetzen. Verteidigung gegen die Dunklen Künste sollte in diesem Jahr wieder von Remus Lupin übernommen werden. Das artete zwar zu einer regelrechten Eulenschlacht mit dem Zaubereiministerium aus, aber letzten Endes hatte Dumbledore sich durchgesetzt. An dieser Entscheidung hatte auch vom Lehrerkollegium niemand etwas auszusetzen. Lupin war beliebt und zweifelsfrei für dieses Fach bestens qualifiziert.
Für Muggelkunde jedoch hatte Dumbledore dieses Jahr einen Muggel verpflichtet. Der Glaubhaftigkeit wegen. Sagte Dumbledore. Keiner kann Muggelkunde besser unterrichten als ein Muggel selbst. Auch das sagte Dumbledore.
Aber wie sollte ein Muggel in der magischen Welt zurechtkommen? Wie sollte er nach Hogwarts kommen, das von Muggeln nicht erreicht werden kann? Wofür eigentlich der ganze Aufwand, wo es doch genügend Magier und Hexen gab, die unauffällig in der Muggelwelt lebten und diese Stelle genauso gut besetzen konnten?
Darüber sagte Albus Dumbledore nichts. Auf diese Fragen lächelte er nur hintergründig oder er überhörte sie einfach. Er hatte jedoch einen wichtigen Grund für seine Entscheidung, denn er musste ein Versprechen einlösen.
***
Der Abend mit Robert und Ellen war schon lange geplant. Sie hatten ein kleines Häuschen am Stadtrand in einem viktorianischen Viertel gekauft. Alles Geld in den letzten Jahren hatten sie in die Renovierung des alten Hauses investiert. Jede freie Minute hatten sie gebaut, gehämmert, gebohrt, gesägt, gestrichen und was sonst noch nötig war. Es hatte sich gelohnt. Das Haus war mit Abstand das Schönste in der Straße mit seinem vielen kleinen Fenstern, dem verspielten Vorgarten und seiner Bepflanzung mit den verschiedensten Kletterpflanzen, die das ganze Jahr über abwechselnd blühten.
Und jetzt wollten sie mit Cassy zusammen den vorerst letzten Hammerschlag feiern. Robert hatte Rotwein satt gekauft, Grillwürstchen und Weißbrot. Cassy wollte Salat mitbringen. Außerdem einen Schlafsack, denn die Grillabende bei ihren beiden besten Freunden arteten meist in einem Gelage aus, nach dem man sich nicht einmal mehr traute, einem Taxifahrer die eigene Person zur Heimfahrt zuzumuten. Daher übernachtete Cassy immer bei ihnen und am nächsten Morgen spendeten sie sich gegenseitig Trost mit Aspirintabletten und dem geflüsterten, sinnlosen Versprechen, dass das diesmal wirklich das allerletzte Mal gewesen war.
Cassy freute sich auf die Feier. Mit Ellen hatte sie Abende vor dem Fernseher verbracht, wo sie sich gemeinsam einen Schmachtfetzen nach dem anderen reingezogen hatten. Robert überlegte dabei regelmäßig, ob er Rettungsinseln oder Schwimmwesten im Wohnzimmer anbringen sollte oder den Estrich noch einmal mit wasserdichter Farbe nachstreichen, weil sich die beiden Frauen im Wohnzimmer jedes Mal in den Armen lagen und um die Wette heulten. Mit Robert hatte sie immer Bücher ausgetauscht. Er stand genauso auf Fantasy, Science Ficition und gute Spionageromane wie sie. So kam es, dass es wohl zum Beispiel keinen einzigen Perry Rhodan-Band auf der Welt gab, den beide nicht kannten.
Sie saßen in der Abendsonne im Garten zusammen und scherzten und lachten. Es waren noch ein paar Nachbarn gekommen und hatten Steaks und weitere Salate mitgebracht. Alle beglückwünschten Robert zu seiner gelungenen Renovierung. Er musste mehrere Male mit den Gästen durch das gesamte Haus gehen, was er gerne und stolz tat. Einige ließen auch keinen Zweifel daran, dass sie es nicht vermissen würden, wenn Samstags mal keine Bohrmaschine lief oder es nicht hämmerte oder wenn der Hausherr nicht mit Trommelfell zerfetzendem Geschrei wegen einem blutigen Fuß, einer blutigen Hand oder einem Loch im Kopf über das Grundstück hüpfte und die halbe Gegend dabei aufmischte. Dennoch sagte man das Robert mit ironisch-freundlichen Lächeln, denn im Grunde genommen hatten sich die Nachbarn in all den Jahren längst an den Krach gewöhnt und hatten ein sehr gutes Verhältnis untereinander. Und seine fast regelmäßigen Verletzungen brachten auch ein bisschen Leben in ihr ruhiges Viertel. Sie waren das einzig' Aufregende, was es außer den Fernsehmeldungen und Fußball im kleinen Pub an der Ecke zu diskutieren gab.
"Baker hat sich mal wieder einen Daumen abgeschnitten." "War der andere denn schon wieder angewachsen?" So oder ähnlich waren in all den Jahren die Gespräche im Pub gelaufen. Jetzt war erst einmal Schluss damit.
Als die Nachbarn nach und nach gegangen waren, und die Luft abkühlte, gingen Ellen, Robert und Cassy ins Haus und setzten sich ins Wohnzimmer. Draußen aufräumen würden sie morgen. Robert ging in den Keller und rief nach oben: "Ellen! Cassy! Ich habe noch drei Flaschen Edelrood. Die habe ich extra aufgehoben für einen Anlass wie heute. Wollen wir die jetzt vernichten?" Allerdings stand er bereits mit einer Flasche im Arm schon wieder im Wohnzimmer und grinste breit und glücklich.
Sie wärmten alte Zeiten auf und schwelgten in Erinnerungen über ihren gemeinsamen Südafrika-Urlaub, was zwangsläufig bei einem gewissen Quantum Alkohol immer kam. Robert sagte Cassy, dass sie einen Winterurlaub geplant hatten. Der erste Urlaub seit mehr als sechs Jahren und Cassy wollte genau wissen, wo es hin ging. Als die Flasche leer war, bot sie an, in den Keller zu gehen und Nachschub zu holen.
Im Keller hing nur eine dämmrige Funzel. Vielleicht musste Robert sich doch noch einmal handwerklich betätigen und hier eine hellere Birne einschrauben. Eine Kerze war ein richtiges Flutlicht gegen diese dämmrige, im Sterben liegende Lampe, dachte Cassy, als sie versuchte, sich in dem ganzen Gerümpel, das auf dem Boden verstreut lag, nicht den Hals zu brechen.
Dann hörte sie das Splittern von Holz aus dem Erdgeschoss. Sie wollte gerade die Treppe hoch rennen, als mehrere Stimmen durcheinander redeten. Etwas in diesen Geräuschen hielt Cassy davon ab, jetzt unüberlegt zu handeln. Sie spürte Aggression und Gefahr.
Eine Eigenart des alten Hauses war, dass man vom Wohnzimmer aus direkt in den Keller gehen konnte. Der Treppenabgang war mit einer bis zur Zimmerdecke gehenden Holzkonstruktion, die wie ein Spalier aussah abgesichert. Hier hatte Ellen schon im ersten Jahr Kletterpflanzen in verschnörkelte, tönerne Blumenkübel gesetzt, die das Spalier mittlerweile komplett zugewachsen hatten und den Kellerabgang weitgehendst kaschierten.
Man konnte durch die Pflanzenäste hindurchschauen, ohne gesehen zu werden. Cassy hatte sich vorsichtig die Treppe hinaufgeschoben, suchte jetzt eine solche Lücke in den Pflanzen und fand sie auch. Es bot sich ihr eine gespenstige Szene.
Mindestens zwölf Personen mit schwarzen langen Umhängen und Kapuzen hatten sich im Halbkreis um ihre beiden Freunde aufgestellt. Die beiden klammerten sich ängstlich auf der Couch aneinander und schauten sie stumm an. Die Fremden waren nicht zu erkennen. Sie hatten die Kapuzen tief in ihre Gesichter gezogen.
"Was ... was wollen Sie?" hörte sie Roberts panische Stimme.
"Nun, Mr. Fletcher, der Meister mag es gar nicht, wenn man ihn hintergeht", antwortete eine zynische Stimme.
"Mein Name ist Baker. Die Fletchers wohnen nebenan." Unruhe kam in die Reihe der Maskierten.
"Na, Letrange. Deine Recherchen sind ja unglaublich präzise", sagte der größte der Kapuzenmänner sarkastisch. "Dann lasst uns den Amnesiezauber aussprechen und verschwinden."
"Oh, nein, Nummer 2. Der Lord würde nicht damit zufrieden sein, wenn wir sie leben lassen. Auf zwei mehr oder weniger kommt es doch sowieso nicht an."
"Bitte, verschonen Sie uns", hörte Cassy Robert betteln. "Wir werden niemandem erzählen, dass Sie hier waren."
Dann hörte Cassy einen der Kapuzenmänner etwas murmeln und es blitzte. Robert sackte mit offenen Augen und einem erstaunten Ausdruck auf dem Gesicht zusammen. Ellen warf sich über ihn und fing an zu schreien. Sie wusste, dass er tot war.
"Natürlich wirst du niemandem erzählen, dass wir hier waren", sagte die Stimme, die den Blitz abgefeuert hatte. Die anderen Kapuzenmänner lachten gehässig.
"Lucius", zischte die Nummer 2, der wohl der Anführer war. "Was sollte das. Du wirst dem Lord erklären müssen, warum du meinen Befehlen nicht gehorchst."
"Und du wirst ihm erklären müssen, warum du einen dreckigen Muggel verschonen willst", zischte der mit Lucius Angesprochene zurück.
"Und jetzt zu dir", herrschte Lucius Ellen an. Ellen drückte sich von der Couch in Richtung Wand zur Kellertreppe. Unwillkürlich änderte Cassy ihren Standort und kam die Treppe ein wenig höher. Vielleicht konnte sie Ellen doch noch helfen.
Die Kapuzenmänner folgten ihr. Ellen konnte Cassy sehen, schaute aber sofort wieder geradeaus, um die Kapuzenmänner nicht auf sie aufmerksam zu machen. Ellen wusste, dass sie nicht überleben würde. Es gab keinen gemeinsamen Winterurlaub mehr mit Robert und die Renovierung des Hauses würde sie auch nicht mehr genießen können. Sie würde sterben. Aber Cassy konnte leben.
Der Kapuzenmann mit Namen Nummer 2 kam jetzt fast neben Cassy auf der anderen Seite des Spaliers zum Stehen und blickte auf Ellen, die sich an die Wand gedrängt hatte und deren Blick gehetzt vom einen zum anderen ging. Cassy konnte sein Gesicht sehen durch das Pflanzenspalier.
"Wollen wir noch ein wenig Spaß haben?" fragte Lucius Ellen in diesem Moment mit einem gemeinen Grinsen und ging einen Schritt auf sie zu. Diese schüttelte wild den Kopf und hob abwehrend die Hände. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu.
"Wie? Nein? Du weißt ja gar nicht, was für eine Ehre dir zu Teil wird!" schrie Lucius sie fast hysterisch an. Er wollte gerade den Holzstab heben und Ellen ein wenig mit dem Cruciatus-Fluch quälen, als Nummer 2 sich einmischte.
"Es reicht jetzt, Lucius", herrschte Nummer 2 ihn an. Der zuckte zurück.
"Ich werde sie mit dem Amnesiezauber belegen und wir gehen", sagte Nummer 2 zu Lucius.
"Bist du noch ganz bei Trost? Hast du heute dein Gehirn zu Hause gelassen?" Lucius spuckte beim Sprechen, so regte er sich auf. "Ihr Mann ist tot. Und sie muss auch sterben. Was ist heute mit dir los? Es macht dir doch sonst nichts aus, jeden verdammten Muggel umzubringen, der dir unter die Finger kommt. Ich werde dem Lord berichten, was hier vorgefallen ist. Es sei denn, du tötest sie jetzt. Dann werde ich sagen, dass wir den Auftrag wie gehabt ausgeführt haben." Damit trat er einen Schritt näher an Nummer 2 heran und sah ihn herausfordernd an.
Als der sich wieder umdrehte zu Ellen, konnte Cassy sein Gesicht sehen. Es hatte einen tief gequälten Ausdruck, als er einen Holzstab aus seiner Tasche zog und ihn auf Ellen richtete. Die Anderen konnten sein Mienenspiel nicht sehen, weil er die große Kapuze tief in sein Gesicht gezogen hatte. Eine Fülle von Gefühlen zog über sein Gesicht. Verzweiflung, Qual, Hilflosigkeit. Er schloss für einen kurzen Moment seine Augen. Cassy konnte nicht fassen, was sie sah. Dieser Mann war kein Mörder. Er versuchte Ellen zu retten, aber er hatte keine Chance.
Er hob den Holzstab und flüsterte: "Avada Kedavra!" Ein grüner Blitz schoss aus dem Stab und traf Ellen. Mit einem letzten Blick auf Cassy und einem Lächeln starb sie.
Im gleichen Augenblick gab es Tumult an der Türe. Mehrere Personen mit seltsamen Uniformen kamen die Tür herein, schrieen, die Anwesenden sollten sich ergeben und fingen an, alle möglichen farbigen Blitze abzuschießen. Das Licht ging aus. Es gab Durcheinander und Geschrei. Man konnte den einen vom anderen nicht mehr unterscheiden und immer mehr Personen fielen auf den Boden und stöhnten verletzt oder waren tot. Und zweimal zog Cassy den Kopf im letzten Augenblick ein, als ein solcher Blitz durch einen Gegenstand abgelenkt wurde und in ihre Richtung schoss.
Die Nummer 2 lehnte jetzt an der Wand der Kellertreppe, wo auch Ellen lag. Cassy hatte hielt den Atem an, dass er sie bemerken würde. Sie hatte außer der Dunkelheit des Kellertreppenflures keinerlei Schutz. Ganz langsam drücke sie sich an die dunkle Treppe. Er beobachtete den Kampf aufmerksam, aber er beteiligte sich nicht daran.
***
Der Blitz traf ihn unvorbereitet und genau von vorne. Sein Holzstab flog im hohen Bogen die Kellertreppe herunter und verschwand unten in dem am Boden liegenden Gerümpel, während er mit einem ungläubigen Ausdruck auf dem Gesicht fasste er sich an die Brust. Während er langsam die Wand hinunter zu Boden sackte, hinterließ seine Hand eine breite blutige Spur.
Cassy hielt sich die Hand vor den Mund um ihren Schrei zu unterdrücken. Instinktiv reagierte sie. Sie musste ihm helfen. Es gab schon zu viele Tote.
Vorsichtig schlich sie an der Wand entlang die Kellertreppe hinauf. Der Mann war offensichtlich bewusstlos. Sie packte ihn am Kragen seiner schwarzen Kutte und zerrte den leblosen Körper die Treppe hinunter in den dunklen Keller. In dem Durcheinander der Kämpfenden, Blitze und Schreie nahm niemand Notiz von ihr. Sie hatte noch nicht verstanden, wer hier gegen wen kämpfte, aber zweifellos würde man den Bewusstlosen umbringen, je nach dem, wer ihn fand. So wie man es mit Robert und Ellen getan hatte.
Unten angekommen, suchte sie fieberhaft nach einem Versteck. Dann sah sie die Schaufensterpuppe, die Ellen einmal geschenkt bekommen hatte. Jedes mal, wenn sie zu Besuch kam, hatte sie sich vor diesem Ding erschreckt, wie es hinter der Eingangstür stand und durch die Klamotten und die Perücke beinahe lebensecht wirkte.
Sie öffnete mit fliegenden Fingern den Kapuzenumhang des Mannes und zog ihn von seinem Körper. Dabei ging sie nicht gerade sanft mit dem Verletzten um. Er stöhnte. Keine Zeit für Rücksicht. Sie wusste nicht, wie viel Zeit ihr bleiben würde, bis die Verrückten dort oben bemerken würden, dass es auch einen Keller gab. So zog sie den Umhang hastig über die Schaufensterpuppe und drapierte sie so zwischen das überall herumliegende Kellergerümpel, dass es aussah, als wäre der Körper die Treppe hinabgestürzt. Dann drehte sie der Puppe den Kopf in einen für einen Menschen sehr ungesunden Winkel und deckte ihn mit der Kapuze zu. Immer wieder sah sie ängstlich und gehetzt die Treppe hinauf. Sie bemühte sich, schnell alle Flächen, die offensichtlich zeigten, dass es sich nicht um einen Menschen handelte, zuzudecken. Es sah jetzt aus, als wäre der Mann die Treppe heruntergefallen, auf dem Bauch zum Liegen gekommen und hätte sich den Hals gebrochen. Sie konnte sich nicht vergewissern, ob alles echt aussah, denn sie musste sich und den schwarzhaarigen Mann verstecken.
Ihr Blick fiel auf den Schrank unter der Treppe. Nein. Zu einfach. Aber es blieb einfach keine Zeit mehr. Die Kampfgeräusche hatten sich verändert. Sie waren ruhiger geworden. So zerrte sie den Bewusstlosen durch die Tür in das Schränkchen. In dem Schrank lag eine zusammengeknüllte Plastikplane. Ellen und Robert benutzten sie immer zum Abdecken der Möbel, wenn sie renovierten. Endlich hatte sie es geschafft, den Bewusstlosen so in den Schrank unter die Plane zu bekommen, dass sie seinen Oberkörper zu sich ziehen und ihn im Arm halten und stützen konnte. Sie bemühte sich hektisch, seine langen Beine unter der Plane in eine angewinkelte Stellung zu bekommen und zerrte mit letzter Kraft die Schranktüre zu.
"Hier geht es in den Keller!" schrie eine Stimme in diesem Moment von oben. Cassy hörte mehrere Personen die Treppe heruntertrampeln. Sie hielt die Luft an und betete, dass der Bewusstlose jetzt nicht stöhnte und sie verriet. "Schaut nach, ob sich noch jemand versteckt hat. Ich möchte jeden einzelnen dieser Schweine in Askaban sehen!"
"Oh, Mann. Der hier braucht nicht mehr nach Askaban. Der hat Glück," hörte sie jemand anderen sagen. "Genickbruch," stellte ein Dritter fest. "Kein Wunder, wenn er die steile Treppe runtergefallen ist." "Dreh' ihn mal um, ich will sehen, wer es ist."
"Fassen Sie ihn nicht an," befahl eine ruhige Stimme. Es kam noch eine einzelne Person die Treppe herunter. "Keiner bewegt ihn. Die Säuberungsabteilung wird gleich hier sein und sich um alles Weitere kümmern. Gehen wir."
Cassy hielt den ohnmächtigen Mann noch immer fest an sich gedrückt. Als die Schritte sich langsam entfernten, entspannte sie sich ein wenig und lockerte den Griff um seinen Körper. Dabei sackte der Bewusstlose ein wenig zusammen und sein Kopf fiel auf ihre Brust.
"Was mache ich denn jetzt mit dir?" fragte Cassy leise und verzweifelt und streichelte ihm mit einer hilflosen Geste über die schwarzen langen Haare. Durch sein dünnes Hemd fühlte sie, dass er unnatürlich kalt war und zitterte. Sie zog ihn wieder fester an sich und begann seinen Rücken feste zu reiben, um seine Blutzirkulation in Gang zu bringen und ihn zu wärmen. Dabei redete sie leise und beruhigend auf ihn ein. Sein Atem ging stoßweise und unregelmäßig. Hin und wieder stöhnte er, aber er erwachte nicht. Sie überlegte fieberhaft, was sie jetzt tun sollte. Dieser Krach konnte der Nachbarschaft doch nicht entgangen sein. Sicher würde die Polizei gleich hier sein. Sie beschloss, noch ein wenig zu warten, bevor sie aufstand.
Und dann wurde ihr die groteske Situation mit einem Schlag bewusst. Ellen und Robert waren tot. Sie hielt den Mann in den Armen, der Ellen getötet hatte.
Der Schock kam unbarmherzig. Cassy fing an zu weinen. Sie wollte nicht, aber sie konnte es nicht zurückhalten. Trockene Schluchzer schüttelten sie immer heftiger und in ihrem Innern fühlte sie eisige Kälte, die ein unkontrolliertes, heftiges Zittern in ihrem ganzen Körper auslöste. Sie war unfähig, den Mann loszulassen, unfähig mit ihren Bemühungen aufzuhören, ihn zu wärmen.
Was sollte sie auch sonst machen? Sie musste ihn wärmen. Ellen und Robert waren tot. Er hatte Ellen getötet Aber er wollte es nicht. Sie hatte sein gequältes Gesicht gesehen.
In ihrem Kopf jagten die Gedanken im Kreis. Wie eine Endlosschleife.
Ellen und Robert waren tot. Er hatte Ellen getötet. Aber er wollte es nicht. Sie musste ihn wärmen. Er war doch so kalt.
Sie wiegte ihren Oberkörper mit geschlossenen Augen sachte vor und zurück, um das innere Zittern zu beruhigen. Es war eine völlig bizarre Situation. Cassy klammerte sich an den Bewusstlosen, als wäre er das lebensrettende Stück Treibholz im Ozean ihrer Verzweiflung. Seine Nähe war im Moment alles, was sie tröstete. Er war das lebende Zeugnis dafür, dass sie keinen Alptraum hatte. Die Barrieren, die das Erlebte in ihrem Kopf auf Distanz gehalten hatten, brachen nach und nach. Verzweifelt versuchte ihr Bewusstsein, die aufkommenden Bilder zurückzudrängen. Aber es gelang nicht. In der langsamen Erkenntnis des Ausmaßes des Erlebten, schrumpfte die ganze Welt für Cassy auf einmal auf die Fläche zusammen, die sie und der Bewusstlose hier beanspruchten. Niemand war da. Niemand hörte sie. Niemand half ihr. Sie war alleine.
Sie wusste nicht, wie lange sie dort gesessen und geweint hatte. Stunden? Minuten? Es spielte auch keine Rolle. Ellen und Robert waren tot. Sie hielt den Mann in den Armen, der Ellen getötet hatte. Sie wollte ihn hassen.
"Hallo! Wo sind Sie?" Wie von ferne hörte sie eine ruhige Stimme. Cassy sah auf, gab aber keine Antwort. Kalte Angst machte sich in ihr breit. Sie änderte vorsichtig die Sitzposition, um sich besser auf die Geräusche und die Stimme konzentrieren zu können. Dabei stöhnte der Mann wieder.
"Hallo! Sie brauchen keine Angst zu haben. Bitte sagen Sie mir, wo Sie sind." Cassy dachte gar nicht daran zu antworten. Wenn sie jetzt doch noch sterben müsste, dann wollte sie es ihrem Mörder nicht zu einfach machen. Atemlos hörte sie, wie langsame Schritte die Treppe herunter kamen. Cassy war sich sicher, dass dieser Mensch alleine war.
Sie hörte ihn im Keller herumgehen und ab und zu raschelte es. Dann blieb er vor dem kleinen Schrank stehen.
"Ich weiß, dass Sie in diesem Schrank unter der Treppe sitzen. Bitte haben Sie keine Angst. Ich werde jetzt die Tür öffnen."
Die Tür knarzte ein wenig und jemand zog die Plane von ihr und dem Bewusstlosen weg. Ein fingerdicker Lichtstrahl fiel auf ihr Gesicht und blendete sie. Sie konnte den anderen nicht sehen.
"Oh, mein Gott," hörte sie die ruhige Stimme bestürzt sagen. "Sind Sie verletzt?" "Kommen Sie, ich nehme Ihnen Snape ab." Sie bemerkte, wie zwei kräftige Hände den Bewusstlosen sachte von ihr wegziehen wollten. Nein. Nicht wegnehmen. Sie klammerte sich an ihn. Er war ihr Halt. Wenn er weg war, war sie völlig schutzlos.
"Sie haben einen Schock. Bitte lassen Sie den Mann los, damit ich ihn untersuchen kann. Und damit ich mich auch um Sie kümmern kann." Die Stimme redete beruhigend auf Cassy ein. Doch Cassy hielt den Bewusstlosen panisch fest. Sie hörte die Worte des Mannes, verstand aber ihren Sinn nicht.
"Lassen Sie ihn bitte los. Es ist alles vorbei. Er braucht dringend einen Arzt, sonst haben wir vielleicht noch einen Toten mehr."
Jetzt kam Bewegung in Cassy's Gehirn. Sie lockerte den Griff und ihr Denken kehrte ganz langsam und widerstrebend in die Gegenwart zurück. Sie ließ die Arme kraftlos sinken und gab ihn frei. Behutsam zog der Mann den Bewusstlosen aus dem Schrank, beugte sich sofort über ihn und untersuchte ihn mit geschickten Fingern.
Cassy konnte nicht aufstehen. Ihre Beine waren durch die unnatürliche Haltung und durch das Gewicht des Bewusstlosen eingeschlafen. Der Mann kam kurz darauf erneut in den Schrank, half ihr aufzustehen und führte sie langsam heraus. Sie fühlte augenblicklich, wie das Blut wieder zu zirkulieren begann, und das typische unangenehme Stechen und Prickeln setzte ein. Sie ging langsam hin und her, damit dieses Gefühl nachließ.
Ihr "Retter" trug einen dunkelblauen Umhang, hatte lange weiße Haare und einen noch längeren Bart. Hinter seiner Halbmond-Brille funkelten blaue, wachsame Augen, die allerdings im Moment sehr sorgenvoll auf den am Boden liegenden Bewusstlosen schauten.
Jetzt konnte sie auch zum ersten Mal den Bewusstlosen richtig ansehen. Er war groß und schlank. Seine Haut war ungesund blass und er hatte rabenschwarze, schulterlange Haare, die sehr ungepflegt aussahen.
"Sind Sie in Ordnung?" fragte der alte Mann sie noch einmal mit einem Blick auf ihren Pullover. Ohne eine Antwort abzuwarten, kniete er sich wieder neben den am Boden liegenden Mann. Erst jetzt sah Cassy, dass sie über und über mit Blut beschmiert war. Erschreckt tastete sie sich ab. Aber ihr schien nichts zu fehlen. Es musste das Blut des Ohnmächtigen sein.
Der alte Mann sah kurz auf und sagte: "Mein Name ist Albus Dumbledore." Dabei knöpfte er dem Bewusstlosen das zerrissene und völlig durchblutete Hemd auf und untersuchte vorsichtig Brust und Rippen. Eine tiefe Fleischwunde zog sich von der Schulter über die Brust. Überall waren Blutergüsse und Schürfwunden.
"Cassy Parker," sagte Cassy heiser. Sie besah sich die Wunde und ihr Schock wich dem Instinkt zu helfen. "Ich hole einen Verbandskasten. Wir müssen die Blutung stoppen." Mit diesen Worten wandte sie sich zur Treppe. Doch dann fiel ihr der Verbandskasten in der Heizung ein, den Robert dort angebracht hatte, weil er sich mit seinen beiden linken Händen regelmäßig beim Heizung säubern in die Finger schnitt oder sich sonst irgend eine Verletzung beibrachte. Sie verscheuchte die Erinnerung, die sich schmerzhaft aufdrängen wollte, wie ein lästige Fliege und holte schnell den Kasten. Gemeinsam mit Albus Dumbledore machte sie sich daran, den Verletzten zu säubern und zu verbinden. Aus irgendwelchen Gründen war die funzelige Lampe im Keller wesentlich heller, als Cassy das in Erinnerung hatte. Wahrscheinlich hatten ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt.
"Wie ist sein Name?" fragte Cassy, während sie beide arbeiteten.
"Severus Snape."
***
Noch während sie Snape versorgten, kamen andere Männer und werkelten im Erdgeschoss herum. Dumbledore bedeutete ihr, leise zu sein und ging nach oben. Sie hörte, wie er den Männern sagte, dass sie nicht in den Keller kommen sollten. Er wäre dort noch mit verschiedenen Aufräumarbeiten beschäftigt, die sie nichts angingen.
Cassy saß vor einer alten Couch, auf der der notdürftig verarztete Snape noch immer bewusstlos lag. Dumbledore hatte ihm irgendwelche roten Tropfen eingeflößt und nach und nach hatte Snape sich entspannt und begonnen ruhiger zu atmen. Er schien zu schlafen. Sie hatten ihn in eine dicke, frische Decke aus der Waschküche eingewickelt, damit er nicht fror. Sie hörte die Männer oben gedämpft reden und auf einmal wurde Cassy schmerzlich bewusst, dass dort auch noch immer Ellen und Robert liegen mussten. "Kann ich mich wenigstens von meinen Freunden verabschieden?" fragte sie Dumbledore flüsternd mit brechender Stimme. Er schüttelte den Kopf und gab leise zurück: "Glauben Sie mir. Es ist zu Ihrer eigenen Sicherheit, wenn niemand weiß, dass Sie und er", damit zeigte er auf Snape, "überlebt haben."
Dann gingen die Leute und es wurde wieder ruhig. Augenblicklich löste sich Dumbledore vom Treppengeländer und kam auf sie zu.
Auf einmal fiel es Cassy wie Schuppen von den Augen. Als Albus Dumbledore am Geländer stand und sicherstellte, dass niemand von oben kam, hatte er auch so einen Holzstab in der Hand, wie die Männer, die Ellen und Robert getötet hatten. Sie bekam wieder Angst. Würde er sie doch noch töten? Nein. Das hätte er längst tun können. Argwöhnisch schaute sie ihn an.
"Sie trauen mir noch immer nicht?" deutete Dumbledore lächelnd ihren Blick.
"Wer sind Sie wirklich?" fragte Cassy ihn und blickte ihm fest in die Augen. Sie stand auf und brachte ein paar Schritte Abstand zwischen den alten Mann und sich. "Und was ist heute hier passiert? Sie wissen es. Warum mussten meine beiden besten Freunde heute sterben?" Dabei musste sie sich sehr zusammennehmen, denn eine eiskalte Wut erfasste sie im Moment, wo sie glaubte, dass auch Dumbledore dafür verantwortlich war.
Der hatte sich gerade einen alten wackeligen Stuhl aus dem Gerümpel herbeigezogen und ließ sich mit einem tiefen Seufzer vertrauensvoll auf ihn fallen. Er hielt.
"Erzählen Sie mir, was heute hier vorgefallen ist," bat er sie, ohne auf ihre Fragen einzugehen.
"Nein," sagte Cassy mit fester Stimme. "Erst beantworten Sie meine Fragen."
Sie blickte ihn abwartend an. Dumbledore rührte sich jedoch nicht. Er überlegte kurz, ob er das verantworten könne. Als er nichts sagte, wurde sie misstrauisch. Der Holzstab des bewusstlosen Snape war doch die Treppe runtergeflogen, als ihn der Blitz traf, der ihn so schwer verletzt hatte. Sie wollte Dumbledore nicht schutzlos gegenübersitzen und fing an in dem Gerümpel nach dem Stab zu suchen.
"Was tun Sie da?" fragte er erstaunt mit hochgezogenen Augenbrauen.
In diesem Augenblick sah sie den Stab. Sie hob ihn auf und richtete ihn auf Dumbledore. Der hatte sie die ganze Zeit über interessiert beobachtet. Jetzt konnte sie ein amüsiertes Lächeln auf seinem Gesicht feststellen.
"Ich weiß ja nicht, wie Sie das mit den Blitzen machen, aber ich denke, es wird nicht so schwierig sein," fauchte Cassy und fuchtelte mit dem Stab vor seinem Gesicht herum.
"Sie sollten ihn wenigstens richtig herum halten, wenn Sie mich schon damit bedrohen wollen. Im Moment würden Sie vor allen Dingen sich selbst verletzen," lächelte der alte Mann. Er streckte auffordernd die Hand aus. "Geben Sie den Stab her, bevor Sie sich oder mir noch ein Auge ausstechen. Ich werde versuchen, Ihre Fragen so schnell wie möglich zu beantworten", sagte er mit einem Blick auf Snape.
Cassy überlegte einen Moment und übergab ihm resignierend seufzend das Stück Holz. Dann setzte sie sich wieder auf ihren Platz vor der Couch. Dumbledore begann zu erzählen. Da er sich große Sorgen um den verletzten Snape machte, versuchte er seine Geschichte so kurz wie möglich zu fassen. Er berichtete mit knappen Worten. Von Hogwarts. Von der Magierwelt. Von Voldemort. Von der aktuellen Bedrohung. Er erklärte ihr, wer die Todesser waren und auch, welche Aufgabe Snape hatte. Dass Robert und Ellen sterben mussten, war ein Versehen. Die Todesser sollten eigentlich die Nachbarn in der kleineren Hausnummer umbringen.
Cassy hatte jedes Gefühl für Zeit verloren. Sie hing an Dumbledores Lippen und konnte nicht glauben, was sie hörte. Als er einmal seinen Zauberstab hob, um seine Geschichte mit einer Demonstration zu untermauern, sprang Cassy schreiend auf und bewarf ihn mit dem nächstbesten Gegenstand, den sie greifen konnte - einer Schuhbürste. Dumbledore reagierte blitzschnell. Er zielte auf die Schuhbürste und murmelte etwas. Aus dem Holzstab kam diesmal kein Blitz, sondern es regneten hellblaue Funken auf die Bürste und sie blieb im Flug in der Luft stehen, als würde sie auf einem unsichtbaren Regal liegen. Er stand auf und nahm die Bürste einfach aus der Luft.
"Jetzt wissen Sie das Nötigste. Und jetzt möchte ich genau wissen, was heute hier vorgefallen ist," schloss Dumbledore seine Geschichte und übergab ihr die Schuhbürste. Snape stöhnte kurz auf und bewegte sich etwas, dann schlief er weiter.
Cassy sah Dumbledore an und fragte sich, warum er ihr alles erzählt hatte. Selbst mit diesen rudimentären Informationen war sie doch eigentlich ein Sicherheitsrisiko.
Dann begriff sie. Sie würde es morgen einfach nicht mehr wissen. Ein Blitz aus diesem Zauberstab und sie würde nicht einmal mehr wissen, wie ihre Freunde hießen. Was hatte dieser Snape gesagt? 'Lasst uns den Amnesiezauber aussprechen und verschwinden'. Eine Amnesie. Totales Vergessen. Wie neugeboren in einer fremden Welt aufwachen. Völlig orientierungslos. Das kam überhaupt nicht in Frage. Aber es eröffnete sich eine neue Perspektive für sie, wenn das, was Dumbledore ihr erzählt hatte, wirklich stimmte. Sie wollte diese Welt kennen lernen. Dieser Gedanke hatte sich schon während der Erzählung des älteren Mannes in ihrem Gehirn eingenistet und er wuchs. Nein. Er wucherte. Alles war anders und verworren an diesem Abend. Oder war es doch schon Morgen? Aber so klar, wie der Wunsch, ihr Leben nach dem heutigen Tag zu ändern, war ihr selten etwas in der Vergangenheit gewesen. In ihrem Job lief jeden Tag monoton das Gleiche ab. Sie hatte es schon lange so richtig satt. Hier bot sich ihr eine einmalige Chance, etwa Neues, Aufregendes zu erleben, ihr Denken und Wissen zu erweitern. Cassy wollte diese Chance ergreifen.
"Ist es denn für Sie so wichtig, was hier passiert ist?" fragte sie lauernd. "Meine Freunde sind tot und Ihren Spion habe ich gerettet. Das ist die Zusammenfassung."
Dumbledore schaute sie mit schief gelegtem Kopf an. Das Mädchen war nicht dumm. Sie führte etwas im Schilde.
"Also? Was wollen Sie?" fragte er sie direkt. In seiner Stimme hörte man Ärger und Ungeduld. Er wollte Snape schnellstens in ärztliche Obhut geben.
"Ich möchte Ihr Versprechen, dass Sie mir nicht meine Erinnerungen nehmen. Dass sie nicht den Amnesiezauber über mich aussprechen", fügte sie fachmännisch hinzu. "Ellen und Robert waren die liebsten Menschen, die ich auf der Welt hatte. Ich möchte sie nicht vergessen. Und ich möchte mir Hogwarts anschauen. Ihre Welt kennen lernen. Da Ihnen - wie Sie selbst erzählt haben - gerade der Lehrer für Muggelkunde abhanden gekommen ist, wäre ich der ideale Ersatz. Ich habe Erfahrung im Unterrichten und keiner kennt sich in Muggelkunde so gut aus, wie ein Muggel." Sie schwieg einen Moment und wiederholte dann: "Und denken Sie daran, dass Ihr 007 hier ohne mich nicht mehr leben würde."
Dumbledore dachte nach.
"Wir können voneinander lernen, Mr. Dumbledore. Vielleicht finden Sie in unserer Zusammenarbeit etwas, das Ihnen einen Vorteil gegenüber diesem Moldevort oder wie er heißt, bringt," setzte Cassy nach. Sie rieb nachdenklich mit den Borsten der Schuhbürste über eine juckende Stelle an ihrem nackten, blutverschmierten Arm und hinterließ einen hässlichen schwarzen Streifen Schuhcreme auf der Haut.
Was hatte sie sich eigentlich gerade dabei gedacht, fragte sie sich. Vor wenigen Stunden hatte sie in einem makabren und irrealen Chaos ihre Freunde verloren und war wahrscheinlich selbst nur knapp dem Tod entkommen. Jetzt dachte sie darüber nach, die Welt zu retten? Sie schien ein erhebliches Stück ihres Verstandes an diesem Tag eingebüßt zu haben. Wo blieb ihr Sinn für Realität? Konnte man den eigentlich noch haben, nach einem solchen Erlebnis?
Snape stöhnte wieder und bewegte sich. Sie blickte auf sein Gesicht. Sie mochte dieses Gesicht. Seit sie aus dem Schrank heraus war, wurde ihr Blick immer und immer wieder - wie magisch - von ihm angezogen. Und jedes Mal hatte sie das gute Gefühl, etwas richtig gemacht zu haben, dass sie sein Leben rettete - aber noch war er nicht außer Lebensgefahr. Das wusste sie, als sie die Wunde gesehen hatte. Ihre Gedanken entglitten ihr wieder zu ihren Freunden.
Ellen und Robert waren tot. Er hatte Ellen getötet. Aber er wollte es nicht. Sie konnte ihn nicht hassen.
Langsam hob sie die Hand und strich mit einer sanften Geste eine widerspenstige Strähne seines rabenschwarzen Haares aus seiner Stirn, während ihr wieder die Tränen über das Gesicht liefen.
Als Dumbledore diese gedankenverlorene Geste sah, rührte ihn etwas an. Er konnte später nicht mehr sagen, was es war, aber es beschleunigte seine Entscheidung. Er würde dieses Experiment durchführen.
"Ich freue mich, Sie als neue Lehrkraft in Hogwarts begrüßen zu dürfen," sagte er freundlich und setzte gleich hinzu: "Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass Sie Ihre Erinnerungen behalten werden."
Cassy sah ihn lächelnd an.
Sie holte tief Luft und begann stockend die Vorkommnisse dieses unwirklichen Nachmittags zu schildern. Die Bilder hatten an Grauen nichts verloren, aber sie bemerkte, wie sich der Druck auf ihrer Seele zusehends verminderte, je mehr sie erzählte. Es half ihr, ihre noch immer auf Hochtouren rotierenden Gedanken zu beruhigen und die Ereignisse zu verarbeiten. Dumbledore hörte aufmerksam zu. Snape stöhnte jetzt öfter und wurde zusehends unruhiger. Er musste höllische Schmerzen haben. Dumbledore warf ihm sorgenvolle Blicke zu. Aber er musste erst den Bericht dieses Vorfalles abwarten. Snape konnte es ihm diesmal nicht erzählen.
Als sie erschöpft geendet hatte, schaute sie Dumbledore an. "Ich bin auf einmal so müde", sagte sie erstaunt und gähnte.
Dumbledore holte einen alten Socken aus seiner Tasche, richtete Snape vorsichtig auf und hielt ihn fest. Dann erklärte er Cassy die Verwendung eines Portschlüssels. Eigentlich war es ihr egal, wie es funktionierte. Sie begriff es sowieso nicht mehr. Sie war todmüde und wollte nur nach Hause und schlafen. Er gab ihr die Flasche mit dem roten Mittel mit und schärfte ihr ein, nicht mehr als drei Tropfen davon zu nehmen, sobald sie merkte, dass das Erlebte ihr die Ruhe oder den Schlaf nehmen würde.
"Erzählen Sie niemandem, was Sie heute hier gesehen haben. Es wird Ihnen sowieso niemand glauben, weil Ellen und Robert Baker niemals existiert haben." Dumbledore sah sie ernst an. "Ich werde mich in Kürze bei Ihnen melden und wir werden Ihren Aufenthalt in Hogwarts besprechen."
"Und Sie erzählen Mr. Snape nichts von mir. Wenn ich nach Hogwarts komme, will ich ihn unvoreingenommen kennen lernen."
"Sie können sich auf mich verlassen. Er ist jemand, der einem Anderen nicht gerne etwas schuldet. Ihre Bitte kommt mir daher sehr entgegen." Dumbledore grinste bei dem Gedanken, was Snape sagen bzw. tun würde, wenn er wüsste, dass eine Muggel ihm das Leben gerettet hatte, aber noch war der Zaubertränkemeister nicht über den Berg.
Sie reichten sich die Hände und im Verschwinden hörte Cassy Dumbledores Stimme:
"Wer ist eigentlich 007?"
***
Der Portschlüssel brachte Cassy nach Hause und Dumbledore apparierte mit dem schwer verletzten Snape im Arm direkt vor das Tor von Hogwarts. Remus Lupin hatte bereits einige Stunden im Halbschatten unter einem großen Baum gewartet und sich von Stunde zu Stunde größere Sorgen gemacht. Im Schloss schliefen alle. Keiner hatte von dem nächtlichen Ausflug etwas bemerkt.
"Was ist passiert?" fragte er mit einem sorgenvollen Blick auf Severus, der wie eine Mumie in die Decke eingehüllt war und dessen blasse Haut jetzt so hell war, als wäre sie aus Porzellan.
"Ich musste seine Anwesenheit glaubhaft machen", gab Dumbledore dumpf zurück. Lupin schaute ihn verständnislos an, fragte aber nicht weiter.
Sie beschworen eine magische Trage herauf und betteten Snape vorsichtig darauf. Noch nie in seinem Leben hatte Dumbledore sich mehr gewünscht, dass man in Hogwarts apparieren konnte. Mit jedem Schritt, den sie Richtung Schloss rannten, hatte er das Gefühl, dass das Leben Severus Snape einen Schritt mehr verließ. Wie viele Schritte blieben ihm noch? Er hatte die Wunde im Keller nicht magisch schließen können. Dazu war der Zauber, der sie verursacht hatte, zu stark.
Bei Madam Pomfrey angekommen, legten sie Snape vorsichtig auf ein Bett. Sie wickelten ihn gemeinsam aus den Decken. Er stöhnte und warf den Kopf hin und her. Als die Heilerin die Wunde sah, zog sie scharf die Luft ein und fragte Dumbledore: "Wie ist das passiert? Ist das ein Fluch? Wissen Sie welcher?"
Dumbledore informierte sie in knappen Sätzen und sagte ihr auch, dass jemand sich notdürftig um Snape gekümmert hatte, bis er bei ihm war. Mit einem kurzen Blick gab sie Dumbledore und Lupin zu verstehen, dass sie alleine sein wollte. Dann begann Madam Pomfrey mit ihrer Arbeit.
Albus ließ sich müde und schwer auf einen Stuhl in Madam Pomfreys Büro fallen und erzählte Remus unaufgefordert alles haarklein. Remus hörte konzentriert zu und unterbrach den Schulleiter nicht.
Zum Schluss stand er auf, legte Dumbledore die Hand auf die hängenden Schultern und sagte: "Du konntest nichts anderes tun. Du hast wahrscheinlich seine Tarnung gerettet. Und denk nach: Severus lebt. Und das ist das Wichtigste im Moment überhaupt."
Dumbledore nickte. Er schloss für einen Moment erschöpft die Augen und ging dann zu Poppy, um sie zu fragen wie es um Snape stünde.
Gerade war sie mit der letzten Beschwörung fertig und hatte die Wunde verschlossen. Als sie Dumbledore kommen sah, sagte sie: "Er hat eine Menge Blut verloren. Aber wer auch immer die Wunde zusammengehalten und dafür gesorgt hat, dass er nicht auskühlt, hat ihm wahrscheinlich das Leben gerettet. Allerdings müssen wir die nächsten 48 Stunden abwarten."
"Albus" hörte Dumbledore eine schwache, flüsternde Stimme. Snape war aufgewacht.
"Warum haben Sie das getan?" fragte er heiser und schaute Dumbledore unverwandt an. Sein hilfloser Blick, der leise Vorwurf und das fast kindliche Vertrauen, das er darin lesen konnte, machten Dumbledores Schuldgefühle nur noch schlimmer.
"Bitte, Severus", sagte er leise und erschüttert. "Bitte, schlafen Sie und ich beantworte alle Ihre Fragen, wenn Sie aufgewacht sind."
Severus schloss gehorsam die Augen und schluckte trocken. Dann gab Poppy ihm den Schlaftrank. Damit würde er jetzt mehrere Tage schlafen. Sich erholen. Oder sein Körper würde sich weigern, weiterzuarbeiten. Dann würde Severus nicht merken, wenn er für immer einschlief.
Dumbledore presste seine brennenden Augen zusammen, nahm kurz die Brille von der Nase und rieb sich mit Zeigefinger und Daumen die Nasenwurzel. Dann setzte er die Brille wieder auf und verließ mit Lupin zusammen die Krankenstation. An Schlaf war, trotz seiner Erschöpfung nicht zu denken. Severus' Blick brannte in seinem Gedächtnis.
"Remus? Hast Du noch Lust auf einen Cognac? Den brauche ich heute dringend."
Lupin wollte Albus jetzt nicht gerne alleine lassen, obwohl er fast im Stehen einschlief. Er nickte. "Warum nicht." Er sah Dumbledores dankbares Gesicht und beide Männer gingen mit müden Schritten in das Büro des Schulleiters.
***
Der Wecker klingelte schrill und heftig. Cassy versuchte verschlafen das Krawall machende Haushaltsgerät zu beruhigen, aber sie fand den Knopf im Dunkeln nicht. Dann war sie schlagartig wach, fingerte nach dem Licht und knipste es an. Sie versetzte dem Wecker mit der flachen Hand einen ungeduldigen Schlag, dass er endlich verstummte. Ein entsetzlicher Traum. Sie wollte sich mit ihren Händen durch das Gesicht fahren, stutzte aber, als sie auf ihrem Arm Schmutz und einen schwachen schwarzen Streifen feststellte. Wie Schuhcreme. Nein. Sie würde jetzt Ellen anrufen und ihr sagen, dass sie definitiv keinen Alkohol mehr trinken würde, da das Delirium anscheinend immer realistischer wurde. Wie war sie eigentlich heimgekommen?
Aber sie hatte keine Kopfschmerzen. Die üblichen Symptome nach einem Abend bei den Bakers, die meist bis zu zwei Tage anhielten, gab es heute nicht. Cassy gähnte und stand auf. Am besten erst einmal duschen und frühstücken. Dann wollte sie ihre Mutter anrufen. Oder Ellen. Oder beide.
Als sie ins Bad kam, sah sie ihren Pullover vom Vortag auf der Erde liegen und hob ihn auf. Die Erkenntnis traf sie wie ein Faustschlag. Sie hatte nicht geträumt. Der Pullover war voller Blut. Völlig verwirrt und mit schlotternden Beinen setzte sie sich auf den Toilettendeckel, den Pullover noch immer in der Hand. Jetzt erst einmal die Gedanken beruhigen.
War sie wirklich betrunken gestern? Nein. Dazu waren die Bilder ihr viel zu klar und logisch in Erinnerung. Und doch. Es gab Erinnerungen, die sie nicht einordnen konnte. Hogwarts. Zauberer. Lächerlich. Mit Sicherheit spielte ihr Unterbewusstsein ihr einen Streich.
Sie würde ihre Mutter anrufen. Sie würde sie am besten jetzt gleich anrufen.
Damit stand sie auf, legte den blutigen Pullover auf den Rand der Badewanne und suchte ihr Telefon. Diese verdammten Schnurlosen lagen grundsätzlich nicht dort, wo man sie brauchte. Cassy musste dreimal die "Finde-mich- kriegst-mich-ja-doch-nicht"-Taste drücken, bis sie das Telefon in der Küche zwischen Obstschale und Brotkasten lokalisieren konnte. Wenigstens war der Akku noch geladen.
Sie wählte die Nummer und nach dem dritten Klingeln war ihre Mutter bereits dran. Jetzt kamen garantiert erst einmal die üblichen Vorwürfe, wie: 'Na, wieder zuviel getrunken' oder 'hast ja ausnahmsweise mal zu Hause geschlafen'. Aber: Ihre Mutter schien heute glänzender Laune zu sein.
"Hallo Schatz! Wie war deine Party gestern?"
Uff, Gott sei Dank. Ihre Mutter wusste, dass sie eingeladen war.
"Mume, du wirst nicht glauben, was gestern passiert ist!" sagte Cassy. "Ellen und Robert sind überfallen worden."
"Wer ist überfallen worden?", wollte ihre Mutter wissen.
"Ellen und Robert Baker", antwortete Cassy leicht ungeduldig.
"Sind das neue Leute, die du gestern kennen gelernt hast, Schatz?"
Cassy hatte das Gefühl, jemand würde ihr den Boden unter den Füßen wegziehen.
"Mume! Ellen und Robert! Ich war mit ihnen in Südafrika! Du kannst dich doch erinnern!"
"Jetzt hör' mal, Schatz. Ich kenne Ellen und Robert Baker nicht. Hast du sie in Südafrika kennen gelernt und mir nichts davon gesagt?"
Cassy verlor nach und nach die Fassung. Ellen und Robert gingen bei ihrer Mutter ein und aus. Wenn Not am Mann war und ihre Mutter zum Einkaufen musste und Cassy sie nicht fahren konnte, dann hatte einer der beiden Bakers sie gefahren. Ihre Mutter hatte Ellen bei der Renovierung im Haus geholfen und den beiden öfter Kuchen gebacken oder auch ein Mittagessen zum Einfrieren vorbereitet. Jetzt konnte sie sich nicht erinnern? Das konnte nicht sein!
"Du hast für Ellen gekocht, Mume!" flüsterte sie erstickt.
"Kind! Ich würde sagen, dass du dich noch einmal ins Bett legst und deinen Rausch ausschläfst, bevor du deine Mutter mit solchem Unsinn aufregst. Hast du noch genügend Aspirin? Ich komme gerne vorbei und bringe dir etwas."
Cassy legte einfach auf. Sie wollte noch immer nicht akzeptieren, was sie gerade gehört hatte. Dann hatte sie einen Geistesblitz. Dachte sie. Sie stürzte an ihren Schrank und holte die Fotos heraus. Die Fotos ihres gemeinsamen Urlaubes in Südafrika. Es gab ein Bild, auf dem alle drei auf jeden Fall zu sehen sein mussten. Geknipst am Cap Agulhas. Im Hintergrund konnte man in roter Schrift auf einer kleinen gelben Hütte lesen "The Most Southern Shop in Africa". Aber vor dieser Hütte stand nur sie und lächelte.
Dann fiel ihr die Phiole ein, die ihr dieser - wie hieß er doch gleich - Albus Dumbledore zugesteckt hatte. Wenn dieses Fläschchen da war, dann war sie bereit, zu akzeptieren, was sie momentan noch immer für einen grotesken Streich ihrer Fantasie hielt.
Fieberhaft suchte sie ihre Kleidung nach der Phiole mit dem roten Inhalt ab - und fand sie. Sie hatte nicht geträumt. Es war alles passiert.
Der Schock traf sie erneut. Mit der Phiole in der Hand stand sie im Badezimmer und versuchte die Erkenntnis zu verarbeiten, dass alles geschehen war. Wirklich alles. Sie hatte das Gefühl, dass sie sich wie in einem Vakuum bewegte. Und ihr wurde mit einem Mal schmerzhaft klar, dass ihre Welt nie mehr so sein würde, wie früher. Mit wackeligen Beinen ging sie in ihre kleine Küche und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Die Phiole hielt sie noch immer fest umklammert.
Entgegen gestern blieben ihre Gedanken bei ihren Freunden. Dieser Dumbledore war im Moment nur ein unwichtiger Name für sie. Ellen und Robert existierten nur noch in ihrer Erinnerung. Für den Rest der Welt gab es sie einfach nicht mehr. Sie waren aus dem Gedächtnis der Menschen ausradiert worden. Fast bedauerte sie, dass ihr diese Erinnerung nicht doch genommen worden war. Sie saß noch eine Weile still in ihrer kleinen Küche und starrte auf die vertrocknete Basilikumpflanze am Fenster. Als ihr endlich das Ausmaß des Erlebten erneut bewusst wurde, entschloss sie sich, in die Kirche zu gehen. Das erste Mal seit vielen Jahren. Sie musste mit irgend jemandem reden. Mit wem hätte sie sonst reden können über ihr Erlebtes?
Ellen und Robert waren einfach nicht mehr existent. Sie würden nie ein Begräbnis bekommen, nie würde ein Trauergottesdienst für sie gehalten, nie würden die Leute um sie weinen, die sie so sehr geschätzt hatten und nie würden sie einen Platz auf einem Friedhof bekommen, wo man sie besuchen und mit Ihnen Zwiesprache halten konnte.
Niemand wusste mehr etwas von den beiden besten Freunden, die sie auf der Welt gehabt hatte. Sie zog sich an und machte sich auf den Weg. Dort angekommen setzte sie sich in die Bankreihen direkt vor das Kreuz Christi und begann still ihr Herz auszuschütten und für die beiden von der Welt vergessenen Freunde zu beten. Sie weinte, bis keine Tränen mehr kamen. Dann saß sie nur noch stumm da und sah den gekreuzigten Jesus an. Sie stellte ihm zum wiederholten Male die Warum-Frage.
Nach mehreren Stunden, als der Pfarrer ab und an von weitem nach ihr sah, stand sie auf, winkte dem Pfarrer und deutete ihm ihren tiefen Dank an, dass er sie in Ruhe gelassen hatte. Sie wollte das Agulhas-Foto mitnehmen zu Dumbledore. Vielleicht konnte er die beiden wieder sichtbar machen. Nur dieses eine Foto.
Als Cassy das leere Foto betrachtete, hatte sich in ihr wieder ohnmächtige Wut breit gemacht. Ein brutaler und gewissenloser Mörder verbreitete Angst und Schrecken. Eigentlich war das nichts Neues, wenn man regelmäßig die Nachrichten sah. In ihrer Welt nannte man so jemanden einen Terroristen. Man hörte täglich von ihnen, aber man nahm sie einfach nicht mehr richtig wahr. Aber egal, wie man ihn nannte, ob Terrorist oder dunkler Lord. Er hatte ihre beiden Freunde umgebracht. Aus Versehen. Ganz lapidar hatte man sich halt im Haus geirrt. Jetzt erst, nachdem sie selbst betroffen war, bekam das Ganze eine völlig neue Bedeutung und sie schämte sich fast, dass sie vorher nie so tief darüber nachgedacht hatte. Ihr Entschluss stand fest. Sie wollte Dumbledore und diesem Snape helfen, diesem Unmenschen das Handwerk zu legen. Wie, das wusste sie nicht. Das würde sich ergeben. Sie wollte ihre beiden Freunde gerächt sehen. Und ihr Aufenthalt in Hogwarts würde sie dem so nahe bringen, wie kein anderer Ort auf dieser Welt.
***
Als Snape nach drei Tagen erwachte, war er im ersten Moment völlig orientierungslos. Es dauerte eine Weile, bis er seine Umgebung wahrnahm und erleichtert bemerkte, dass er in Hogwarts war. Madam Pomfrey werkelte in einer Ecke des Krankenflügels herum. Sie hob gerade den Kopf, als er sich aufrichten wollte.
"Oh, nein!", rief sie energisch. "Sie bleiben liegen. Und diesmal habe ich alle Befugnis von Albus, die ich brauche, um Sie hier zu behalten."
Snape legte sich zurück. Madam Pomfreys Stimme ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie von ihren Befugnissen auch regen Gebrauch machen würde, wenn es nötig wäre.
"Schon gut, Poppy", flüsterte er. "Ich möchte etwas trinken." Und nach einer Weile fügte er hinzu: "Und ich möchte Albus sprechen."
Sie stützte ihn und gab ihm Tee in kleinen Schlucken Dann schickte sie einen Hauselfen nach Dumbledore.
Der Zaubertränkemeister lag erschöpft in seinen Kissen und starrte stumpf und ausdruckslos an die Decke. Er beanspruchte sein Gedächtnis, was passiert war. Aber die Bruchstücke passten noch nicht zusammen. Da war dieses Muggelpärchen ... Ach, verdammt. Er erinnerte sich einfach nicht.
"Severus! Wie geht es Ihnen?" Dumbledore kam in den Krankenflügel und man sah die aufrichtige Freude in seinem Gesicht, dass es Snape besser ging. Er zog sich einen Stuhl neben Snapes Bett und drückte dem Zaubertränkemeister die Hand.
"Warum haben Sie das getan?", flüsterte Snape übergangslos. Dumbledore sah, dass das Sprechen ihn große Anstrengungen kostete, aber Severus brauchte Gewissheit. Er brauchte sie, um die schrecklichen Ereignisse besser verarbeiten zu können.
Dumbledore begann zu erzählen: "Als wir ankamen, waren die Fletchers nicht zu Hause. Es war uns schnell klar, dass hier ein folgenschwerer Fehler passiert war. Einer der Auroren sah die Blitze im Nachbarhaus bei den Bakers. Als wir dort ankamen, war gerade die junge Frau gestorben." Hier hielt er einen Moment inne, weil Snape mit schmerzverzerrtem Gesicht die Augen schloss, als er sich bruchstückhaft zu erinnern begann. Er hatte in ihr verzweifeltes Gesicht gesehen und er konnte nichts für sie tun. Er musste sie umbringen, damit er vielleicht Tausenden von anderen das Leben retten konnte. Sie würde nie erfahren, welches Opfer sie gebracht hatte. Dass sie eigentlich eine Heldin war.
Severus wollte nicht über seine Opfer nachdenken. Er hatte das Gefühl, dass am jüngsten Gericht das Spalier der Menschen, die er auf dem Gewissen hatte und die ihn auf seinem letzten Weg begleiten würden, endlos sein würde. Sie würden alle am Wegrand stehen und ihn stumm und anklagend ansehen. Er hatte oft diesen Traum. "Ich konnte einfach nichts für sie tun", flüsterte er verzweifelt.
Dumbledore nickte. "Ich weiß. Wir haben Lucius draußen gehört, waren aber zu spät." Er wartete noch einen Moment, bis er den Eindruck hatte, dass Snape sich wieder gefasst hatte. "Als wir durch die Tür kamen, sind Malfoy, Letrange, Crabbe und Goyle sofort desappariert. Die Feiglinge haben ihre Kollegen im Stich gelassen. Ich sah, dass Sie sich nicht am Kampf beteiligten, Severus. Aber leider hat das außer mir auch noch einer der anderen Todesser gesehen. Also musste ich handeln. Er und viele andere haben gesehen, dass Sie von dem Fluch getroffen und verletzt wurden." Dumbledore begann zu stocken. "Es ist noch ein Todesser desappariert, der genau dies Voldemort berichten wird. Er wird allerdings nicht wissen, wer sie verletzt hat und mit welchem Fluch. In diesem Durcheinander ist es nicht möglich gewesen, irgend etwas genau auszumachen. Und keiner wusste, dass ich in der Uniform des Auroren gesteckt habe. Das habe ich einem guten Freund im Ministerium zu verdanken. Sie, Severus, haben jetzt alle Trümpfe in der Hand, um Ihre Stellung bei Voldemort zu festigen. Sie können die Feigheit Ihrer Kollegen für sich ausnutzen. Niemand wird wissen, wie Sie überlebt haben."
Er hielt inne und schaute Severus an. Der reagierte jedoch nicht. Also fuhr Dumbledore fort:
"Severus, es tut mir so Leid! Sie glauben nicht, welche Überwindung es mich kostete, den Fluch auf Sie auszusprechen."
"Doch, Albus. Ich weiß, welche Überwindung so etwas kostet, glauben Sie mir", flüsterte Snape und schloss wieder die Augen.
"Bitte verzeihen Sie mir." Dumbledore senkte den Kopf. Es war eine unbedachte Äußerung.
Severus war völlig erschöpft und sagte müde: "Es war richtig, was Sie getan haben. Einen kurzen Moment dachte ich ..." Dann schlief er augenblicklich ein.
Dumbledore stand auf und holte tief Luft. Noch immer hielt er Severus' Hand in der seinen. "Severus, das Letzte, was ich will, ist Ihnen Schaden zuzufügen, glauben Sie mir." Dann legte er Snape's Hand zurück auf die Decke und ging. Er war froh, dass er dieses Gespräch hinter sich hatte.
Die Ideen von Albus Dumbledore im Hinblick auf die Besetzung der offenen Stellen in Hogwarts waren aus Sicht der anderen Lehrer manchmal schwer verständlich. Jetzt fragte sich der eine oder andere, ob Dumbledore nicht einfach den Verstand verloren hatte.
Es gab zwei freie Stellen im neuen Schuljahr zu besetzen. Verteidigung gegen die Dunklen Künste sollte in diesem Jahr wieder von Remus Lupin übernommen werden. Das artete zwar zu einer regelrechten Eulenschlacht mit dem Zaubereiministerium aus, aber letzten Endes hatte Dumbledore sich durchgesetzt. An dieser Entscheidung hatte auch vom Lehrerkollegium niemand etwas auszusetzen. Lupin war beliebt und zweifelsfrei für dieses Fach bestens qualifiziert.
Für Muggelkunde jedoch hatte Dumbledore dieses Jahr einen Muggel verpflichtet. Der Glaubhaftigkeit wegen. Sagte Dumbledore. Keiner kann Muggelkunde besser unterrichten als ein Muggel selbst. Auch das sagte Dumbledore.
Aber wie sollte ein Muggel in der magischen Welt zurechtkommen? Wie sollte er nach Hogwarts kommen, das von Muggeln nicht erreicht werden kann? Wofür eigentlich der ganze Aufwand, wo es doch genügend Magier und Hexen gab, die unauffällig in der Muggelwelt lebten und diese Stelle genauso gut besetzen konnten?
Darüber sagte Albus Dumbledore nichts. Auf diese Fragen lächelte er nur hintergründig oder er überhörte sie einfach. Er hatte jedoch einen wichtigen Grund für seine Entscheidung, denn er musste ein Versprechen einlösen.
***
Der Abend mit Robert und Ellen war schon lange geplant. Sie hatten ein kleines Häuschen am Stadtrand in einem viktorianischen Viertel gekauft. Alles Geld in den letzten Jahren hatten sie in die Renovierung des alten Hauses investiert. Jede freie Minute hatten sie gebaut, gehämmert, gebohrt, gesägt, gestrichen und was sonst noch nötig war. Es hatte sich gelohnt. Das Haus war mit Abstand das Schönste in der Straße mit seinem vielen kleinen Fenstern, dem verspielten Vorgarten und seiner Bepflanzung mit den verschiedensten Kletterpflanzen, die das ganze Jahr über abwechselnd blühten.
Und jetzt wollten sie mit Cassy zusammen den vorerst letzten Hammerschlag feiern. Robert hatte Rotwein satt gekauft, Grillwürstchen und Weißbrot. Cassy wollte Salat mitbringen. Außerdem einen Schlafsack, denn die Grillabende bei ihren beiden besten Freunden arteten meist in einem Gelage aus, nach dem man sich nicht einmal mehr traute, einem Taxifahrer die eigene Person zur Heimfahrt zuzumuten. Daher übernachtete Cassy immer bei ihnen und am nächsten Morgen spendeten sie sich gegenseitig Trost mit Aspirintabletten und dem geflüsterten, sinnlosen Versprechen, dass das diesmal wirklich das allerletzte Mal gewesen war.
Cassy freute sich auf die Feier. Mit Ellen hatte sie Abende vor dem Fernseher verbracht, wo sie sich gemeinsam einen Schmachtfetzen nach dem anderen reingezogen hatten. Robert überlegte dabei regelmäßig, ob er Rettungsinseln oder Schwimmwesten im Wohnzimmer anbringen sollte oder den Estrich noch einmal mit wasserdichter Farbe nachstreichen, weil sich die beiden Frauen im Wohnzimmer jedes Mal in den Armen lagen und um die Wette heulten. Mit Robert hatte sie immer Bücher ausgetauscht. Er stand genauso auf Fantasy, Science Ficition und gute Spionageromane wie sie. So kam es, dass es wohl zum Beispiel keinen einzigen Perry Rhodan-Band auf der Welt gab, den beide nicht kannten.
Sie saßen in der Abendsonne im Garten zusammen und scherzten und lachten. Es waren noch ein paar Nachbarn gekommen und hatten Steaks und weitere Salate mitgebracht. Alle beglückwünschten Robert zu seiner gelungenen Renovierung. Er musste mehrere Male mit den Gästen durch das gesamte Haus gehen, was er gerne und stolz tat. Einige ließen auch keinen Zweifel daran, dass sie es nicht vermissen würden, wenn Samstags mal keine Bohrmaschine lief oder es nicht hämmerte oder wenn der Hausherr nicht mit Trommelfell zerfetzendem Geschrei wegen einem blutigen Fuß, einer blutigen Hand oder einem Loch im Kopf über das Grundstück hüpfte und die halbe Gegend dabei aufmischte. Dennoch sagte man das Robert mit ironisch-freundlichen Lächeln, denn im Grunde genommen hatten sich die Nachbarn in all den Jahren längst an den Krach gewöhnt und hatten ein sehr gutes Verhältnis untereinander. Und seine fast regelmäßigen Verletzungen brachten auch ein bisschen Leben in ihr ruhiges Viertel. Sie waren das einzig' Aufregende, was es außer den Fernsehmeldungen und Fußball im kleinen Pub an der Ecke zu diskutieren gab.
"Baker hat sich mal wieder einen Daumen abgeschnitten." "War der andere denn schon wieder angewachsen?" So oder ähnlich waren in all den Jahren die Gespräche im Pub gelaufen. Jetzt war erst einmal Schluss damit.
Als die Nachbarn nach und nach gegangen waren, und die Luft abkühlte, gingen Ellen, Robert und Cassy ins Haus und setzten sich ins Wohnzimmer. Draußen aufräumen würden sie morgen. Robert ging in den Keller und rief nach oben: "Ellen! Cassy! Ich habe noch drei Flaschen Edelrood. Die habe ich extra aufgehoben für einen Anlass wie heute. Wollen wir die jetzt vernichten?" Allerdings stand er bereits mit einer Flasche im Arm schon wieder im Wohnzimmer und grinste breit und glücklich.
Sie wärmten alte Zeiten auf und schwelgten in Erinnerungen über ihren gemeinsamen Südafrika-Urlaub, was zwangsläufig bei einem gewissen Quantum Alkohol immer kam. Robert sagte Cassy, dass sie einen Winterurlaub geplant hatten. Der erste Urlaub seit mehr als sechs Jahren und Cassy wollte genau wissen, wo es hin ging. Als die Flasche leer war, bot sie an, in den Keller zu gehen und Nachschub zu holen.
Im Keller hing nur eine dämmrige Funzel. Vielleicht musste Robert sich doch noch einmal handwerklich betätigen und hier eine hellere Birne einschrauben. Eine Kerze war ein richtiges Flutlicht gegen diese dämmrige, im Sterben liegende Lampe, dachte Cassy, als sie versuchte, sich in dem ganzen Gerümpel, das auf dem Boden verstreut lag, nicht den Hals zu brechen.
Dann hörte sie das Splittern von Holz aus dem Erdgeschoss. Sie wollte gerade die Treppe hoch rennen, als mehrere Stimmen durcheinander redeten. Etwas in diesen Geräuschen hielt Cassy davon ab, jetzt unüberlegt zu handeln. Sie spürte Aggression und Gefahr.
Eine Eigenart des alten Hauses war, dass man vom Wohnzimmer aus direkt in den Keller gehen konnte. Der Treppenabgang war mit einer bis zur Zimmerdecke gehenden Holzkonstruktion, die wie ein Spalier aussah abgesichert. Hier hatte Ellen schon im ersten Jahr Kletterpflanzen in verschnörkelte, tönerne Blumenkübel gesetzt, die das Spalier mittlerweile komplett zugewachsen hatten und den Kellerabgang weitgehendst kaschierten.
Man konnte durch die Pflanzenäste hindurchschauen, ohne gesehen zu werden. Cassy hatte sich vorsichtig die Treppe hinaufgeschoben, suchte jetzt eine solche Lücke in den Pflanzen und fand sie auch. Es bot sich ihr eine gespenstige Szene.
Mindestens zwölf Personen mit schwarzen langen Umhängen und Kapuzen hatten sich im Halbkreis um ihre beiden Freunde aufgestellt. Die beiden klammerten sich ängstlich auf der Couch aneinander und schauten sie stumm an. Die Fremden waren nicht zu erkennen. Sie hatten die Kapuzen tief in ihre Gesichter gezogen.
"Was ... was wollen Sie?" hörte sie Roberts panische Stimme.
"Nun, Mr. Fletcher, der Meister mag es gar nicht, wenn man ihn hintergeht", antwortete eine zynische Stimme.
"Mein Name ist Baker. Die Fletchers wohnen nebenan." Unruhe kam in die Reihe der Maskierten.
"Na, Letrange. Deine Recherchen sind ja unglaublich präzise", sagte der größte der Kapuzenmänner sarkastisch. "Dann lasst uns den Amnesiezauber aussprechen und verschwinden."
"Oh, nein, Nummer 2. Der Lord würde nicht damit zufrieden sein, wenn wir sie leben lassen. Auf zwei mehr oder weniger kommt es doch sowieso nicht an."
"Bitte, verschonen Sie uns", hörte Cassy Robert betteln. "Wir werden niemandem erzählen, dass Sie hier waren."
Dann hörte Cassy einen der Kapuzenmänner etwas murmeln und es blitzte. Robert sackte mit offenen Augen und einem erstaunten Ausdruck auf dem Gesicht zusammen. Ellen warf sich über ihn und fing an zu schreien. Sie wusste, dass er tot war.
"Natürlich wirst du niemandem erzählen, dass wir hier waren", sagte die Stimme, die den Blitz abgefeuert hatte. Die anderen Kapuzenmänner lachten gehässig.
"Lucius", zischte die Nummer 2, der wohl der Anführer war. "Was sollte das. Du wirst dem Lord erklären müssen, warum du meinen Befehlen nicht gehorchst."
"Und du wirst ihm erklären müssen, warum du einen dreckigen Muggel verschonen willst", zischte der mit Lucius Angesprochene zurück.
"Und jetzt zu dir", herrschte Lucius Ellen an. Ellen drückte sich von der Couch in Richtung Wand zur Kellertreppe. Unwillkürlich änderte Cassy ihren Standort und kam die Treppe ein wenig höher. Vielleicht konnte sie Ellen doch noch helfen.
Die Kapuzenmänner folgten ihr. Ellen konnte Cassy sehen, schaute aber sofort wieder geradeaus, um die Kapuzenmänner nicht auf sie aufmerksam zu machen. Ellen wusste, dass sie nicht überleben würde. Es gab keinen gemeinsamen Winterurlaub mehr mit Robert und die Renovierung des Hauses würde sie auch nicht mehr genießen können. Sie würde sterben. Aber Cassy konnte leben.
Der Kapuzenmann mit Namen Nummer 2 kam jetzt fast neben Cassy auf der anderen Seite des Spaliers zum Stehen und blickte auf Ellen, die sich an die Wand gedrängt hatte und deren Blick gehetzt vom einen zum anderen ging. Cassy konnte sein Gesicht sehen durch das Pflanzenspalier.
"Wollen wir noch ein wenig Spaß haben?" fragte Lucius Ellen in diesem Moment mit einem gemeinen Grinsen und ging einen Schritt auf sie zu. Diese schüttelte wild den Kopf und hob abwehrend die Hände. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu.
"Wie? Nein? Du weißt ja gar nicht, was für eine Ehre dir zu Teil wird!" schrie Lucius sie fast hysterisch an. Er wollte gerade den Holzstab heben und Ellen ein wenig mit dem Cruciatus-Fluch quälen, als Nummer 2 sich einmischte.
"Es reicht jetzt, Lucius", herrschte Nummer 2 ihn an. Der zuckte zurück.
"Ich werde sie mit dem Amnesiezauber belegen und wir gehen", sagte Nummer 2 zu Lucius.
"Bist du noch ganz bei Trost? Hast du heute dein Gehirn zu Hause gelassen?" Lucius spuckte beim Sprechen, so regte er sich auf. "Ihr Mann ist tot. Und sie muss auch sterben. Was ist heute mit dir los? Es macht dir doch sonst nichts aus, jeden verdammten Muggel umzubringen, der dir unter die Finger kommt. Ich werde dem Lord berichten, was hier vorgefallen ist. Es sei denn, du tötest sie jetzt. Dann werde ich sagen, dass wir den Auftrag wie gehabt ausgeführt haben." Damit trat er einen Schritt näher an Nummer 2 heran und sah ihn herausfordernd an.
Als der sich wieder umdrehte zu Ellen, konnte Cassy sein Gesicht sehen. Es hatte einen tief gequälten Ausdruck, als er einen Holzstab aus seiner Tasche zog und ihn auf Ellen richtete. Die Anderen konnten sein Mienenspiel nicht sehen, weil er die große Kapuze tief in sein Gesicht gezogen hatte. Eine Fülle von Gefühlen zog über sein Gesicht. Verzweiflung, Qual, Hilflosigkeit. Er schloss für einen kurzen Moment seine Augen. Cassy konnte nicht fassen, was sie sah. Dieser Mann war kein Mörder. Er versuchte Ellen zu retten, aber er hatte keine Chance.
Er hob den Holzstab und flüsterte: "Avada Kedavra!" Ein grüner Blitz schoss aus dem Stab und traf Ellen. Mit einem letzten Blick auf Cassy und einem Lächeln starb sie.
Im gleichen Augenblick gab es Tumult an der Türe. Mehrere Personen mit seltsamen Uniformen kamen die Tür herein, schrieen, die Anwesenden sollten sich ergeben und fingen an, alle möglichen farbigen Blitze abzuschießen. Das Licht ging aus. Es gab Durcheinander und Geschrei. Man konnte den einen vom anderen nicht mehr unterscheiden und immer mehr Personen fielen auf den Boden und stöhnten verletzt oder waren tot. Und zweimal zog Cassy den Kopf im letzten Augenblick ein, als ein solcher Blitz durch einen Gegenstand abgelenkt wurde und in ihre Richtung schoss.
Die Nummer 2 lehnte jetzt an der Wand der Kellertreppe, wo auch Ellen lag. Cassy hatte hielt den Atem an, dass er sie bemerken würde. Sie hatte außer der Dunkelheit des Kellertreppenflures keinerlei Schutz. Ganz langsam drücke sie sich an die dunkle Treppe. Er beobachtete den Kampf aufmerksam, aber er beteiligte sich nicht daran.
***
Der Blitz traf ihn unvorbereitet und genau von vorne. Sein Holzstab flog im hohen Bogen die Kellertreppe herunter und verschwand unten in dem am Boden liegenden Gerümpel, während er mit einem ungläubigen Ausdruck auf dem Gesicht fasste er sich an die Brust. Während er langsam die Wand hinunter zu Boden sackte, hinterließ seine Hand eine breite blutige Spur.
Cassy hielt sich die Hand vor den Mund um ihren Schrei zu unterdrücken. Instinktiv reagierte sie. Sie musste ihm helfen. Es gab schon zu viele Tote.
Vorsichtig schlich sie an der Wand entlang die Kellertreppe hinauf. Der Mann war offensichtlich bewusstlos. Sie packte ihn am Kragen seiner schwarzen Kutte und zerrte den leblosen Körper die Treppe hinunter in den dunklen Keller. In dem Durcheinander der Kämpfenden, Blitze und Schreie nahm niemand Notiz von ihr. Sie hatte noch nicht verstanden, wer hier gegen wen kämpfte, aber zweifellos würde man den Bewusstlosen umbringen, je nach dem, wer ihn fand. So wie man es mit Robert und Ellen getan hatte.
Unten angekommen, suchte sie fieberhaft nach einem Versteck. Dann sah sie die Schaufensterpuppe, die Ellen einmal geschenkt bekommen hatte. Jedes mal, wenn sie zu Besuch kam, hatte sie sich vor diesem Ding erschreckt, wie es hinter der Eingangstür stand und durch die Klamotten und die Perücke beinahe lebensecht wirkte.
Sie öffnete mit fliegenden Fingern den Kapuzenumhang des Mannes und zog ihn von seinem Körper. Dabei ging sie nicht gerade sanft mit dem Verletzten um. Er stöhnte. Keine Zeit für Rücksicht. Sie wusste nicht, wie viel Zeit ihr bleiben würde, bis die Verrückten dort oben bemerken würden, dass es auch einen Keller gab. So zog sie den Umhang hastig über die Schaufensterpuppe und drapierte sie so zwischen das überall herumliegende Kellergerümpel, dass es aussah, als wäre der Körper die Treppe hinabgestürzt. Dann drehte sie der Puppe den Kopf in einen für einen Menschen sehr ungesunden Winkel und deckte ihn mit der Kapuze zu. Immer wieder sah sie ängstlich und gehetzt die Treppe hinauf. Sie bemühte sich, schnell alle Flächen, die offensichtlich zeigten, dass es sich nicht um einen Menschen handelte, zuzudecken. Es sah jetzt aus, als wäre der Mann die Treppe heruntergefallen, auf dem Bauch zum Liegen gekommen und hätte sich den Hals gebrochen. Sie konnte sich nicht vergewissern, ob alles echt aussah, denn sie musste sich und den schwarzhaarigen Mann verstecken.
Ihr Blick fiel auf den Schrank unter der Treppe. Nein. Zu einfach. Aber es blieb einfach keine Zeit mehr. Die Kampfgeräusche hatten sich verändert. Sie waren ruhiger geworden. So zerrte sie den Bewusstlosen durch die Tür in das Schränkchen. In dem Schrank lag eine zusammengeknüllte Plastikplane. Ellen und Robert benutzten sie immer zum Abdecken der Möbel, wenn sie renovierten. Endlich hatte sie es geschafft, den Bewusstlosen so in den Schrank unter die Plane zu bekommen, dass sie seinen Oberkörper zu sich ziehen und ihn im Arm halten und stützen konnte. Sie bemühte sich hektisch, seine langen Beine unter der Plane in eine angewinkelte Stellung zu bekommen und zerrte mit letzter Kraft die Schranktüre zu.
"Hier geht es in den Keller!" schrie eine Stimme in diesem Moment von oben. Cassy hörte mehrere Personen die Treppe heruntertrampeln. Sie hielt die Luft an und betete, dass der Bewusstlose jetzt nicht stöhnte und sie verriet. "Schaut nach, ob sich noch jemand versteckt hat. Ich möchte jeden einzelnen dieser Schweine in Askaban sehen!"
"Oh, Mann. Der hier braucht nicht mehr nach Askaban. Der hat Glück," hörte sie jemand anderen sagen. "Genickbruch," stellte ein Dritter fest. "Kein Wunder, wenn er die steile Treppe runtergefallen ist." "Dreh' ihn mal um, ich will sehen, wer es ist."
"Fassen Sie ihn nicht an," befahl eine ruhige Stimme. Es kam noch eine einzelne Person die Treppe herunter. "Keiner bewegt ihn. Die Säuberungsabteilung wird gleich hier sein und sich um alles Weitere kümmern. Gehen wir."
Cassy hielt den ohnmächtigen Mann noch immer fest an sich gedrückt. Als die Schritte sich langsam entfernten, entspannte sie sich ein wenig und lockerte den Griff um seinen Körper. Dabei sackte der Bewusstlose ein wenig zusammen und sein Kopf fiel auf ihre Brust.
"Was mache ich denn jetzt mit dir?" fragte Cassy leise und verzweifelt und streichelte ihm mit einer hilflosen Geste über die schwarzen langen Haare. Durch sein dünnes Hemd fühlte sie, dass er unnatürlich kalt war und zitterte. Sie zog ihn wieder fester an sich und begann seinen Rücken feste zu reiben, um seine Blutzirkulation in Gang zu bringen und ihn zu wärmen. Dabei redete sie leise und beruhigend auf ihn ein. Sein Atem ging stoßweise und unregelmäßig. Hin und wieder stöhnte er, aber er erwachte nicht. Sie überlegte fieberhaft, was sie jetzt tun sollte. Dieser Krach konnte der Nachbarschaft doch nicht entgangen sein. Sicher würde die Polizei gleich hier sein. Sie beschloss, noch ein wenig zu warten, bevor sie aufstand.
Und dann wurde ihr die groteske Situation mit einem Schlag bewusst. Ellen und Robert waren tot. Sie hielt den Mann in den Armen, der Ellen getötet hatte.
Der Schock kam unbarmherzig. Cassy fing an zu weinen. Sie wollte nicht, aber sie konnte es nicht zurückhalten. Trockene Schluchzer schüttelten sie immer heftiger und in ihrem Innern fühlte sie eisige Kälte, die ein unkontrolliertes, heftiges Zittern in ihrem ganzen Körper auslöste. Sie war unfähig, den Mann loszulassen, unfähig mit ihren Bemühungen aufzuhören, ihn zu wärmen.
Was sollte sie auch sonst machen? Sie musste ihn wärmen. Ellen und Robert waren tot. Er hatte Ellen getötet Aber er wollte es nicht. Sie hatte sein gequältes Gesicht gesehen.
In ihrem Kopf jagten die Gedanken im Kreis. Wie eine Endlosschleife.
Ellen und Robert waren tot. Er hatte Ellen getötet. Aber er wollte es nicht. Sie musste ihn wärmen. Er war doch so kalt.
Sie wiegte ihren Oberkörper mit geschlossenen Augen sachte vor und zurück, um das innere Zittern zu beruhigen. Es war eine völlig bizarre Situation. Cassy klammerte sich an den Bewusstlosen, als wäre er das lebensrettende Stück Treibholz im Ozean ihrer Verzweiflung. Seine Nähe war im Moment alles, was sie tröstete. Er war das lebende Zeugnis dafür, dass sie keinen Alptraum hatte. Die Barrieren, die das Erlebte in ihrem Kopf auf Distanz gehalten hatten, brachen nach und nach. Verzweifelt versuchte ihr Bewusstsein, die aufkommenden Bilder zurückzudrängen. Aber es gelang nicht. In der langsamen Erkenntnis des Ausmaßes des Erlebten, schrumpfte die ganze Welt für Cassy auf einmal auf die Fläche zusammen, die sie und der Bewusstlose hier beanspruchten. Niemand war da. Niemand hörte sie. Niemand half ihr. Sie war alleine.
Sie wusste nicht, wie lange sie dort gesessen und geweint hatte. Stunden? Minuten? Es spielte auch keine Rolle. Ellen und Robert waren tot. Sie hielt den Mann in den Armen, der Ellen getötet hatte. Sie wollte ihn hassen.
"Hallo! Wo sind Sie?" Wie von ferne hörte sie eine ruhige Stimme. Cassy sah auf, gab aber keine Antwort. Kalte Angst machte sich in ihr breit. Sie änderte vorsichtig die Sitzposition, um sich besser auf die Geräusche und die Stimme konzentrieren zu können. Dabei stöhnte der Mann wieder.
"Hallo! Sie brauchen keine Angst zu haben. Bitte sagen Sie mir, wo Sie sind." Cassy dachte gar nicht daran zu antworten. Wenn sie jetzt doch noch sterben müsste, dann wollte sie es ihrem Mörder nicht zu einfach machen. Atemlos hörte sie, wie langsame Schritte die Treppe herunter kamen. Cassy war sich sicher, dass dieser Mensch alleine war.
Sie hörte ihn im Keller herumgehen und ab und zu raschelte es. Dann blieb er vor dem kleinen Schrank stehen.
"Ich weiß, dass Sie in diesem Schrank unter der Treppe sitzen. Bitte haben Sie keine Angst. Ich werde jetzt die Tür öffnen."
Die Tür knarzte ein wenig und jemand zog die Plane von ihr und dem Bewusstlosen weg. Ein fingerdicker Lichtstrahl fiel auf ihr Gesicht und blendete sie. Sie konnte den anderen nicht sehen.
"Oh, mein Gott," hörte sie die ruhige Stimme bestürzt sagen. "Sind Sie verletzt?" "Kommen Sie, ich nehme Ihnen Snape ab." Sie bemerkte, wie zwei kräftige Hände den Bewusstlosen sachte von ihr wegziehen wollten. Nein. Nicht wegnehmen. Sie klammerte sich an ihn. Er war ihr Halt. Wenn er weg war, war sie völlig schutzlos.
"Sie haben einen Schock. Bitte lassen Sie den Mann los, damit ich ihn untersuchen kann. Und damit ich mich auch um Sie kümmern kann." Die Stimme redete beruhigend auf Cassy ein. Doch Cassy hielt den Bewusstlosen panisch fest. Sie hörte die Worte des Mannes, verstand aber ihren Sinn nicht.
"Lassen Sie ihn bitte los. Es ist alles vorbei. Er braucht dringend einen Arzt, sonst haben wir vielleicht noch einen Toten mehr."
Jetzt kam Bewegung in Cassy's Gehirn. Sie lockerte den Griff und ihr Denken kehrte ganz langsam und widerstrebend in die Gegenwart zurück. Sie ließ die Arme kraftlos sinken und gab ihn frei. Behutsam zog der Mann den Bewusstlosen aus dem Schrank, beugte sich sofort über ihn und untersuchte ihn mit geschickten Fingern.
Cassy konnte nicht aufstehen. Ihre Beine waren durch die unnatürliche Haltung und durch das Gewicht des Bewusstlosen eingeschlafen. Der Mann kam kurz darauf erneut in den Schrank, half ihr aufzustehen und führte sie langsam heraus. Sie fühlte augenblicklich, wie das Blut wieder zu zirkulieren begann, und das typische unangenehme Stechen und Prickeln setzte ein. Sie ging langsam hin und her, damit dieses Gefühl nachließ.
Ihr "Retter" trug einen dunkelblauen Umhang, hatte lange weiße Haare und einen noch längeren Bart. Hinter seiner Halbmond-Brille funkelten blaue, wachsame Augen, die allerdings im Moment sehr sorgenvoll auf den am Boden liegenden Bewusstlosen schauten.
Jetzt konnte sie auch zum ersten Mal den Bewusstlosen richtig ansehen. Er war groß und schlank. Seine Haut war ungesund blass und er hatte rabenschwarze, schulterlange Haare, die sehr ungepflegt aussahen.
"Sind Sie in Ordnung?" fragte der alte Mann sie noch einmal mit einem Blick auf ihren Pullover. Ohne eine Antwort abzuwarten, kniete er sich wieder neben den am Boden liegenden Mann. Erst jetzt sah Cassy, dass sie über und über mit Blut beschmiert war. Erschreckt tastete sie sich ab. Aber ihr schien nichts zu fehlen. Es musste das Blut des Ohnmächtigen sein.
Der alte Mann sah kurz auf und sagte: "Mein Name ist Albus Dumbledore." Dabei knöpfte er dem Bewusstlosen das zerrissene und völlig durchblutete Hemd auf und untersuchte vorsichtig Brust und Rippen. Eine tiefe Fleischwunde zog sich von der Schulter über die Brust. Überall waren Blutergüsse und Schürfwunden.
"Cassy Parker," sagte Cassy heiser. Sie besah sich die Wunde und ihr Schock wich dem Instinkt zu helfen. "Ich hole einen Verbandskasten. Wir müssen die Blutung stoppen." Mit diesen Worten wandte sie sich zur Treppe. Doch dann fiel ihr der Verbandskasten in der Heizung ein, den Robert dort angebracht hatte, weil er sich mit seinen beiden linken Händen regelmäßig beim Heizung säubern in die Finger schnitt oder sich sonst irgend eine Verletzung beibrachte. Sie verscheuchte die Erinnerung, die sich schmerzhaft aufdrängen wollte, wie ein lästige Fliege und holte schnell den Kasten. Gemeinsam mit Albus Dumbledore machte sie sich daran, den Verletzten zu säubern und zu verbinden. Aus irgendwelchen Gründen war die funzelige Lampe im Keller wesentlich heller, als Cassy das in Erinnerung hatte. Wahrscheinlich hatten ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt.
"Wie ist sein Name?" fragte Cassy, während sie beide arbeiteten.
"Severus Snape."
***
Noch während sie Snape versorgten, kamen andere Männer und werkelten im Erdgeschoss herum. Dumbledore bedeutete ihr, leise zu sein und ging nach oben. Sie hörte, wie er den Männern sagte, dass sie nicht in den Keller kommen sollten. Er wäre dort noch mit verschiedenen Aufräumarbeiten beschäftigt, die sie nichts angingen.
Cassy saß vor einer alten Couch, auf der der notdürftig verarztete Snape noch immer bewusstlos lag. Dumbledore hatte ihm irgendwelche roten Tropfen eingeflößt und nach und nach hatte Snape sich entspannt und begonnen ruhiger zu atmen. Er schien zu schlafen. Sie hatten ihn in eine dicke, frische Decke aus der Waschküche eingewickelt, damit er nicht fror. Sie hörte die Männer oben gedämpft reden und auf einmal wurde Cassy schmerzlich bewusst, dass dort auch noch immer Ellen und Robert liegen mussten. "Kann ich mich wenigstens von meinen Freunden verabschieden?" fragte sie Dumbledore flüsternd mit brechender Stimme. Er schüttelte den Kopf und gab leise zurück: "Glauben Sie mir. Es ist zu Ihrer eigenen Sicherheit, wenn niemand weiß, dass Sie und er", damit zeigte er auf Snape, "überlebt haben."
Dann gingen die Leute und es wurde wieder ruhig. Augenblicklich löste sich Dumbledore vom Treppengeländer und kam auf sie zu.
Auf einmal fiel es Cassy wie Schuppen von den Augen. Als Albus Dumbledore am Geländer stand und sicherstellte, dass niemand von oben kam, hatte er auch so einen Holzstab in der Hand, wie die Männer, die Ellen und Robert getötet hatten. Sie bekam wieder Angst. Würde er sie doch noch töten? Nein. Das hätte er längst tun können. Argwöhnisch schaute sie ihn an.
"Sie trauen mir noch immer nicht?" deutete Dumbledore lächelnd ihren Blick.
"Wer sind Sie wirklich?" fragte Cassy ihn und blickte ihm fest in die Augen. Sie stand auf und brachte ein paar Schritte Abstand zwischen den alten Mann und sich. "Und was ist heute hier passiert? Sie wissen es. Warum mussten meine beiden besten Freunde heute sterben?" Dabei musste sie sich sehr zusammennehmen, denn eine eiskalte Wut erfasste sie im Moment, wo sie glaubte, dass auch Dumbledore dafür verantwortlich war.
Der hatte sich gerade einen alten wackeligen Stuhl aus dem Gerümpel herbeigezogen und ließ sich mit einem tiefen Seufzer vertrauensvoll auf ihn fallen. Er hielt.
"Erzählen Sie mir, was heute hier vorgefallen ist," bat er sie, ohne auf ihre Fragen einzugehen.
"Nein," sagte Cassy mit fester Stimme. "Erst beantworten Sie meine Fragen."
Sie blickte ihn abwartend an. Dumbledore rührte sich jedoch nicht. Er überlegte kurz, ob er das verantworten könne. Als er nichts sagte, wurde sie misstrauisch. Der Holzstab des bewusstlosen Snape war doch die Treppe runtergeflogen, als ihn der Blitz traf, der ihn so schwer verletzt hatte. Sie wollte Dumbledore nicht schutzlos gegenübersitzen und fing an in dem Gerümpel nach dem Stab zu suchen.
"Was tun Sie da?" fragte er erstaunt mit hochgezogenen Augenbrauen.
In diesem Augenblick sah sie den Stab. Sie hob ihn auf und richtete ihn auf Dumbledore. Der hatte sie die ganze Zeit über interessiert beobachtet. Jetzt konnte sie ein amüsiertes Lächeln auf seinem Gesicht feststellen.
"Ich weiß ja nicht, wie Sie das mit den Blitzen machen, aber ich denke, es wird nicht so schwierig sein," fauchte Cassy und fuchtelte mit dem Stab vor seinem Gesicht herum.
"Sie sollten ihn wenigstens richtig herum halten, wenn Sie mich schon damit bedrohen wollen. Im Moment würden Sie vor allen Dingen sich selbst verletzen," lächelte der alte Mann. Er streckte auffordernd die Hand aus. "Geben Sie den Stab her, bevor Sie sich oder mir noch ein Auge ausstechen. Ich werde versuchen, Ihre Fragen so schnell wie möglich zu beantworten", sagte er mit einem Blick auf Snape.
Cassy überlegte einen Moment und übergab ihm resignierend seufzend das Stück Holz. Dann setzte sie sich wieder auf ihren Platz vor der Couch. Dumbledore begann zu erzählen. Da er sich große Sorgen um den verletzten Snape machte, versuchte er seine Geschichte so kurz wie möglich zu fassen. Er berichtete mit knappen Worten. Von Hogwarts. Von der Magierwelt. Von Voldemort. Von der aktuellen Bedrohung. Er erklärte ihr, wer die Todesser waren und auch, welche Aufgabe Snape hatte. Dass Robert und Ellen sterben mussten, war ein Versehen. Die Todesser sollten eigentlich die Nachbarn in der kleineren Hausnummer umbringen.
Cassy hatte jedes Gefühl für Zeit verloren. Sie hing an Dumbledores Lippen und konnte nicht glauben, was sie hörte. Als er einmal seinen Zauberstab hob, um seine Geschichte mit einer Demonstration zu untermauern, sprang Cassy schreiend auf und bewarf ihn mit dem nächstbesten Gegenstand, den sie greifen konnte - einer Schuhbürste. Dumbledore reagierte blitzschnell. Er zielte auf die Schuhbürste und murmelte etwas. Aus dem Holzstab kam diesmal kein Blitz, sondern es regneten hellblaue Funken auf die Bürste und sie blieb im Flug in der Luft stehen, als würde sie auf einem unsichtbaren Regal liegen. Er stand auf und nahm die Bürste einfach aus der Luft.
"Jetzt wissen Sie das Nötigste. Und jetzt möchte ich genau wissen, was heute hier vorgefallen ist," schloss Dumbledore seine Geschichte und übergab ihr die Schuhbürste. Snape stöhnte kurz auf und bewegte sich etwas, dann schlief er weiter.
Cassy sah Dumbledore an und fragte sich, warum er ihr alles erzählt hatte. Selbst mit diesen rudimentären Informationen war sie doch eigentlich ein Sicherheitsrisiko.
Dann begriff sie. Sie würde es morgen einfach nicht mehr wissen. Ein Blitz aus diesem Zauberstab und sie würde nicht einmal mehr wissen, wie ihre Freunde hießen. Was hatte dieser Snape gesagt? 'Lasst uns den Amnesiezauber aussprechen und verschwinden'. Eine Amnesie. Totales Vergessen. Wie neugeboren in einer fremden Welt aufwachen. Völlig orientierungslos. Das kam überhaupt nicht in Frage. Aber es eröffnete sich eine neue Perspektive für sie, wenn das, was Dumbledore ihr erzählt hatte, wirklich stimmte. Sie wollte diese Welt kennen lernen. Dieser Gedanke hatte sich schon während der Erzählung des älteren Mannes in ihrem Gehirn eingenistet und er wuchs. Nein. Er wucherte. Alles war anders und verworren an diesem Abend. Oder war es doch schon Morgen? Aber so klar, wie der Wunsch, ihr Leben nach dem heutigen Tag zu ändern, war ihr selten etwas in der Vergangenheit gewesen. In ihrem Job lief jeden Tag monoton das Gleiche ab. Sie hatte es schon lange so richtig satt. Hier bot sich ihr eine einmalige Chance, etwa Neues, Aufregendes zu erleben, ihr Denken und Wissen zu erweitern. Cassy wollte diese Chance ergreifen.
"Ist es denn für Sie so wichtig, was hier passiert ist?" fragte sie lauernd. "Meine Freunde sind tot und Ihren Spion habe ich gerettet. Das ist die Zusammenfassung."
Dumbledore schaute sie mit schief gelegtem Kopf an. Das Mädchen war nicht dumm. Sie führte etwas im Schilde.
"Also? Was wollen Sie?" fragte er sie direkt. In seiner Stimme hörte man Ärger und Ungeduld. Er wollte Snape schnellstens in ärztliche Obhut geben.
"Ich möchte Ihr Versprechen, dass Sie mir nicht meine Erinnerungen nehmen. Dass sie nicht den Amnesiezauber über mich aussprechen", fügte sie fachmännisch hinzu. "Ellen und Robert waren die liebsten Menschen, die ich auf der Welt hatte. Ich möchte sie nicht vergessen. Und ich möchte mir Hogwarts anschauen. Ihre Welt kennen lernen. Da Ihnen - wie Sie selbst erzählt haben - gerade der Lehrer für Muggelkunde abhanden gekommen ist, wäre ich der ideale Ersatz. Ich habe Erfahrung im Unterrichten und keiner kennt sich in Muggelkunde so gut aus, wie ein Muggel." Sie schwieg einen Moment und wiederholte dann: "Und denken Sie daran, dass Ihr 007 hier ohne mich nicht mehr leben würde."
Dumbledore dachte nach.
"Wir können voneinander lernen, Mr. Dumbledore. Vielleicht finden Sie in unserer Zusammenarbeit etwas, das Ihnen einen Vorteil gegenüber diesem Moldevort oder wie er heißt, bringt," setzte Cassy nach. Sie rieb nachdenklich mit den Borsten der Schuhbürste über eine juckende Stelle an ihrem nackten, blutverschmierten Arm und hinterließ einen hässlichen schwarzen Streifen Schuhcreme auf der Haut.
Was hatte sie sich eigentlich gerade dabei gedacht, fragte sie sich. Vor wenigen Stunden hatte sie in einem makabren und irrealen Chaos ihre Freunde verloren und war wahrscheinlich selbst nur knapp dem Tod entkommen. Jetzt dachte sie darüber nach, die Welt zu retten? Sie schien ein erhebliches Stück ihres Verstandes an diesem Tag eingebüßt zu haben. Wo blieb ihr Sinn für Realität? Konnte man den eigentlich noch haben, nach einem solchen Erlebnis?
Snape stöhnte wieder und bewegte sich. Sie blickte auf sein Gesicht. Sie mochte dieses Gesicht. Seit sie aus dem Schrank heraus war, wurde ihr Blick immer und immer wieder - wie magisch - von ihm angezogen. Und jedes Mal hatte sie das gute Gefühl, etwas richtig gemacht zu haben, dass sie sein Leben rettete - aber noch war er nicht außer Lebensgefahr. Das wusste sie, als sie die Wunde gesehen hatte. Ihre Gedanken entglitten ihr wieder zu ihren Freunden.
Ellen und Robert waren tot. Er hatte Ellen getötet. Aber er wollte es nicht. Sie konnte ihn nicht hassen.
Langsam hob sie die Hand und strich mit einer sanften Geste eine widerspenstige Strähne seines rabenschwarzen Haares aus seiner Stirn, während ihr wieder die Tränen über das Gesicht liefen.
Als Dumbledore diese gedankenverlorene Geste sah, rührte ihn etwas an. Er konnte später nicht mehr sagen, was es war, aber es beschleunigte seine Entscheidung. Er würde dieses Experiment durchführen.
"Ich freue mich, Sie als neue Lehrkraft in Hogwarts begrüßen zu dürfen," sagte er freundlich und setzte gleich hinzu: "Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass Sie Ihre Erinnerungen behalten werden."
Cassy sah ihn lächelnd an.
Sie holte tief Luft und begann stockend die Vorkommnisse dieses unwirklichen Nachmittags zu schildern. Die Bilder hatten an Grauen nichts verloren, aber sie bemerkte, wie sich der Druck auf ihrer Seele zusehends verminderte, je mehr sie erzählte. Es half ihr, ihre noch immer auf Hochtouren rotierenden Gedanken zu beruhigen und die Ereignisse zu verarbeiten. Dumbledore hörte aufmerksam zu. Snape stöhnte jetzt öfter und wurde zusehends unruhiger. Er musste höllische Schmerzen haben. Dumbledore warf ihm sorgenvolle Blicke zu. Aber er musste erst den Bericht dieses Vorfalles abwarten. Snape konnte es ihm diesmal nicht erzählen.
Als sie erschöpft geendet hatte, schaute sie Dumbledore an. "Ich bin auf einmal so müde", sagte sie erstaunt und gähnte.
Dumbledore holte einen alten Socken aus seiner Tasche, richtete Snape vorsichtig auf und hielt ihn fest. Dann erklärte er Cassy die Verwendung eines Portschlüssels. Eigentlich war es ihr egal, wie es funktionierte. Sie begriff es sowieso nicht mehr. Sie war todmüde und wollte nur nach Hause und schlafen. Er gab ihr die Flasche mit dem roten Mittel mit und schärfte ihr ein, nicht mehr als drei Tropfen davon zu nehmen, sobald sie merkte, dass das Erlebte ihr die Ruhe oder den Schlaf nehmen würde.
"Erzählen Sie niemandem, was Sie heute hier gesehen haben. Es wird Ihnen sowieso niemand glauben, weil Ellen und Robert Baker niemals existiert haben." Dumbledore sah sie ernst an. "Ich werde mich in Kürze bei Ihnen melden und wir werden Ihren Aufenthalt in Hogwarts besprechen."
"Und Sie erzählen Mr. Snape nichts von mir. Wenn ich nach Hogwarts komme, will ich ihn unvoreingenommen kennen lernen."
"Sie können sich auf mich verlassen. Er ist jemand, der einem Anderen nicht gerne etwas schuldet. Ihre Bitte kommt mir daher sehr entgegen." Dumbledore grinste bei dem Gedanken, was Snape sagen bzw. tun würde, wenn er wüsste, dass eine Muggel ihm das Leben gerettet hatte, aber noch war der Zaubertränkemeister nicht über den Berg.
Sie reichten sich die Hände und im Verschwinden hörte Cassy Dumbledores Stimme:
"Wer ist eigentlich 007?"
***
Der Portschlüssel brachte Cassy nach Hause und Dumbledore apparierte mit dem schwer verletzten Snape im Arm direkt vor das Tor von Hogwarts. Remus Lupin hatte bereits einige Stunden im Halbschatten unter einem großen Baum gewartet und sich von Stunde zu Stunde größere Sorgen gemacht. Im Schloss schliefen alle. Keiner hatte von dem nächtlichen Ausflug etwas bemerkt.
"Was ist passiert?" fragte er mit einem sorgenvollen Blick auf Severus, der wie eine Mumie in die Decke eingehüllt war und dessen blasse Haut jetzt so hell war, als wäre sie aus Porzellan.
"Ich musste seine Anwesenheit glaubhaft machen", gab Dumbledore dumpf zurück. Lupin schaute ihn verständnislos an, fragte aber nicht weiter.
Sie beschworen eine magische Trage herauf und betteten Snape vorsichtig darauf. Noch nie in seinem Leben hatte Dumbledore sich mehr gewünscht, dass man in Hogwarts apparieren konnte. Mit jedem Schritt, den sie Richtung Schloss rannten, hatte er das Gefühl, dass das Leben Severus Snape einen Schritt mehr verließ. Wie viele Schritte blieben ihm noch? Er hatte die Wunde im Keller nicht magisch schließen können. Dazu war der Zauber, der sie verursacht hatte, zu stark.
Bei Madam Pomfrey angekommen, legten sie Snape vorsichtig auf ein Bett. Sie wickelten ihn gemeinsam aus den Decken. Er stöhnte und warf den Kopf hin und her. Als die Heilerin die Wunde sah, zog sie scharf die Luft ein und fragte Dumbledore: "Wie ist das passiert? Ist das ein Fluch? Wissen Sie welcher?"
Dumbledore informierte sie in knappen Sätzen und sagte ihr auch, dass jemand sich notdürftig um Snape gekümmert hatte, bis er bei ihm war. Mit einem kurzen Blick gab sie Dumbledore und Lupin zu verstehen, dass sie alleine sein wollte. Dann begann Madam Pomfrey mit ihrer Arbeit.
Albus ließ sich müde und schwer auf einen Stuhl in Madam Pomfreys Büro fallen und erzählte Remus unaufgefordert alles haarklein. Remus hörte konzentriert zu und unterbrach den Schulleiter nicht.
Zum Schluss stand er auf, legte Dumbledore die Hand auf die hängenden Schultern und sagte: "Du konntest nichts anderes tun. Du hast wahrscheinlich seine Tarnung gerettet. Und denk nach: Severus lebt. Und das ist das Wichtigste im Moment überhaupt."
Dumbledore nickte. Er schloss für einen Moment erschöpft die Augen und ging dann zu Poppy, um sie zu fragen wie es um Snape stünde.
Gerade war sie mit der letzten Beschwörung fertig und hatte die Wunde verschlossen. Als sie Dumbledore kommen sah, sagte sie: "Er hat eine Menge Blut verloren. Aber wer auch immer die Wunde zusammengehalten und dafür gesorgt hat, dass er nicht auskühlt, hat ihm wahrscheinlich das Leben gerettet. Allerdings müssen wir die nächsten 48 Stunden abwarten."
"Albus" hörte Dumbledore eine schwache, flüsternde Stimme. Snape war aufgewacht.
"Warum haben Sie das getan?" fragte er heiser und schaute Dumbledore unverwandt an. Sein hilfloser Blick, der leise Vorwurf und das fast kindliche Vertrauen, das er darin lesen konnte, machten Dumbledores Schuldgefühle nur noch schlimmer.
"Bitte, Severus", sagte er leise und erschüttert. "Bitte, schlafen Sie und ich beantworte alle Ihre Fragen, wenn Sie aufgewacht sind."
Severus schloss gehorsam die Augen und schluckte trocken. Dann gab Poppy ihm den Schlaftrank. Damit würde er jetzt mehrere Tage schlafen. Sich erholen. Oder sein Körper würde sich weigern, weiterzuarbeiten. Dann würde Severus nicht merken, wenn er für immer einschlief.
Dumbledore presste seine brennenden Augen zusammen, nahm kurz die Brille von der Nase und rieb sich mit Zeigefinger und Daumen die Nasenwurzel. Dann setzte er die Brille wieder auf und verließ mit Lupin zusammen die Krankenstation. An Schlaf war, trotz seiner Erschöpfung nicht zu denken. Severus' Blick brannte in seinem Gedächtnis.
"Remus? Hast Du noch Lust auf einen Cognac? Den brauche ich heute dringend."
Lupin wollte Albus jetzt nicht gerne alleine lassen, obwohl er fast im Stehen einschlief. Er nickte. "Warum nicht." Er sah Dumbledores dankbares Gesicht und beide Männer gingen mit müden Schritten in das Büro des Schulleiters.
***
Der Wecker klingelte schrill und heftig. Cassy versuchte verschlafen das Krawall machende Haushaltsgerät zu beruhigen, aber sie fand den Knopf im Dunkeln nicht. Dann war sie schlagartig wach, fingerte nach dem Licht und knipste es an. Sie versetzte dem Wecker mit der flachen Hand einen ungeduldigen Schlag, dass er endlich verstummte. Ein entsetzlicher Traum. Sie wollte sich mit ihren Händen durch das Gesicht fahren, stutzte aber, als sie auf ihrem Arm Schmutz und einen schwachen schwarzen Streifen feststellte. Wie Schuhcreme. Nein. Sie würde jetzt Ellen anrufen und ihr sagen, dass sie definitiv keinen Alkohol mehr trinken würde, da das Delirium anscheinend immer realistischer wurde. Wie war sie eigentlich heimgekommen?
Aber sie hatte keine Kopfschmerzen. Die üblichen Symptome nach einem Abend bei den Bakers, die meist bis zu zwei Tage anhielten, gab es heute nicht. Cassy gähnte und stand auf. Am besten erst einmal duschen und frühstücken. Dann wollte sie ihre Mutter anrufen. Oder Ellen. Oder beide.
Als sie ins Bad kam, sah sie ihren Pullover vom Vortag auf der Erde liegen und hob ihn auf. Die Erkenntnis traf sie wie ein Faustschlag. Sie hatte nicht geträumt. Der Pullover war voller Blut. Völlig verwirrt und mit schlotternden Beinen setzte sie sich auf den Toilettendeckel, den Pullover noch immer in der Hand. Jetzt erst einmal die Gedanken beruhigen.
War sie wirklich betrunken gestern? Nein. Dazu waren die Bilder ihr viel zu klar und logisch in Erinnerung. Und doch. Es gab Erinnerungen, die sie nicht einordnen konnte. Hogwarts. Zauberer. Lächerlich. Mit Sicherheit spielte ihr Unterbewusstsein ihr einen Streich.
Sie würde ihre Mutter anrufen. Sie würde sie am besten jetzt gleich anrufen.
Damit stand sie auf, legte den blutigen Pullover auf den Rand der Badewanne und suchte ihr Telefon. Diese verdammten Schnurlosen lagen grundsätzlich nicht dort, wo man sie brauchte. Cassy musste dreimal die "Finde-mich- kriegst-mich-ja-doch-nicht"-Taste drücken, bis sie das Telefon in der Küche zwischen Obstschale und Brotkasten lokalisieren konnte. Wenigstens war der Akku noch geladen.
Sie wählte die Nummer und nach dem dritten Klingeln war ihre Mutter bereits dran. Jetzt kamen garantiert erst einmal die üblichen Vorwürfe, wie: 'Na, wieder zuviel getrunken' oder 'hast ja ausnahmsweise mal zu Hause geschlafen'. Aber: Ihre Mutter schien heute glänzender Laune zu sein.
"Hallo Schatz! Wie war deine Party gestern?"
Uff, Gott sei Dank. Ihre Mutter wusste, dass sie eingeladen war.
"Mume, du wirst nicht glauben, was gestern passiert ist!" sagte Cassy. "Ellen und Robert sind überfallen worden."
"Wer ist überfallen worden?", wollte ihre Mutter wissen.
"Ellen und Robert Baker", antwortete Cassy leicht ungeduldig.
"Sind das neue Leute, die du gestern kennen gelernt hast, Schatz?"
Cassy hatte das Gefühl, jemand würde ihr den Boden unter den Füßen wegziehen.
"Mume! Ellen und Robert! Ich war mit ihnen in Südafrika! Du kannst dich doch erinnern!"
"Jetzt hör' mal, Schatz. Ich kenne Ellen und Robert Baker nicht. Hast du sie in Südafrika kennen gelernt und mir nichts davon gesagt?"
Cassy verlor nach und nach die Fassung. Ellen und Robert gingen bei ihrer Mutter ein und aus. Wenn Not am Mann war und ihre Mutter zum Einkaufen musste und Cassy sie nicht fahren konnte, dann hatte einer der beiden Bakers sie gefahren. Ihre Mutter hatte Ellen bei der Renovierung im Haus geholfen und den beiden öfter Kuchen gebacken oder auch ein Mittagessen zum Einfrieren vorbereitet. Jetzt konnte sie sich nicht erinnern? Das konnte nicht sein!
"Du hast für Ellen gekocht, Mume!" flüsterte sie erstickt.
"Kind! Ich würde sagen, dass du dich noch einmal ins Bett legst und deinen Rausch ausschläfst, bevor du deine Mutter mit solchem Unsinn aufregst. Hast du noch genügend Aspirin? Ich komme gerne vorbei und bringe dir etwas."
Cassy legte einfach auf. Sie wollte noch immer nicht akzeptieren, was sie gerade gehört hatte. Dann hatte sie einen Geistesblitz. Dachte sie. Sie stürzte an ihren Schrank und holte die Fotos heraus. Die Fotos ihres gemeinsamen Urlaubes in Südafrika. Es gab ein Bild, auf dem alle drei auf jeden Fall zu sehen sein mussten. Geknipst am Cap Agulhas. Im Hintergrund konnte man in roter Schrift auf einer kleinen gelben Hütte lesen "The Most Southern Shop in Africa". Aber vor dieser Hütte stand nur sie und lächelte.
Dann fiel ihr die Phiole ein, die ihr dieser - wie hieß er doch gleich - Albus Dumbledore zugesteckt hatte. Wenn dieses Fläschchen da war, dann war sie bereit, zu akzeptieren, was sie momentan noch immer für einen grotesken Streich ihrer Fantasie hielt.
Fieberhaft suchte sie ihre Kleidung nach der Phiole mit dem roten Inhalt ab - und fand sie. Sie hatte nicht geträumt. Es war alles passiert.
Der Schock traf sie erneut. Mit der Phiole in der Hand stand sie im Badezimmer und versuchte die Erkenntnis zu verarbeiten, dass alles geschehen war. Wirklich alles. Sie hatte das Gefühl, dass sie sich wie in einem Vakuum bewegte. Und ihr wurde mit einem Mal schmerzhaft klar, dass ihre Welt nie mehr so sein würde, wie früher. Mit wackeligen Beinen ging sie in ihre kleine Küche und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Die Phiole hielt sie noch immer fest umklammert.
Entgegen gestern blieben ihre Gedanken bei ihren Freunden. Dieser Dumbledore war im Moment nur ein unwichtiger Name für sie. Ellen und Robert existierten nur noch in ihrer Erinnerung. Für den Rest der Welt gab es sie einfach nicht mehr. Sie waren aus dem Gedächtnis der Menschen ausradiert worden. Fast bedauerte sie, dass ihr diese Erinnerung nicht doch genommen worden war. Sie saß noch eine Weile still in ihrer kleinen Küche und starrte auf die vertrocknete Basilikumpflanze am Fenster. Als ihr endlich das Ausmaß des Erlebten erneut bewusst wurde, entschloss sie sich, in die Kirche zu gehen. Das erste Mal seit vielen Jahren. Sie musste mit irgend jemandem reden. Mit wem hätte sie sonst reden können über ihr Erlebtes?
Ellen und Robert waren einfach nicht mehr existent. Sie würden nie ein Begräbnis bekommen, nie würde ein Trauergottesdienst für sie gehalten, nie würden die Leute um sie weinen, die sie so sehr geschätzt hatten und nie würden sie einen Platz auf einem Friedhof bekommen, wo man sie besuchen und mit Ihnen Zwiesprache halten konnte.
Niemand wusste mehr etwas von den beiden besten Freunden, die sie auf der Welt gehabt hatte. Sie zog sich an und machte sich auf den Weg. Dort angekommen setzte sie sich in die Bankreihen direkt vor das Kreuz Christi und begann still ihr Herz auszuschütten und für die beiden von der Welt vergessenen Freunde zu beten. Sie weinte, bis keine Tränen mehr kamen. Dann saß sie nur noch stumm da und sah den gekreuzigten Jesus an. Sie stellte ihm zum wiederholten Male die Warum-Frage.
Nach mehreren Stunden, als der Pfarrer ab und an von weitem nach ihr sah, stand sie auf, winkte dem Pfarrer und deutete ihm ihren tiefen Dank an, dass er sie in Ruhe gelassen hatte. Sie wollte das Agulhas-Foto mitnehmen zu Dumbledore. Vielleicht konnte er die beiden wieder sichtbar machen. Nur dieses eine Foto.
Als Cassy das leere Foto betrachtete, hatte sich in ihr wieder ohnmächtige Wut breit gemacht. Ein brutaler und gewissenloser Mörder verbreitete Angst und Schrecken. Eigentlich war das nichts Neues, wenn man regelmäßig die Nachrichten sah. In ihrer Welt nannte man so jemanden einen Terroristen. Man hörte täglich von ihnen, aber man nahm sie einfach nicht mehr richtig wahr. Aber egal, wie man ihn nannte, ob Terrorist oder dunkler Lord. Er hatte ihre beiden Freunde umgebracht. Aus Versehen. Ganz lapidar hatte man sich halt im Haus geirrt. Jetzt erst, nachdem sie selbst betroffen war, bekam das Ganze eine völlig neue Bedeutung und sie schämte sich fast, dass sie vorher nie so tief darüber nachgedacht hatte. Ihr Entschluss stand fest. Sie wollte Dumbledore und diesem Snape helfen, diesem Unmenschen das Handwerk zu legen. Wie, das wusste sie nicht. Das würde sich ergeben. Sie wollte ihre beiden Freunde gerächt sehen. Und ihr Aufenthalt in Hogwarts würde sie dem so nahe bringen, wie kein anderer Ort auf dieser Welt.
***
Als Snape nach drei Tagen erwachte, war er im ersten Moment völlig orientierungslos. Es dauerte eine Weile, bis er seine Umgebung wahrnahm und erleichtert bemerkte, dass er in Hogwarts war. Madam Pomfrey werkelte in einer Ecke des Krankenflügels herum. Sie hob gerade den Kopf, als er sich aufrichten wollte.
"Oh, nein!", rief sie energisch. "Sie bleiben liegen. Und diesmal habe ich alle Befugnis von Albus, die ich brauche, um Sie hier zu behalten."
Snape legte sich zurück. Madam Pomfreys Stimme ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie von ihren Befugnissen auch regen Gebrauch machen würde, wenn es nötig wäre.
"Schon gut, Poppy", flüsterte er. "Ich möchte etwas trinken." Und nach einer Weile fügte er hinzu: "Und ich möchte Albus sprechen."
Sie stützte ihn und gab ihm Tee in kleinen Schlucken Dann schickte sie einen Hauselfen nach Dumbledore.
Der Zaubertränkemeister lag erschöpft in seinen Kissen und starrte stumpf und ausdruckslos an die Decke. Er beanspruchte sein Gedächtnis, was passiert war. Aber die Bruchstücke passten noch nicht zusammen. Da war dieses Muggelpärchen ... Ach, verdammt. Er erinnerte sich einfach nicht.
"Severus! Wie geht es Ihnen?" Dumbledore kam in den Krankenflügel und man sah die aufrichtige Freude in seinem Gesicht, dass es Snape besser ging. Er zog sich einen Stuhl neben Snapes Bett und drückte dem Zaubertränkemeister die Hand.
"Warum haben Sie das getan?", flüsterte Snape übergangslos. Dumbledore sah, dass das Sprechen ihn große Anstrengungen kostete, aber Severus brauchte Gewissheit. Er brauchte sie, um die schrecklichen Ereignisse besser verarbeiten zu können.
Dumbledore begann zu erzählen: "Als wir ankamen, waren die Fletchers nicht zu Hause. Es war uns schnell klar, dass hier ein folgenschwerer Fehler passiert war. Einer der Auroren sah die Blitze im Nachbarhaus bei den Bakers. Als wir dort ankamen, war gerade die junge Frau gestorben." Hier hielt er einen Moment inne, weil Snape mit schmerzverzerrtem Gesicht die Augen schloss, als er sich bruchstückhaft zu erinnern begann. Er hatte in ihr verzweifeltes Gesicht gesehen und er konnte nichts für sie tun. Er musste sie umbringen, damit er vielleicht Tausenden von anderen das Leben retten konnte. Sie würde nie erfahren, welches Opfer sie gebracht hatte. Dass sie eigentlich eine Heldin war.
Severus wollte nicht über seine Opfer nachdenken. Er hatte das Gefühl, dass am jüngsten Gericht das Spalier der Menschen, die er auf dem Gewissen hatte und die ihn auf seinem letzten Weg begleiten würden, endlos sein würde. Sie würden alle am Wegrand stehen und ihn stumm und anklagend ansehen. Er hatte oft diesen Traum. "Ich konnte einfach nichts für sie tun", flüsterte er verzweifelt.
Dumbledore nickte. "Ich weiß. Wir haben Lucius draußen gehört, waren aber zu spät." Er wartete noch einen Moment, bis er den Eindruck hatte, dass Snape sich wieder gefasst hatte. "Als wir durch die Tür kamen, sind Malfoy, Letrange, Crabbe und Goyle sofort desappariert. Die Feiglinge haben ihre Kollegen im Stich gelassen. Ich sah, dass Sie sich nicht am Kampf beteiligten, Severus. Aber leider hat das außer mir auch noch einer der anderen Todesser gesehen. Also musste ich handeln. Er und viele andere haben gesehen, dass Sie von dem Fluch getroffen und verletzt wurden." Dumbledore begann zu stocken. "Es ist noch ein Todesser desappariert, der genau dies Voldemort berichten wird. Er wird allerdings nicht wissen, wer sie verletzt hat und mit welchem Fluch. In diesem Durcheinander ist es nicht möglich gewesen, irgend etwas genau auszumachen. Und keiner wusste, dass ich in der Uniform des Auroren gesteckt habe. Das habe ich einem guten Freund im Ministerium zu verdanken. Sie, Severus, haben jetzt alle Trümpfe in der Hand, um Ihre Stellung bei Voldemort zu festigen. Sie können die Feigheit Ihrer Kollegen für sich ausnutzen. Niemand wird wissen, wie Sie überlebt haben."
Er hielt inne und schaute Severus an. Der reagierte jedoch nicht. Also fuhr Dumbledore fort:
"Severus, es tut mir so Leid! Sie glauben nicht, welche Überwindung es mich kostete, den Fluch auf Sie auszusprechen."
"Doch, Albus. Ich weiß, welche Überwindung so etwas kostet, glauben Sie mir", flüsterte Snape und schloss wieder die Augen.
"Bitte verzeihen Sie mir." Dumbledore senkte den Kopf. Es war eine unbedachte Äußerung.
Severus war völlig erschöpft und sagte müde: "Es war richtig, was Sie getan haben. Einen kurzen Moment dachte ich ..." Dann schlief er augenblicklich ein.
Dumbledore stand auf und holte tief Luft. Noch immer hielt er Severus' Hand in der seinen. "Severus, das Letzte, was ich will, ist Ihnen Schaden zuzufügen, glauben Sie mir." Dann legte er Snape's Hand zurück auf die Decke und ging. Er war froh, dass er dieses Gespräch hinter sich hatte.
