Hogwarts
"Willkommen in Hogwarts", sagte Dumbledore freundlich, als sie mit ihrem ganzen Gepäck vor dem Eingang erschienen. Cassy war auch jetzt wieder ein bisschen schummrig in der Magengegend, aber die Reisen mit diesem Portsocken waren wirklich erfreulich kurz. "Kommen Sie. Lassen Sie das Gepäck stehen. Es wird sich jemand darum kümmern." "Was ist mit Aratos?" fragte sie ihn. Sie wollte die schöne Eule nur ungern hier alleine stehen lassen.
"Der geht in die Eulerei." Damit öffnete er den Käfig und bedeutete Aratos zur Eulerei zu fliegen. Der wusste ganz offensichtlich, wo er hin musste. Er breitete seine riesigen Schwingen aus und erhob sich elegant. Nach einer Kurve landete er noch einmal kurz auf Cassy's Schulter, pickte ihr zärtlich auf dem Kopf herum und machte sich dann auf den Weg zur Eulerei. Cassy lachte. "Schlingel", sagte sie und sah ihrer Eule hinterher.
"Was ist die Eulerei?" fragte sie.
"Da werden die Eulen gepflegt, gefüttert und können mit den anderen Eulen und Kauzen zusammensitzen. So ähnlich, wie bei Ihnen eine Tierauffangstation", klärte Dumbledore sie freundlich auf.
Dann tat sich das Schloss vor Cassy auf. Welch' ein Bauwerk! Unzählige Türme reckten sich in den Himmel. Kleine verspielte Erker waren an den außergewöhnlichsten Stellen angebaut und hohe Zinnen schlossen die mächtigen Mauern nach oben ab. Während sie auf das riesige Schloss zuliefen, verschwanden Türme als Folge des sich ständig ändernden Blickwinkels, dafür erwuchsen an anderer Stelle neue. Es musste ein Irrgarten von Gängen in diesem Schloss sein.
Dumbledore ließ sie einen Moment den Eindruck verarbeiten. Er war stolz auf sein Hogwarts. Und er freute sich, dass Cassy so beeindruckt war.
Dann fuhr er fort: "Bevor Sie das Schloss betreten, muss ich Ihnen kurz noch ein paar Dinge erklären, damit Sie nicht erschrecken. Unsere Bilder an den Wänden bewegen sich und sprechen. Nicht alle Pflanzen auf dem Schulhof sind ungefährlich. Manche beißen, spucken, schlagen oder würgen. Unsere Rüstungen bewegen sich ebenfalls mit zum Teil sehr unangenehmen Geräuschen. Wir haben einen Poltergeist, er heißt Peeves, und taucht immer dann auf, wenn man ihn gar nicht gebrauchen kann. Auf unseren Treppen gibt es Trickstufen, in die man einsinkt. Ohne fremde Hilfe kommen Sie nicht mehr aus ihnen heraus. Sie können diese Stufen allerdings erkennen. Sie sind eine Nuance heller, als die anderen."
Dann waren sie am Eingang angekommen. "Haben Sie sich das behalten?"
Aber Cassy war so beeindruckt von dem imposanten Bauwerk, dass sie nur die Hälfte mitbekommen hatte. Bewegliche Bilder und Rüstungen, ein paar angriffslustige Pflanzen und ein Poltergeist. Hört sich ziemlich normal an für eine magische Umgebung, dachte sie etwas abwesend. Allerdings die Sache mit den Trickstufen hatte sie nicht mitbekommen.
Während sie durch die endlos anmutenden Gänge liefen, fuhr Dumbledore mit seinen Ausführungen fort. "Wir haben für Sie ein Appartement mit Büro und Klassenzimmer direkt im Erdgeschoss hergerichtet. So müssen Sie sich nicht mit den Treppen herumschlagen. Die ändern auch ganz gerne die Richtung und Sie kommen ganz woanders heraus, als sie eigentlich vorhatten. Allerdings sind Räume, wie die Bibliothek, Astronomie, Krankenstation, verschiedene Klassenräume und auch mein Büro in den oberen Geschossen."
Cassy blieb vor dem ersten sich bewegenden Bild stehen und schaute es sprachlos an. Es war ein Pärchen darauf abgebildet, das sich angeregt unterhielt. Sie sprachen wirklich. Sie konnte sie hören. Er wollte sie gerade zu einem Nachtspaziergang überreden, aber sie hatte überhaupt keine Lust dazu. Dann hörten die beiden auf, als sie Cassy bemerkten und der junge Mann kam an den Rahmen des Bildes. "Sie wissen, dass es sich nicht gehört, wenn man fremde Gespräche belauscht?", wies er sie zurecht. "Bitte entschuldigen Sie", stotterte Cassy das Bild verlegen mit hochrotem Kopf an. "Ich ... das war nicht meine Absicht."
"Aah, Sie sind der nichtmagische Mensch, nicht wahr?" Cassy nickte. Sie war erstaunt, dass das Bild von ihr wusste und dass sie ausnahmsweise mal keine 'Muggel' war.
"Dann sei Ihnen verziehen", schloss der junge Mann herablassend, drehte sich mit einem Kopfschütteln um und ging zu seiner Partnerin zurück. Beide tuschelten und sahen zu Cassy hin.
"Kommen Sie?", rief Dumbledore. Er war schon ein Stück weitergelaufen. Cassy eilte sich, um ihn wieder zu erreichen. Die Gänge waren mit großen Fenstern versehen und wurden von hellem Tageslicht üppig durchflutet. Im Augenwinkel sah sie, wie die Figuren in den Bildern ihre Rahmen verließen, um in einem anderen Bild wieder aufzutauchen. Das brachte groteske Stilbrüche zustande. Eine Rokoko gekleidete Dame stürzte gerade in ein Bild mit einem Jäger, der zum Schuss auf einen Hirsch angelegt hatte. Der Jäger war ziemlich ungehalten, denn der Hirsch verschwand im Dickicht. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr und zeigte auf Cassy.
"Das ist sehr unheimlich", sagte Cassy leise zu Dumbledore.
"Wir hatten schon befürchtet, dass Sie das erschrecken würde, daher haben Sie in Ihrem Appartement auch nur Tier- und Pflanzenbilder. Und wir haben darauf geachtet, dass keine Elefanten, Trolle, Nachtalben, Brüllaffen oder sonstiges darauf abgebildet sind. Wegen der Lautstärke. Sie haben Stillleben, englische Landschaften ohne Flüsse und Bäche und ich glaube, das gefährlichste Tier, was abgebildet ist, ist ein Hase." Er lächelte amüsiert, als er daran dachte, wie die Kollegen geflucht hatten, bis sie ruhige Bilder gefunden hatten. Das halbe Schloss hatte man umgegraben. Dafür hatte man aber auch eine Menge längst verschollen geglaubter, nützlicher Dinge wiedergefunden. "Für alle weiteren interessanten Dinge, die es auf Hogwarts zu sehen gibt, habe ich Ihnen einen kompetenten Betreuer zugewiesen. Sie werden sich bestimmt freuen. Es ist Professor Severus Snape."
Bei Snapes Namen hellte sich Cassy's Gesicht sofort auf. Dumbledore sah es und dachte still grinsend für sich: 'Freuen Sie sich nicht zu früh, junge Dame. Sie werden ein hartes Stück Arbeit bekommen.' "Sie werden ihn nachher sehen, wenn wir in die große Halle gehen. Dort nehmen wir gemeinsam die Mahlzeiten ein. Die anderen Kollegen, soweit sie nicht im Urlaub sind, werden Sie dort auch kennen lernen."
Damit waren sie an der Tür zu Cassy's Appartement angekommen.
"Hier ist der Schlüssel." Es war ein alter, großer Bronzeschlüssel mit einem beachtlichen Gewicht. Er hing an einem Ring mit einem kleinen Schildchen, auf dem "C. Parker" stand. Die Schrift schimmerte in allen Farben und veränderte sich ständig. Cassy schaute der Schrift einen Moment zu. "Schließen Sie auf", forderte Dumbledore sie freundlich mit einer Handbewegung auf.
Cassy steckte den Schlüssel in das Schloss und mit einem leisen Klicken öffnete sich die Tür. Kein rostiges Quietschen, kein Knarren an der Tür. Dann betrat sie ihr Appartement. Sie war beeindruckt. Es war großzügig und hell. Es gab ein separates Büro, ein Wohn-Esszimmer, ein kleines Schlafzimmer mit einem riesigen Einbauschrank und ein Badezimmer, das man eher als Heimschwimmbad bezeichnen konnte. Alles war geschmackvoll mit schweren Möbeln eingerichtet. Cassy fühlte sich fast wie eine Prinzessin. Vor allen Dingen, wenn sie an das nüchterne Büro dachte mit den Funktionsmöbeln - alles in grau und weiß -, das sie ohne Wehmut zurückgelassen hatte.
Sie fühlte sich sofort wohl in diesen Räumen. Der Wohn-Essraum hatte einen riesigen offenen Kamin. Er war mit schwarzem Marmor eingefasst und hatte einen kleinen Vorbau, auf dem verschiedene Figuren zur Dekoration standen. Zwei weiße Marmorsäulen links und rechts trugen den Vorbau. Auf dem Boden lag ein dicker weicher Teppich. Vor dem Kamin waren zwei riesige Sessel angeordnet. Sie hatten eine hohe Rückenlehne und nach außen geschwungene Armlehnen. Die Füße endeten in Klauen, die wie breite Bärentatzen aussahen. "Die Stühle bewegen sich aber nicht", fragte Cassy zweifelnd und zeigte auf die Füße der Sessel. Es hätte sie nicht überrascht, wenn der Schulleiter genickt hätte und sie jeden Morgen auf der Suche nach ihren Möbeln gewesen wäre oder ihr Bett nachts in den Schlossgängen umhergetrabt wäre. Dumbledore lachte. "Nein. Aber wenn Sie wollen ..." Damit zog er den Zauberstab und Cassy machte einen Satz nach hinten. "Bloß nicht", keuchte sie mit entsetztem Gesicht. Sie hatte den Einsatz dieser Zauberstäbe noch immer in schlechter Erinnerung.
"Also, Sie sollten dringend daran arbeiten, denn in nicht ganz zwei Wochen werden hier Hunderte von Schülern mit Zauberstäben herumlaufen." Damit schwenkte er den Stab einmal durch die Luft, während er etwas murmelte, und, Plopp, erschien an der Spitze ein wunderschöner Sommerblumenstrauß, den er abnahm und Cassy übergab.
"Geben Sie mir noch etwas Zeit, Professor Dumbledore", sagte Cassy mit einer dankenden Kopfbewegung. Er nickte, aber das amüsierte Lächeln blieb auf seinem Gesicht.
"Und jetzt möchte ich Ihnen noch jemand Besonderen vorstellen. Er wird sie hier im Appartementbereich betreuen und mit allem versorgen, was Sie benötigen. Dobby! Komm bitte her."
Hinter dem Sessel kam ein kleines grünliches Wesen zum Vorschein mit riesengroßen hellgrünen Augen. Es hatte ein weißes tadelloses Hemd an und eine bunte Pachtwork-Weste darüber gezogen. Was Cassy aber am meisten festhielt an dieser kleinen Gestalt waren die beiden unegalen, wirklich hässlichen Socken, die so gar nicht zum Rest des Aufzuges passten.
"Das ist Dobby unser Chef-Hauself."
Der kleine Elf trat hervor und hielt Cassy die Hand hin. "Dobby ist sehr erfreut, Miss Parker kennen zu lernen. Wenn Miss Parker einen Wunsch hat, sagen Sie es immer Dobby."
Cassy streckte dem kleinen Elfen mit den spitzen Ohren vorsichtig ihre Hand hin. Der Elf ergriff sie und schüttelte sie heftig. "Danke, Mr. Dobby." Sie hoffte, dass die Anrede richtig war, aber prompt sagte der Elf: "Einfach nur Dobby, Miss Parker." Die beiden schauten sich einen Moment abschätzend an. Dann fuhr der Elf fort: "Wenn Miss Parker Obst essen möchte, Dobby kümmert sich darum. Oder schmutzige Kleidung zum Waschen. Oder wenn Miss Parker Getränke braucht. Hier ist eine kleine Klingel. Dobby hört sie immer. Dobby kommt dann durch diese kleine Tür dort neben dem Kamin. Bitte nicht erschrecken."
Dumbledore verabschiedete sich und sie verabredeten sich für eine Stunde später vor Cassy's Appartementtür. Er wollte sie abholen.
Cassy sah sich im Raum um, ihre Koffer hatte man bereits in ihr Schlafzimmer gebracht, das hatte sie schon gesehen. "Kann ich noch etwas für Miss Parker tun?", fragte der kleine Elf und schaute sie mit runden Augen erwartungsvoll an.
"Ja", antwortete Cassy, "bitte stellen Sie die Blumen für mich ins Wasser. Dann habe ich alles." Die Klingel hatte Dobby auf den kleinen Tisch zwischen die beiden mächtigen Sessel gestellt direkt vor die Blumenvase. Dann war er lautlos verschwunden.
Sie musste sich jetzt wohl umziehen. Eine dieser unförmigen Roben anziehen. Sie entschied sich für eine dünne dunkelblaue Sommerrobe und zog T-Shirt und kurze Hose darunter. Es sah ja sowieso niemand unter dieser Zeltplane.
Dann stieg sie die drei kleinen Stufen hoch zum Badezimmer und wollte sich die Hände waschen. Einen Augenblick blieb sie in der Tür stehen und sah sich den geschmackvoll gestalteten Raum an. An den Wänden waren große weiße Marmorfliesen angebracht, die ganz fein mit rostroten Adern durchzogen waren. Der Boden war mit den dunkelroten Terrakotta-Fliesen ausgelegt, die für alte Schlösser typisch waren. Hier und da fand sich sogar noch der Fußabdruck eines Tieres eingebrannt in den Fliesen. Rund um das Badebecken standen schulterhohe, schmiedeeiserne Kerzenleuchter und tauchten alles in ein warmes angenehmes Licht. Aber die Badewanne war wirklich das Größte - im wahrsten Sinne des Wortes. Es war ein in den Boden eingelassenes, gefliestes Badebecken mit den Ausmaßen von ungefähr drei auf drei Meter. An einer Seite war das Becken fast einen Meter tief, auf der anderen Seite hatte man einen Sockel eingearbeitet, auf dem der Badende in aller Ruhe liegen oder sitzen konnte und das Wasser genießen. Von der Seite gab es eine kleine Treppe, mit der man bequem in die Wanne steigen konnte, aber irgend ein verspielter Mensch bzw. Magier hatte eine winzige Rutsche an der tiefen Seite anbringen lassen, mit der man auf kürzestem Wege in das Wasser kam. Rund um die Stirnseite des Beckens waren etliche verschiedene Wasserhähne angebracht. Nachdem sie sich ausgiebig umgeschaut hatte, wollte sie endlich die Hände waschen. Schon begann das Dilemma. Es gab zwar drei Wasserhähne auf dem Waschbecken, aber keine Knöpfe zum Aufdrehen. Sie versuchte es mit wedelnden Händen unter den Hähnen (funktionierte bei den Autobahnklos ja auch immer). Nichts passierte. Dann legte sie ihre Hand auf den Wasserhahn und drückte vorsichtig. Auch nichts. Zum Schluss wedelte sie noch einmal über den Hähnen herum, aber das Ergebnis war das Gleiche. Also ging sie zurück in das Wohnzimmer und klingelte nach Dobby. "Bitte, ich möchte mir die Hände waschen. Wie funktioniert das?" Der kleine Elf wieselte beflissentlich vor ihr her ins Bad, legte die Hand auf den Wasserhahn und sagte "Los". Als eine angemessene Menge in das Waschbecken eingelaufen war (immerhin gab es wenigstens einen stinknormalen Gummistöpsel für in das Becken), legte er die Hand wieder auf den Hahn und sagte "Stop."
Dann sah er sie aufgeregt an. Er freute sich, dass er ihr gleich helfen konnte. "Und wenn Miss Parker es warm oder kalt haben will - es ist immer erst einmal kalt - dann sagt Miss Parker noch warm oder kalt dazu. Aus dem ersten Hahn kommt klares Wasser. Aus dem zweiten kommt Wasser mit einem Duftöl und aus dem Dritten kommt Wasser mit Schaumbad. Miss Parker muss es ausprobieren."
Cassy trat an einen der Wasserhähne, legte die Hand darauf und sagte "Los warm". Sofort kam angenehm warmes Wasser aus dem Hahn. Sie bedankte sich bei Dobby und machte sich endgültig fertig für ihren "großen Auftritt" in der großen Halle.
***
Pünktlich eine Stunde später stand Cassy vor ihrem Appartement und wartete auf Dumbledore. Sie beobachtete durch das großzügige Fenster, das direkt ihrem Appartement gegenüber war, den Gärtner im Vorhof, der mit vier Gehilfen versuchte einen Busch zu beschneiden. Der Busch hatte aber keine Lust und zog jedes Mal seine Äste zurück oder beugte sich blitzschnell in eine andere Richtung. Die vier Gehilfen versuchten einen Ast einzufangen, damit der Gärtner ihn abschneiden oder untersuchen konnte. Wenn der Busch so schnell die Richtung wechselte, kam es vor, dass einer von ihnen an einem besonders dicken Ast hing und den Busch anbrüllte, ihn herunterzulassen. Es war eine anstrengende Arbeit und sie hörte die gerufenen Kommandos, mit denen man versuchte, den Busch auszutricksen, bis in den Gang.
Dumbledore kam gerade um die Ecke und blieb erstaunt stehen. "Diese Robe passt richtig gut zu Ihnen", meinte er lächelnd. Cassy lächelte etwas verkrampft zurück. Sie hatte eiskalte Hände vor Aufregung und ihre Beine fühlten sich bei jedem Schritt an, als wäre der Knochen darin zu Gummi geworden.
"Aufgeregt?" fragte er, obwohl die Frage überflüssig war, wenn er in Cassy's angespanntes, blasses Gesicht sah. Sie nickte.
Dann gingen sie den Gang hinunter und betraten die große Halle. An den verschiedenen Tischen saßen ein paar Schüler, die nicht in den Ferien nach Hause konnten. Der Raum war riesig. An den Flanken waren mächtige Säulen, die nach oben ausliefen in ein Gewölbe ...? Es gab keine Decke in diesem Raum. Es gab einen strahlend blauen Sommerhimmel. Cassy blieb in der Tür stehen und schaute mit offenem Mund an die Decke. Oder besser an den Himmel. Dumbledore lachte. "Jetzt sehen Sie aus, wie unsere Erstklässler, wenn sie hier eintreffen." Cassy schaute noch immer fasziniert nach oben.
"Wie funktioniert das?", fragte sie.
Dumbledore beugte sich zu ihrem Ohr und sagte ihr leise und verschmitzt: "Mit Magie." Cassy sah ihn an und grinste ein wenig verlegen. 'Wie auch sonst', dachte sie. "Der Himmel wird von uns je nach Anlass verändert. Manchmal ändert er aber auch selbst seine Farbe. Kommt wohl auf seine Stimmung an."
Dann schob er eine Hand unter ihren Arm und forderte sie mit sanftem Druck auf, weiterzugehen. Die nächsten Schritte ging Cassy noch mit staunendem Blick an den Himmel. Dann sah sie vor sich, wo sie hinlief. Das würde jetzt noch fehlen, dass sie im Eingang der großen Halle der Länge nach hinschlug, weil sie in die Luft guckte beim Laufen.
Es war augenblicklich still geworden, als beide die Halle betraten. Jetzt standen die Lehrkräfte auf und kamen um den Tisch herum, um Cassy zu begrüßen.
"Das", begann Dumbledore, "ist Miss Cassiopeia Parker. Sie alle wissen, wofür sie hier ist. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie sie wohlwollend in Ihrer Mitte aufnehmen würden." Dann trat er einen Schritt zurück und sah sich suchend um. Es fehlte eine, nein, es fehlten zwei Lehrkräfte.
Die Professoren stellten sich nacheinander selbst vor und Cassy schüttelte die angebotenen Hände.
"Professor McGonagall. Ich unterrichte Verwandlung." Sie war schon eine ältere Hexe mit einem strengen Gesicht. Cassy schätzte, dass sie so alt wie Dumbledore sein könnte. Er hatte ihr an dem Abend, als sie Cassy's Stundenplan besprochen hatten, einiges über die Kollegen und die Fächer erzählt. So auch, dass es nur wenig gab, was Professor McGonagall nicht in etwas anderes verwandeln konnte. Für die Erstklässler zum Beispiel verwandelte sie gerne ihr Lehrerpult in ein Schwein. Danach war ihr die Aufmerksamkeit der Klasse immer sicher. Cassy war gespannt, wann sie einmal die Möglichkeit hätte eine solche Verwandlung zu sehen.
"Professor Vektor. Mein Fach ist Arithmantik." Das war ähnlich wie Mathematik hatte Dumbledore sie aufgeklärt. Es wurde aber auch eine Menge dabei geschätzt und es war nicht so präzise, wie die Mathematik bei den Muggeln.
"Professor Flitwick. Zauberkunst." Bei ihm musste sich Cassy etwas bücken, um ihm die Hand zu geben. Einen so kleinen Mann hatte sie noch nie gesehen. Aber er schien ein Mensch zu sein. Hier wollte sie Professor Snape fragen, was sie sich unter Zauberkunst genau vorstellen musste.
"Professor Trelawney", stellte sich die Wahrsagerin mit dunkler, rauer Stimme vor. Sie hielt einen Augenblick länger als Notwendig die Hand von Cassy. "Ich spüre dunkle Geheimnisse bei Ihnen. Wenn Sie etwas über Ihre Zukunft wissen wollen - Sie finden mich im Nordturm!" Aus den Augenwinkeln konnte Cassy sehen, wie McGonagall die Augen verdrehte.
"Professor Hooch. Sport." Sport? Sie würde sie nachher genau fragen, was bei Zauberern Sport ist. Vielleicht Zauberstabweitwurf? Oder ... Sie hatte keine Idee.
"Professor Sprout. Pflanzen- und Kräuterkunde." Dann war das vorhin gar nicht der Gärtner, sondern Professor Sprout, die den Busch vor dem Gebäude beschnitten hatte. Sie erkannte sie wieder an dem Hut, den sie noch immer trug und sie hatte frische Kratzspuren auf ihren nackten Armen.
"Rubeus Hagrid. Pflege magischer Geschöpfe." Er bückte sich ein wenig hielt Cassy eine Kanaldeckel große Hand hin. Cassy hatte auch noch niemals einen so großen Menschen gesehen. Dumbledore ging ihm gerade Mal bis zur Brust und der war nicht klein. Wahrscheinlich musste dieser Hagrid immer aufpassen, dass er Flitwick oder einen der kleineren Schüler mit seinen ruderbootgroßen Schuhen nicht aus Versehen tot trat. In seinem Gesicht wucherte ein dichtes Gestrüpp von Bart und sein Haarwuchs sah auch nicht viel besser aus. Wenn man ihm einmal die Haare schneiden würde, konnte man wahrscheinlich eine Rosshaarmatraze für einen ausgewachsenen Menschen damit füllen. Sozusagen eine Hagrid-Haar-Matraze. Aber seine käferschwarzen Augen blitzten fröhlich und er machte einen sehr sympathischen Eindruck.
"Ich freue mich sehr, Sie alle kennen zu lernen und ich bedanke mich, dass ich diese Chance hier bekommen habe", sagte Cassy aufrichtig. Sie sah in die einzelnen Gesichter und sah Nicken, Abschätzen, freundliches Lächeln, aber keine Abneigung. Sie war sehr erleichtert.
"Kommen Sie ruhig rein, Severus!", rief Dumbledore laut hinter ihr durch die große Halle. Alle drehten sich herum.
Professor Snape stand in der Eingangstür und wollte gerade wieder kehrt machen, aber der Schulleiter hatte ihn doch gesehen. Er wollte zum Essen gehen, hatte aber vor lauter Rezepte wälzen wegen des Werwolfbanntrankes vergessen, dass diese Muggel heute kommen würde. Er hatte überhaupt keine Lust, sie zu sehen, geschweige denn, willkommen zu heißen. Er wollte sie nicht hier haben. So hatte er gerade die Kollegen mit dem Rücken zu sich stehen sehen und gehofft, er könnte sich unbemerkt wieder verdrücken. Aber Dumbledore war aufmerksam.
Trotzdem machte er kehrt, als hätte er Albus nicht gehört und ging wieder in den Flur zurück. Aus der Halle kam ein unüberhörbares, scharfes "Professor Snape!" Also blieb er seufzend stehen und wartete auf den Schulleiter.
"Kommen Sie, Cassy." Dumbledore freute sich darauf, die beiden miteinander bekannt zu machen. Diese junge Frau hatte etwas Anziehendes an sich. Etwas Herzliches, Warmes. Vielleicht ... - aber er traute sich gar nicht, diesen Gedanken zu Ende zu denken.
Cassy stand wie vom Donner gerührt. In ihrem Bauch breiteten sich die berühmten Schmetterlinge aus. Trotzdem deutete das Gefühl, das sie gerade hatte, eher auf Königsfledermäuse von der Größe von mittleren Schäferhunden hin. 'Beruhige dich, beruhige dich'. Immer wieder wiederholte sie diesen Gedanken, als Dumbledore sie vor sich her aus der Halle schob.
***
"Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, Professor Snape", sagte Cassy mit einem freundlichen Lächeln und hielt ihm ihre leicht zitternde Hand hin. Dumbledore zog sich etwas zurück.
Da stand sie ihm nun gegenüber. Endlich. So lange hatte sie davon geträumt, wie das erste Zusammentreffen sein würde. Sie fühlte ihn noch immer in ihren Armen. Und sie fühlte noch immer diese absurde Dankbarkeit, dass sie wegen ihm nicht alleine in diesem Keller war. Sie freute sich so sehr darauf, dieses Gesicht wiederzusehen, das sie damals so beeindruckt hatte. Dieses Gesicht, das sie seitdem in ihren Träumen nicht mehr losgelassen hatte. Da Cassy hoffnungslos romantisch war, hatte sie sich die Begrüßung in allen möglichen und unmöglichen Situationen ausgemalt. Ihre Fantasie hatte ihr Bilder gemalt, die zum Teil unrealistischer gar nicht sein konnten. Vom höflichen und freundlichen Händedruck bis hin zum sofortigen schmachtenden Blickkontakt. Ein kleiner, aber dafür doch um so wesentlicher Punkt ist ihr bei ihren Träumereien entfallen. Dieser Mann kannte sie gar nicht. Er war damals bewusstlos. Er wusste bis vor kurzem nicht einmal, dass es sie überhaupt gab. Sie war eine vollkommen Fremde für ihn. Punkt. Willkommen in der Wirklichkeit.
Ihr Rücksturz in die Realität endete mit einem harten Aufprall. Metaphorisch gesprochen. Sie hatte das Gefühl, man würde sie in ein Fass mit eiskaltem Wasser eintauchen. Ganz langsam stieg die Kälte der Erkenntnis in ihrem Körper nach oben. Snape musterte sie mit unbeweglichem Blick und vor dem Ausdruck in seinen Augen wich sie innerlich ein kleines Stück zurück. Noch nie hatte sie bei einem Menschen solche Abwehr und Feindseligkeit gesehen. Aber sie wollte sich nicht einschüchtern lassen. Auf ihre ausgestreckte Hand warf er einen abfälligen Blick. Dann drehte er sich ohne ein Wort um und ging.
Das war also die Muggel. Snape hatte nicht vor, an sie mit ihrem Namen zu denken. Sie war eine Muggel. Muggel sind namenlos, weil sie unwichtig sind. Diese Muggel hatte halblange stufig geschnittene, brünette Haare, die zwar glatt, aber offensichtlich recht widerspenstig waren, denn sie standen ihr an einigen Stellen etwas unkontrolliert vom Kopf ab. Ihr ovales Gesicht mit den hochstehenden Wangenknochen hatte eine sehr freundliche, helle Ausstrahlung. Aber beeindruckend empfand er die blaugrauen Augen, die scheinbar ständig die Farbe wechselten und den sinnlichen, feingeschwungenen Mund. Sie ging ihm gerade bis unter das Kinn und war schlank und gut proportioniert. Als Hexe wäre sie das, was er sich unter einer interessanten Frau vorstellen würde. Aber da sie keine Hexe war, verschwendete Professor Snape keinen einzigen Gedanken daran. Es war sein Unterbewusstsein, das diese Details aufnahm und sorgsam verschloss.
Cassy stand mit offenem Mund in der Halle und blickte dem "davonwehenden" Snape hinterher.
Albus Dumbledore trat amüsiert neben sie. "Verstehen Sie jetzt, warum ich Ihnen so einfach das Versprechen geben konnte, dass ich ihm nichts von Ihnen erzählen würde?" Nein. Cassy konnte es noch nicht verstehen. Dreißig Sekunden Blickkontakt mit jemandem konnten ihr noch keinen Einblick in sein eigentliches, komplexes Verhalten geben und erklären, warum er offensichtlich keine Kinderstube hatte und ihm die Grundregeln der Höflichkeit fehlten. Aber nur dreißig Sekunden waren für oberflächlich denkende Menschen ausreichend, um ein Vorurteil zu bilden und sich mit denen zu solidarisieren, die unbedingt einen "Buhmann" brauchten. Denn sein Verhalten schrie geradezu danach, ihn aus der Gemeinschaft auszusondern. Das war allerdings nicht Cassy's Art. Die Vergangenheit hatte immer wieder gezeigt, dass Vorurteile und falsche Solidarität schreckliche Katastrophen hervorrufen konnten. Und sie hatte sich von je her aus den Einheits- Meinungsgrüppchen, die nur ihr Fähnchen in den Wind hingen, herausgehalten. Das war nicht immer einfach und brachte sie oftmals in die Situation, ein Einzelgänger zu sein. Aber sie war kein Herdentier, sondern ein eigenständiger, sensibler, klar denkender Mensch (das letztere jedenfalls meistens), der seine Meinung und die Überzeugung vertrat, dass man das auch jedem anderen Menschen zugestehen musste. Selbst denen, die es einem schwer machten, an seine Prinzipien zu glauben. Und allem Anschein nach war dieser Professor Snape ein Mensch, der keinen Wert darauf legte, was andere über ihn dachten.
Nachdem ihre gesammelten Fantasien gerade so schnell, wie ein abgeschossenes Trommelfeuer geplatzt waren, fühlte sie sich etwas seltsam, leer. Und doch. Er war beeindruckend.
Sie schaute Dumbledore an und fragte, um das Thema zu wechseln: "Wann gibt es denn etwas zu essen?"
Der lächelte, bot ihr den Arm und ging mit ihr zurück in die große Halle, wo die anderen Lehrkräfte bereits beim Essen waren und heftigst über einen Artikel des Zaubereiministeriums im Tagespropheten diskutierten.
Professor Flitwick hatte gerade seine Gabel erhoben und schüttelte sie drohend Richtung Professor McGonagall. Dabei war ihm allerdings ein Stück Hackbraten entgangen, das noch auf der Spitze steckte und das flog im hohen Bogen über den Tisch und landete auf McGonagalls Robe. Sie schaute angewidert auf den Essensrest und entfernte ihn. Dann beschimpfte sie Flitwick, dass er nicht nur keine Ahnung von Politik hätte, sondern auch keine Tischmanieren.
Dumbledore sah dem Treiben einen Moment zu und setzte sich dann hin, wobei er Cassy den freien Platz neben sich zuwies. Er machte keine Anstalten, die hitzige Diskussion zu beenden, bei der der kleine Professor Flitwick mittlerweile auf seinem Stuhl stand und die Hände auf den Tisch gestützt hatte, um in Augenhöhe mit McGonagall zu zetern. Niemand achtete auf Cassy, die mit leicht fassungslosem Gesicht diesen Mittagstisch betrachtete. Fast niemand.
"Hier geht es in den Ferien immer so zu", flüsterte eine Stimme neben ihr. Sie drehte sich um und blickte in das Gesicht von ... "Remus Lupin", sagte der Mann neben ihr und hielt ihr freundlich die Hand hin. "War bei Ihrer Begrüßung vorhin noch beschäftigt. Ich lehre dieses Jahr Verteidigung gegen die Dunklen Künste."
Cassy nahm die angebotene Hand und schüttelte sie herzlich. "Freut mich sehr", sagte sie aufrichtig. Lupin war höchstens neununddreißig Jahre alt und hatte braune Haare, die allerdings schon von einigen grauen Strähnen durchzogen waren. Er hatte ein sympathisches, hübsches Gesicht und beim Lachen umspielten unzählige kleine Fältchen seine blauen Augen.
"Sie glauben gar nicht, wie inspirierend diese Diskussionen sind", bemerkte er mit einem schalkhaften Lächeln.
Inspirierend oder nicht. Um Professor McGonagalls Gemütszustand zu beschreiben, brauchte man keine große Menschenkenntnis. Sie war ärgerlich, eigentlich stinksauer. Sie stand auf, beugte sich drohend über den Tisch Richtung Flitwick und holte gerade Luft, als Flitwick sich wohl den Größenunterschied bewusst machte und sich wieder auf seinen etwas erhöhten Stuhl fallen ließ. "Minerva, beruhige dich wieder. Du hast ja zum größten Teil recht. Aber denk' wenigstens kurz einmal über meine Theorie nach." Dann ließ er Professor McGonagall links liegen und begann zu essen, als wäre nichts gewesen. McGonagall kochte, aber sie setzte sich wieder und aß weiter, wobei sie in regelmäßigen Abständen Flitwick einen giftigen Blick zuwarf.
Lupin machte eine einladende Handbewegung über den ganzen Tisch und sagte: "Greifen Sie zu, Miss Parker, und lassen Sie es sich schmecken."
Das ließ Cassy sich nicht zweimal sagen. Es schmeckte fantastisch. Und auch der Kürbissaft, den sie nicht kannte, war sehr lecker und erfrischend. Einmal entfuhr ihr ein spitzer kurzer Schrei, als mit einem leisen Plopp die Platte vor ihr wieder aufgefüllt wurde, von der Lupin das letzte Stück Braten genommen hatte. Wie von Zauberhand. Wie auch sonst? Das Gespräch verstummte kurz und alle sahen Cassy an. Sie wurde rot bis an die Haarwurzeln und murmelte eine Entschuldigung. Es gab Geschmunzel und Gelächter am Tisch und auch das eine oder andere verständnislose Kopfschütteln. Aber das konnte Cassy nicht sehen, da sie angestrengt tief in ihren Teller blickte.
Er hatte rabenschwarze Augen. Wie seine Haare. Diese Augen waren kalt und doch so anziehend. Wie das Zentrum eines Schwarzen Lochs im Universum. Alles verschlingend, was in seine Nähe kam. Bodenlos tief. Absturz gefährdend tief. Der Gedanke an Snapes Augen löste ein angenehmes Prickeln in Cassy's Nacken aus.
"Was werden Sie alles in Ihrem Unterricht behandeln?" fragte Remus Lupin neben ihr. Dann sah er, dass sie mit ihren Gedanken weit weg war.
"Zehn Penny für Ihre Gedanken", hörte sie die Stimme von Lupin, der sich ein wenig zu ihr herübergebeugt hatte. Sie drehte sich um und kam langsam in die Wirklichkeit zurück.
"Bitte entschuldigen Sie. Was haben Sie gesagt?"
"Ich sagte, zehn Penny für Ihre Gedanken. Das sagt ihr Mug ..., äh, das sagt man doch so, oder?" Remus lachte.
Cassy lachte zurück und dachte, diesen Gedanken würde sie für kein Geld der Welt verkaufen.
***
Dumbledore hatte sie nach dem Essen in sein Büro gebeten. Er wartete auf sie und ging mit ihr langsam die Treppen hinauf, damit sie sich den Weg gut einprägen konnte. Dann standen sie vor dem Wasserspeier. Cassy schaute sich die Skulptur interessiert an, als Dumbledore "Kirschdrops" sagte und der Speier zur Seite schwang. Diesmal war Cassy jedoch darauf gefasst und so fiel der Schreck nur sehr klein aus. Ein kurzes Aufflammen in ihrer Magengegend und das war es. Sie ging hinter Dumbledore zur Wendeltreppe, die sich von alleine aufwärts bewegte. Wie feudal, dachte Cassy, eine Rolltreppe.
Im Büro angekommen, bot Dumbledore ihr den Platz vor seinem Schreibtisch an. Aber Cassy war wie angewurzelt stehen geblieben. Sie hatte den Vogel gesehen. Und der Vogel hatte Cassy gesehen. Beide schauten sich mit schief gelegtem Kopf an. Dann ging Cassy auf ihn zu. Sein Gefieder, das in allen Schattierung von Rot, Gelb und ein wenig Braun meliert war, schillerte in der hereinfallenden Sonne, wie ein lebendiges Feuer. Auf seinem Kopf hatte er eine kleine Krone aus einzelnen Federn hochstehen, die sich an ihren Enden zu kleinen Federbüschen verbreiterten, die wie weiche Kugeln aussahen.
"Ein Phoenix", flüsterte Cassy. Sie wollte ihren Augen nicht trauen. "Ein echter Phoenix", sagte sie wieder und blieb dicht vor dem Phoenix stehen. Ihr Vater hatte ihr von diesen Wesen erzählt, die für ihn natürlich nur in der Sage existiert hatten. Aber dieser hier lebte. Es gab ihn wirklich. Der Phoenix beugte sich ein wenig nach vorne und schaute Cassy genau an. Er stieß einen kurzen klangvollen Ton aus und neigte den Kopf auf die andere Seite.
"Sein Name ist Fawkes", sagte Dumbledore, der die Szene aufmerksam beobachtet hatte. "Sie können ihn ruhig berühren. Er ist zahm. Allerdings seien Sie vorsichtig. Fawkes hat seinen eigenen Kopf. Wen er nicht mag, dem kneift er auch mal in die Hand." Dabei fiel ihm ein, wie er Snape mal am Ohr gezogen hatte, weil er ihm gegenüber laut geworden war. Unwillkürlich musste er wieder grinsen, wenn er an Snapes überraschtes Gesicht dachte. Denn an sich war der Phoenix auch bei ihm sehr anschmiegsam.
Cassy ging noch ein Stück dichter heran und drehte sich gerade zu Dumbledore um, weil sie ihn fragen wollte, ob sie ihn wirklich streicheln dürfe, als der Phoenix begann, seinen Kopf an Cassy's Kopf zu reiben. Dabei stieß er dunkle, ruhige Töne aus. Dumbledore grinste. Cassy hatte ihren ersten Freund auf Hogwarts gefunden. Es war wieder ein Vogel. Sie hatte mit diesen Tieren anscheinend ein Händchen. Sie hob die Hand und begann Fawkes Gefieder zu streicheln. Der Phoenix hielt still und ließ sich die Schmuseeinheiten gerne gefallen.
Dann ging Cassy zu dem angebotenen Stuhl und sah Dumbledore an. Fawkes war scheinbar nicht damit einverstanden, dass seine Streichelei schon vorbei war. Er spannte seine mächtigen Flügel und ließ sich mit einem kurzen Abstoßen von seiner Stange direkt in Cassy's Schoß gleiten. Dort zog er Flügel, Füße und alles was so im Weg war ein und kuschelte sich an sie. Sie schaute ihn erstaunt an und begann, ihn wieder zu streicheln. Dabei hatte sie die Arme um den Vogel gelegt, der genüsslich die Augen geschlossen hielt.
Dumbledore schüttelte den Kopf. "Sie wissen, dass Phoenixe äußerst scheu sind? Allerdings haben diese Geschöpfe die besondere Gabe, gute und schlechte Schwingungen in Menschen zu erkennen. So lange ich Fawkes habe, und das ist fast eine Ewigkeit, hat er sich nur einer Handvoll Menschen so genähert, wie Ihnen jetzt. Wenn er sie so mag, dann weiß ich, dass mein Gefühl mich nicht getrogen hat", schloss er lächelnd.
Dann fuhr er fort: "Ich habe Sie hier her gebeten, weil es noch ein paar Dinge gibt, die Sie wissen müssen. Hier an der Schule gibt es ein Punktesystem. Schüler, die besonders herausragende Leistungen erbringen, deren Häuser werden mit Punkten belohnt. Wenn Schüler gegen die Regeln verstoßen oder schlechte Leistungen erbringen, werden die Häuser mit Punktabzug bestraft. Das Punktebarometer können allerdings nur Magier bedienen. Daher haben die Kollegen und ich ausgemacht, dass Sie zu vergebende oder abzuziehende Punkte entweder an die Hauslehrer weiterleiten oder an mich. Das sind für Gryffindor Professor McGonagall, für Slytherin Professor Snape, für Hufflepuff Professor Flitwick und für Ravenclaw Professor Sprout. Hier in diesen Pergamenten finden Sie die wichtigsten Regeln für die Schule. Und machen Sie sich vor allem mit dem Gelände vertraut.
Damit reichte er ihr einige Rollen Pergament, die eng beschrieben waren.
"Haben Sie noch Fragen?"
Cassy schüttelte den Kopf. Sie nahm die Pergamente, verabschiedete sich von Dumbledore und ging zurück. Sie schaffte es ohne Zwischenfall bis zu ihrem Appartement und legte die Rollen in ihr Schlafzimmer. Heute Abend wollte sie sich damit eingehend beschäftigen.
Dann streifte sie über das Schulgelände. Es waren malerische Ländereien, die zu Hogwarts gehörten. Angefangen vom See, bis hin zu den einfassenden Hügeln und Wiesen rund um dieses imposante Schloss.
***
Als sie nach dem Abendessen an ihrem Appartement ankam, stand sie vor dem nächsten für sie unlösbaren Problem. Es gab keinen Lichtschalter. Wie sollte sie ihr Appartement betreten. Es war stockdunkel. Die Dobby-Klingel lag im Dunkeln auf dem Tisch. Sie konnte sie nicht erreichen. Aber da sie jetzt fachmännisch Wasser in ein Waschbecken einlaufen lassen konnte, würde sie wohl auch Licht machen können. Nur, wo sollte sie die Hände drauf legen, um das Licht einzuschalten? Auf der Anrichte neben der Tür stand ein Kerzenleuchter. Sie legte also die Hand darauf und sagte mit fester Stimme: "Licht an." Aber es tat sich nichts. Sie ging einen Schritt in das Appartement, ließ aber den Leuchter nicht los und sagte "Licht", "Hell", "Anmachen", "Beleuchten", "Strahlen", "Entzünden". Dann klatschte sie. Sie schnippte. Aber das Ergebnis war ein ums andere Mal das Gleiche. Es blieb stockdunkel. Hoffentlich sah und hörte sie niemand.
"Was tun Sie da?" Cassy fuhr so zusammen, dass sie einen Schritt zur Seite machte. Remus Lupin stand mit der Schulter an die Wand gelehnt, mit einem ungeheuer breiten Grinsen. Sie hatte sich also gerade zum Vollidioten gemacht.
"Wie lange stehen Sie schon da?", fragte Cassy. "Ich glaube, seit 'Anmachen'", gab er zur Antwort. "Ich bin begeistert, welchen Einfallsreichtum Sie haben."
"Ich weiß nicht, wie das Licht angeht", sagte Cassy mit gesenktem Kopf. Das hatte Remus allerdings schon bemerkt. Er grinste immer noch und trat zum Appartement. "Darf ich?" fragte er sie. Sie nickte und machte ihm den Weg frei. Er griff um die Ecke und nahm etwas von der Anrichte im Appartement. Die war vom Flurlicht noch hell genug erleuchtet, dass man sehen konnte, was darauf lag. Er hatte geholfen, das Appartement für Cassy fertig zu machen, daher wusste er auch, was wo zu finden war.
"Wissen Sie, hierfür haben wir einen ganz besonders schwierigen Zauber. Sie nehmen diese Schachtel hier und machen sie auf. Dann entnehmen Sie der Schachtel eines dieser langen Hölzchen und reiben es mit dem roten Kopf ruckartig über diese raue, braune Fläche hier an der Außenseite der Schachtel. Dann können Sie Licht machen." Damit zündete er das Streichholz an und entflammte die Kerze. Cassy wäre am liebsten im Erdboden versunken. Die Schachtel mit den Streichhölzern hatte sie zwar gesehen, aber das war zu profan. Als diese Kerze brannte, entflammten sich im ganzen Appartement an allen möglichen Ecken weitere Kerzen, bis der Raum hell erleuchtet war.
"Sie können die Kerzen einzeln ausmachen. Wenn Sie aber alle auf einmal aus haben wollen, müssen Sie diese hier wieder löschen. Merken sie sich die Kerze gut. Sie brennt niemals herunter."
"Also, den Trick mit den magischen Hölzchen werde ich mir merken", sagte sie zu Remus mit einem leicht sarkastischen Unterton.
Der trat wieder zurück in den Flur, deutete ihr immer noch lachend eine Verbeugung an und meinte: "Wir sehen uns morgen, beim Frühstück. Gute Nacht."
Sie schloss die Tür und ging zum Kamin. Auf dem Tisch zwischen den beiden Sesseln lag ein versiegeltes Pergament. Wer schickte ihr Hauspost? Sie betrachtete das Siegel genauer. Es waren zwei ineinander verschlungene Schlangen, die bei genauem Hinsehen zwei große S darstellten. Das Siegel von Severus Snape.
Vorsichtig zerbrach sie das Siegel und öffnete das Pergament.
Kommen Sie morgen nach dem Frühstück in mein Büro. S. Snape
Er hatte eine deutliche, akkurate Handschrift.
Also dann, sagte sich Cassy, auf ein Neues. Hoffentlich war er morgen besser gelaunt.
Dann ging sie ins Bad und beäugte misstrauisch die Wasserhähne, aber alles funktionierte einwandfrei, wie man es ihr gezeigt hatte. Dobby hatte ihr bereits den Schlafanzug zurecht gelegt und das Bett aufgedeckt. Auf ihrem Nachttisch fand sie einen Krug mit Wasser und ein Glas.
Völlig überwältigt von den heutigen Eindrücken schlief sie sofort ein.
"Willkommen in Hogwarts", sagte Dumbledore freundlich, als sie mit ihrem ganzen Gepäck vor dem Eingang erschienen. Cassy war auch jetzt wieder ein bisschen schummrig in der Magengegend, aber die Reisen mit diesem Portsocken waren wirklich erfreulich kurz. "Kommen Sie. Lassen Sie das Gepäck stehen. Es wird sich jemand darum kümmern." "Was ist mit Aratos?" fragte sie ihn. Sie wollte die schöne Eule nur ungern hier alleine stehen lassen.
"Der geht in die Eulerei." Damit öffnete er den Käfig und bedeutete Aratos zur Eulerei zu fliegen. Der wusste ganz offensichtlich, wo er hin musste. Er breitete seine riesigen Schwingen aus und erhob sich elegant. Nach einer Kurve landete er noch einmal kurz auf Cassy's Schulter, pickte ihr zärtlich auf dem Kopf herum und machte sich dann auf den Weg zur Eulerei. Cassy lachte. "Schlingel", sagte sie und sah ihrer Eule hinterher.
"Was ist die Eulerei?" fragte sie.
"Da werden die Eulen gepflegt, gefüttert und können mit den anderen Eulen und Kauzen zusammensitzen. So ähnlich, wie bei Ihnen eine Tierauffangstation", klärte Dumbledore sie freundlich auf.
Dann tat sich das Schloss vor Cassy auf. Welch' ein Bauwerk! Unzählige Türme reckten sich in den Himmel. Kleine verspielte Erker waren an den außergewöhnlichsten Stellen angebaut und hohe Zinnen schlossen die mächtigen Mauern nach oben ab. Während sie auf das riesige Schloss zuliefen, verschwanden Türme als Folge des sich ständig ändernden Blickwinkels, dafür erwuchsen an anderer Stelle neue. Es musste ein Irrgarten von Gängen in diesem Schloss sein.
Dumbledore ließ sie einen Moment den Eindruck verarbeiten. Er war stolz auf sein Hogwarts. Und er freute sich, dass Cassy so beeindruckt war.
Dann fuhr er fort: "Bevor Sie das Schloss betreten, muss ich Ihnen kurz noch ein paar Dinge erklären, damit Sie nicht erschrecken. Unsere Bilder an den Wänden bewegen sich und sprechen. Nicht alle Pflanzen auf dem Schulhof sind ungefährlich. Manche beißen, spucken, schlagen oder würgen. Unsere Rüstungen bewegen sich ebenfalls mit zum Teil sehr unangenehmen Geräuschen. Wir haben einen Poltergeist, er heißt Peeves, und taucht immer dann auf, wenn man ihn gar nicht gebrauchen kann. Auf unseren Treppen gibt es Trickstufen, in die man einsinkt. Ohne fremde Hilfe kommen Sie nicht mehr aus ihnen heraus. Sie können diese Stufen allerdings erkennen. Sie sind eine Nuance heller, als die anderen."
Dann waren sie am Eingang angekommen. "Haben Sie sich das behalten?"
Aber Cassy war so beeindruckt von dem imposanten Bauwerk, dass sie nur die Hälfte mitbekommen hatte. Bewegliche Bilder und Rüstungen, ein paar angriffslustige Pflanzen und ein Poltergeist. Hört sich ziemlich normal an für eine magische Umgebung, dachte sie etwas abwesend. Allerdings die Sache mit den Trickstufen hatte sie nicht mitbekommen.
Während sie durch die endlos anmutenden Gänge liefen, fuhr Dumbledore mit seinen Ausführungen fort. "Wir haben für Sie ein Appartement mit Büro und Klassenzimmer direkt im Erdgeschoss hergerichtet. So müssen Sie sich nicht mit den Treppen herumschlagen. Die ändern auch ganz gerne die Richtung und Sie kommen ganz woanders heraus, als sie eigentlich vorhatten. Allerdings sind Räume, wie die Bibliothek, Astronomie, Krankenstation, verschiedene Klassenräume und auch mein Büro in den oberen Geschossen."
Cassy blieb vor dem ersten sich bewegenden Bild stehen und schaute es sprachlos an. Es war ein Pärchen darauf abgebildet, das sich angeregt unterhielt. Sie sprachen wirklich. Sie konnte sie hören. Er wollte sie gerade zu einem Nachtspaziergang überreden, aber sie hatte überhaupt keine Lust dazu. Dann hörten die beiden auf, als sie Cassy bemerkten und der junge Mann kam an den Rahmen des Bildes. "Sie wissen, dass es sich nicht gehört, wenn man fremde Gespräche belauscht?", wies er sie zurecht. "Bitte entschuldigen Sie", stotterte Cassy das Bild verlegen mit hochrotem Kopf an. "Ich ... das war nicht meine Absicht."
"Aah, Sie sind der nichtmagische Mensch, nicht wahr?" Cassy nickte. Sie war erstaunt, dass das Bild von ihr wusste und dass sie ausnahmsweise mal keine 'Muggel' war.
"Dann sei Ihnen verziehen", schloss der junge Mann herablassend, drehte sich mit einem Kopfschütteln um und ging zu seiner Partnerin zurück. Beide tuschelten und sahen zu Cassy hin.
"Kommen Sie?", rief Dumbledore. Er war schon ein Stück weitergelaufen. Cassy eilte sich, um ihn wieder zu erreichen. Die Gänge waren mit großen Fenstern versehen und wurden von hellem Tageslicht üppig durchflutet. Im Augenwinkel sah sie, wie die Figuren in den Bildern ihre Rahmen verließen, um in einem anderen Bild wieder aufzutauchen. Das brachte groteske Stilbrüche zustande. Eine Rokoko gekleidete Dame stürzte gerade in ein Bild mit einem Jäger, der zum Schuss auf einen Hirsch angelegt hatte. Der Jäger war ziemlich ungehalten, denn der Hirsch verschwand im Dickicht. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr und zeigte auf Cassy.
"Das ist sehr unheimlich", sagte Cassy leise zu Dumbledore.
"Wir hatten schon befürchtet, dass Sie das erschrecken würde, daher haben Sie in Ihrem Appartement auch nur Tier- und Pflanzenbilder. Und wir haben darauf geachtet, dass keine Elefanten, Trolle, Nachtalben, Brüllaffen oder sonstiges darauf abgebildet sind. Wegen der Lautstärke. Sie haben Stillleben, englische Landschaften ohne Flüsse und Bäche und ich glaube, das gefährlichste Tier, was abgebildet ist, ist ein Hase." Er lächelte amüsiert, als er daran dachte, wie die Kollegen geflucht hatten, bis sie ruhige Bilder gefunden hatten. Das halbe Schloss hatte man umgegraben. Dafür hatte man aber auch eine Menge längst verschollen geglaubter, nützlicher Dinge wiedergefunden. "Für alle weiteren interessanten Dinge, die es auf Hogwarts zu sehen gibt, habe ich Ihnen einen kompetenten Betreuer zugewiesen. Sie werden sich bestimmt freuen. Es ist Professor Severus Snape."
Bei Snapes Namen hellte sich Cassy's Gesicht sofort auf. Dumbledore sah es und dachte still grinsend für sich: 'Freuen Sie sich nicht zu früh, junge Dame. Sie werden ein hartes Stück Arbeit bekommen.' "Sie werden ihn nachher sehen, wenn wir in die große Halle gehen. Dort nehmen wir gemeinsam die Mahlzeiten ein. Die anderen Kollegen, soweit sie nicht im Urlaub sind, werden Sie dort auch kennen lernen."
Damit waren sie an der Tür zu Cassy's Appartement angekommen.
"Hier ist der Schlüssel." Es war ein alter, großer Bronzeschlüssel mit einem beachtlichen Gewicht. Er hing an einem Ring mit einem kleinen Schildchen, auf dem "C. Parker" stand. Die Schrift schimmerte in allen Farben und veränderte sich ständig. Cassy schaute der Schrift einen Moment zu. "Schließen Sie auf", forderte Dumbledore sie freundlich mit einer Handbewegung auf.
Cassy steckte den Schlüssel in das Schloss und mit einem leisen Klicken öffnete sich die Tür. Kein rostiges Quietschen, kein Knarren an der Tür. Dann betrat sie ihr Appartement. Sie war beeindruckt. Es war großzügig und hell. Es gab ein separates Büro, ein Wohn-Esszimmer, ein kleines Schlafzimmer mit einem riesigen Einbauschrank und ein Badezimmer, das man eher als Heimschwimmbad bezeichnen konnte. Alles war geschmackvoll mit schweren Möbeln eingerichtet. Cassy fühlte sich fast wie eine Prinzessin. Vor allen Dingen, wenn sie an das nüchterne Büro dachte mit den Funktionsmöbeln - alles in grau und weiß -, das sie ohne Wehmut zurückgelassen hatte.
Sie fühlte sich sofort wohl in diesen Räumen. Der Wohn-Essraum hatte einen riesigen offenen Kamin. Er war mit schwarzem Marmor eingefasst und hatte einen kleinen Vorbau, auf dem verschiedene Figuren zur Dekoration standen. Zwei weiße Marmorsäulen links und rechts trugen den Vorbau. Auf dem Boden lag ein dicker weicher Teppich. Vor dem Kamin waren zwei riesige Sessel angeordnet. Sie hatten eine hohe Rückenlehne und nach außen geschwungene Armlehnen. Die Füße endeten in Klauen, die wie breite Bärentatzen aussahen. "Die Stühle bewegen sich aber nicht", fragte Cassy zweifelnd und zeigte auf die Füße der Sessel. Es hätte sie nicht überrascht, wenn der Schulleiter genickt hätte und sie jeden Morgen auf der Suche nach ihren Möbeln gewesen wäre oder ihr Bett nachts in den Schlossgängen umhergetrabt wäre. Dumbledore lachte. "Nein. Aber wenn Sie wollen ..." Damit zog er den Zauberstab und Cassy machte einen Satz nach hinten. "Bloß nicht", keuchte sie mit entsetztem Gesicht. Sie hatte den Einsatz dieser Zauberstäbe noch immer in schlechter Erinnerung.
"Also, Sie sollten dringend daran arbeiten, denn in nicht ganz zwei Wochen werden hier Hunderte von Schülern mit Zauberstäben herumlaufen." Damit schwenkte er den Stab einmal durch die Luft, während er etwas murmelte, und, Plopp, erschien an der Spitze ein wunderschöner Sommerblumenstrauß, den er abnahm und Cassy übergab.
"Geben Sie mir noch etwas Zeit, Professor Dumbledore", sagte Cassy mit einer dankenden Kopfbewegung. Er nickte, aber das amüsierte Lächeln blieb auf seinem Gesicht.
"Und jetzt möchte ich Ihnen noch jemand Besonderen vorstellen. Er wird sie hier im Appartementbereich betreuen und mit allem versorgen, was Sie benötigen. Dobby! Komm bitte her."
Hinter dem Sessel kam ein kleines grünliches Wesen zum Vorschein mit riesengroßen hellgrünen Augen. Es hatte ein weißes tadelloses Hemd an und eine bunte Pachtwork-Weste darüber gezogen. Was Cassy aber am meisten festhielt an dieser kleinen Gestalt waren die beiden unegalen, wirklich hässlichen Socken, die so gar nicht zum Rest des Aufzuges passten.
"Das ist Dobby unser Chef-Hauself."
Der kleine Elf trat hervor und hielt Cassy die Hand hin. "Dobby ist sehr erfreut, Miss Parker kennen zu lernen. Wenn Miss Parker einen Wunsch hat, sagen Sie es immer Dobby."
Cassy streckte dem kleinen Elfen mit den spitzen Ohren vorsichtig ihre Hand hin. Der Elf ergriff sie und schüttelte sie heftig. "Danke, Mr. Dobby." Sie hoffte, dass die Anrede richtig war, aber prompt sagte der Elf: "Einfach nur Dobby, Miss Parker." Die beiden schauten sich einen Moment abschätzend an. Dann fuhr der Elf fort: "Wenn Miss Parker Obst essen möchte, Dobby kümmert sich darum. Oder schmutzige Kleidung zum Waschen. Oder wenn Miss Parker Getränke braucht. Hier ist eine kleine Klingel. Dobby hört sie immer. Dobby kommt dann durch diese kleine Tür dort neben dem Kamin. Bitte nicht erschrecken."
Dumbledore verabschiedete sich und sie verabredeten sich für eine Stunde später vor Cassy's Appartementtür. Er wollte sie abholen.
Cassy sah sich im Raum um, ihre Koffer hatte man bereits in ihr Schlafzimmer gebracht, das hatte sie schon gesehen. "Kann ich noch etwas für Miss Parker tun?", fragte der kleine Elf und schaute sie mit runden Augen erwartungsvoll an.
"Ja", antwortete Cassy, "bitte stellen Sie die Blumen für mich ins Wasser. Dann habe ich alles." Die Klingel hatte Dobby auf den kleinen Tisch zwischen die beiden mächtigen Sessel gestellt direkt vor die Blumenvase. Dann war er lautlos verschwunden.
Sie musste sich jetzt wohl umziehen. Eine dieser unförmigen Roben anziehen. Sie entschied sich für eine dünne dunkelblaue Sommerrobe und zog T-Shirt und kurze Hose darunter. Es sah ja sowieso niemand unter dieser Zeltplane.
Dann stieg sie die drei kleinen Stufen hoch zum Badezimmer und wollte sich die Hände waschen. Einen Augenblick blieb sie in der Tür stehen und sah sich den geschmackvoll gestalteten Raum an. An den Wänden waren große weiße Marmorfliesen angebracht, die ganz fein mit rostroten Adern durchzogen waren. Der Boden war mit den dunkelroten Terrakotta-Fliesen ausgelegt, die für alte Schlösser typisch waren. Hier und da fand sich sogar noch der Fußabdruck eines Tieres eingebrannt in den Fliesen. Rund um das Badebecken standen schulterhohe, schmiedeeiserne Kerzenleuchter und tauchten alles in ein warmes angenehmes Licht. Aber die Badewanne war wirklich das Größte - im wahrsten Sinne des Wortes. Es war ein in den Boden eingelassenes, gefliestes Badebecken mit den Ausmaßen von ungefähr drei auf drei Meter. An einer Seite war das Becken fast einen Meter tief, auf der anderen Seite hatte man einen Sockel eingearbeitet, auf dem der Badende in aller Ruhe liegen oder sitzen konnte und das Wasser genießen. Von der Seite gab es eine kleine Treppe, mit der man bequem in die Wanne steigen konnte, aber irgend ein verspielter Mensch bzw. Magier hatte eine winzige Rutsche an der tiefen Seite anbringen lassen, mit der man auf kürzestem Wege in das Wasser kam. Rund um die Stirnseite des Beckens waren etliche verschiedene Wasserhähne angebracht. Nachdem sie sich ausgiebig umgeschaut hatte, wollte sie endlich die Hände waschen. Schon begann das Dilemma. Es gab zwar drei Wasserhähne auf dem Waschbecken, aber keine Knöpfe zum Aufdrehen. Sie versuchte es mit wedelnden Händen unter den Hähnen (funktionierte bei den Autobahnklos ja auch immer). Nichts passierte. Dann legte sie ihre Hand auf den Wasserhahn und drückte vorsichtig. Auch nichts. Zum Schluss wedelte sie noch einmal über den Hähnen herum, aber das Ergebnis war das Gleiche. Also ging sie zurück in das Wohnzimmer und klingelte nach Dobby. "Bitte, ich möchte mir die Hände waschen. Wie funktioniert das?" Der kleine Elf wieselte beflissentlich vor ihr her ins Bad, legte die Hand auf den Wasserhahn und sagte "Los". Als eine angemessene Menge in das Waschbecken eingelaufen war (immerhin gab es wenigstens einen stinknormalen Gummistöpsel für in das Becken), legte er die Hand wieder auf den Hahn und sagte "Stop."
Dann sah er sie aufgeregt an. Er freute sich, dass er ihr gleich helfen konnte. "Und wenn Miss Parker es warm oder kalt haben will - es ist immer erst einmal kalt - dann sagt Miss Parker noch warm oder kalt dazu. Aus dem ersten Hahn kommt klares Wasser. Aus dem zweiten kommt Wasser mit einem Duftöl und aus dem Dritten kommt Wasser mit Schaumbad. Miss Parker muss es ausprobieren."
Cassy trat an einen der Wasserhähne, legte die Hand darauf und sagte "Los warm". Sofort kam angenehm warmes Wasser aus dem Hahn. Sie bedankte sich bei Dobby und machte sich endgültig fertig für ihren "großen Auftritt" in der großen Halle.
***
Pünktlich eine Stunde später stand Cassy vor ihrem Appartement und wartete auf Dumbledore. Sie beobachtete durch das großzügige Fenster, das direkt ihrem Appartement gegenüber war, den Gärtner im Vorhof, der mit vier Gehilfen versuchte einen Busch zu beschneiden. Der Busch hatte aber keine Lust und zog jedes Mal seine Äste zurück oder beugte sich blitzschnell in eine andere Richtung. Die vier Gehilfen versuchten einen Ast einzufangen, damit der Gärtner ihn abschneiden oder untersuchen konnte. Wenn der Busch so schnell die Richtung wechselte, kam es vor, dass einer von ihnen an einem besonders dicken Ast hing und den Busch anbrüllte, ihn herunterzulassen. Es war eine anstrengende Arbeit und sie hörte die gerufenen Kommandos, mit denen man versuchte, den Busch auszutricksen, bis in den Gang.
Dumbledore kam gerade um die Ecke und blieb erstaunt stehen. "Diese Robe passt richtig gut zu Ihnen", meinte er lächelnd. Cassy lächelte etwas verkrampft zurück. Sie hatte eiskalte Hände vor Aufregung und ihre Beine fühlten sich bei jedem Schritt an, als wäre der Knochen darin zu Gummi geworden.
"Aufgeregt?" fragte er, obwohl die Frage überflüssig war, wenn er in Cassy's angespanntes, blasses Gesicht sah. Sie nickte.
Dann gingen sie den Gang hinunter und betraten die große Halle. An den verschiedenen Tischen saßen ein paar Schüler, die nicht in den Ferien nach Hause konnten. Der Raum war riesig. An den Flanken waren mächtige Säulen, die nach oben ausliefen in ein Gewölbe ...? Es gab keine Decke in diesem Raum. Es gab einen strahlend blauen Sommerhimmel. Cassy blieb in der Tür stehen und schaute mit offenem Mund an die Decke. Oder besser an den Himmel. Dumbledore lachte. "Jetzt sehen Sie aus, wie unsere Erstklässler, wenn sie hier eintreffen." Cassy schaute noch immer fasziniert nach oben.
"Wie funktioniert das?", fragte sie.
Dumbledore beugte sich zu ihrem Ohr und sagte ihr leise und verschmitzt: "Mit Magie." Cassy sah ihn an und grinste ein wenig verlegen. 'Wie auch sonst', dachte sie. "Der Himmel wird von uns je nach Anlass verändert. Manchmal ändert er aber auch selbst seine Farbe. Kommt wohl auf seine Stimmung an."
Dann schob er eine Hand unter ihren Arm und forderte sie mit sanftem Druck auf, weiterzugehen. Die nächsten Schritte ging Cassy noch mit staunendem Blick an den Himmel. Dann sah sie vor sich, wo sie hinlief. Das würde jetzt noch fehlen, dass sie im Eingang der großen Halle der Länge nach hinschlug, weil sie in die Luft guckte beim Laufen.
Es war augenblicklich still geworden, als beide die Halle betraten. Jetzt standen die Lehrkräfte auf und kamen um den Tisch herum, um Cassy zu begrüßen.
"Das", begann Dumbledore, "ist Miss Cassiopeia Parker. Sie alle wissen, wofür sie hier ist. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie sie wohlwollend in Ihrer Mitte aufnehmen würden." Dann trat er einen Schritt zurück und sah sich suchend um. Es fehlte eine, nein, es fehlten zwei Lehrkräfte.
Die Professoren stellten sich nacheinander selbst vor und Cassy schüttelte die angebotenen Hände.
"Professor McGonagall. Ich unterrichte Verwandlung." Sie war schon eine ältere Hexe mit einem strengen Gesicht. Cassy schätzte, dass sie so alt wie Dumbledore sein könnte. Er hatte ihr an dem Abend, als sie Cassy's Stundenplan besprochen hatten, einiges über die Kollegen und die Fächer erzählt. So auch, dass es nur wenig gab, was Professor McGonagall nicht in etwas anderes verwandeln konnte. Für die Erstklässler zum Beispiel verwandelte sie gerne ihr Lehrerpult in ein Schwein. Danach war ihr die Aufmerksamkeit der Klasse immer sicher. Cassy war gespannt, wann sie einmal die Möglichkeit hätte eine solche Verwandlung zu sehen.
"Professor Vektor. Mein Fach ist Arithmantik." Das war ähnlich wie Mathematik hatte Dumbledore sie aufgeklärt. Es wurde aber auch eine Menge dabei geschätzt und es war nicht so präzise, wie die Mathematik bei den Muggeln.
"Professor Flitwick. Zauberkunst." Bei ihm musste sich Cassy etwas bücken, um ihm die Hand zu geben. Einen so kleinen Mann hatte sie noch nie gesehen. Aber er schien ein Mensch zu sein. Hier wollte sie Professor Snape fragen, was sie sich unter Zauberkunst genau vorstellen musste.
"Professor Trelawney", stellte sich die Wahrsagerin mit dunkler, rauer Stimme vor. Sie hielt einen Augenblick länger als Notwendig die Hand von Cassy. "Ich spüre dunkle Geheimnisse bei Ihnen. Wenn Sie etwas über Ihre Zukunft wissen wollen - Sie finden mich im Nordturm!" Aus den Augenwinkeln konnte Cassy sehen, wie McGonagall die Augen verdrehte.
"Professor Hooch. Sport." Sport? Sie würde sie nachher genau fragen, was bei Zauberern Sport ist. Vielleicht Zauberstabweitwurf? Oder ... Sie hatte keine Idee.
"Professor Sprout. Pflanzen- und Kräuterkunde." Dann war das vorhin gar nicht der Gärtner, sondern Professor Sprout, die den Busch vor dem Gebäude beschnitten hatte. Sie erkannte sie wieder an dem Hut, den sie noch immer trug und sie hatte frische Kratzspuren auf ihren nackten Armen.
"Rubeus Hagrid. Pflege magischer Geschöpfe." Er bückte sich ein wenig hielt Cassy eine Kanaldeckel große Hand hin. Cassy hatte auch noch niemals einen so großen Menschen gesehen. Dumbledore ging ihm gerade Mal bis zur Brust und der war nicht klein. Wahrscheinlich musste dieser Hagrid immer aufpassen, dass er Flitwick oder einen der kleineren Schüler mit seinen ruderbootgroßen Schuhen nicht aus Versehen tot trat. In seinem Gesicht wucherte ein dichtes Gestrüpp von Bart und sein Haarwuchs sah auch nicht viel besser aus. Wenn man ihm einmal die Haare schneiden würde, konnte man wahrscheinlich eine Rosshaarmatraze für einen ausgewachsenen Menschen damit füllen. Sozusagen eine Hagrid-Haar-Matraze. Aber seine käferschwarzen Augen blitzten fröhlich und er machte einen sehr sympathischen Eindruck.
"Ich freue mich sehr, Sie alle kennen zu lernen und ich bedanke mich, dass ich diese Chance hier bekommen habe", sagte Cassy aufrichtig. Sie sah in die einzelnen Gesichter und sah Nicken, Abschätzen, freundliches Lächeln, aber keine Abneigung. Sie war sehr erleichtert.
"Kommen Sie ruhig rein, Severus!", rief Dumbledore laut hinter ihr durch die große Halle. Alle drehten sich herum.
Professor Snape stand in der Eingangstür und wollte gerade wieder kehrt machen, aber der Schulleiter hatte ihn doch gesehen. Er wollte zum Essen gehen, hatte aber vor lauter Rezepte wälzen wegen des Werwolfbanntrankes vergessen, dass diese Muggel heute kommen würde. Er hatte überhaupt keine Lust, sie zu sehen, geschweige denn, willkommen zu heißen. Er wollte sie nicht hier haben. So hatte er gerade die Kollegen mit dem Rücken zu sich stehen sehen und gehofft, er könnte sich unbemerkt wieder verdrücken. Aber Dumbledore war aufmerksam.
Trotzdem machte er kehrt, als hätte er Albus nicht gehört und ging wieder in den Flur zurück. Aus der Halle kam ein unüberhörbares, scharfes "Professor Snape!" Also blieb er seufzend stehen und wartete auf den Schulleiter.
"Kommen Sie, Cassy." Dumbledore freute sich darauf, die beiden miteinander bekannt zu machen. Diese junge Frau hatte etwas Anziehendes an sich. Etwas Herzliches, Warmes. Vielleicht ... - aber er traute sich gar nicht, diesen Gedanken zu Ende zu denken.
Cassy stand wie vom Donner gerührt. In ihrem Bauch breiteten sich die berühmten Schmetterlinge aus. Trotzdem deutete das Gefühl, das sie gerade hatte, eher auf Königsfledermäuse von der Größe von mittleren Schäferhunden hin. 'Beruhige dich, beruhige dich'. Immer wieder wiederholte sie diesen Gedanken, als Dumbledore sie vor sich her aus der Halle schob.
***
"Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, Professor Snape", sagte Cassy mit einem freundlichen Lächeln und hielt ihm ihre leicht zitternde Hand hin. Dumbledore zog sich etwas zurück.
Da stand sie ihm nun gegenüber. Endlich. So lange hatte sie davon geträumt, wie das erste Zusammentreffen sein würde. Sie fühlte ihn noch immer in ihren Armen. Und sie fühlte noch immer diese absurde Dankbarkeit, dass sie wegen ihm nicht alleine in diesem Keller war. Sie freute sich so sehr darauf, dieses Gesicht wiederzusehen, das sie damals so beeindruckt hatte. Dieses Gesicht, das sie seitdem in ihren Träumen nicht mehr losgelassen hatte. Da Cassy hoffnungslos romantisch war, hatte sie sich die Begrüßung in allen möglichen und unmöglichen Situationen ausgemalt. Ihre Fantasie hatte ihr Bilder gemalt, die zum Teil unrealistischer gar nicht sein konnten. Vom höflichen und freundlichen Händedruck bis hin zum sofortigen schmachtenden Blickkontakt. Ein kleiner, aber dafür doch um so wesentlicher Punkt ist ihr bei ihren Träumereien entfallen. Dieser Mann kannte sie gar nicht. Er war damals bewusstlos. Er wusste bis vor kurzem nicht einmal, dass es sie überhaupt gab. Sie war eine vollkommen Fremde für ihn. Punkt. Willkommen in der Wirklichkeit.
Ihr Rücksturz in die Realität endete mit einem harten Aufprall. Metaphorisch gesprochen. Sie hatte das Gefühl, man würde sie in ein Fass mit eiskaltem Wasser eintauchen. Ganz langsam stieg die Kälte der Erkenntnis in ihrem Körper nach oben. Snape musterte sie mit unbeweglichem Blick und vor dem Ausdruck in seinen Augen wich sie innerlich ein kleines Stück zurück. Noch nie hatte sie bei einem Menschen solche Abwehr und Feindseligkeit gesehen. Aber sie wollte sich nicht einschüchtern lassen. Auf ihre ausgestreckte Hand warf er einen abfälligen Blick. Dann drehte er sich ohne ein Wort um und ging.
Das war also die Muggel. Snape hatte nicht vor, an sie mit ihrem Namen zu denken. Sie war eine Muggel. Muggel sind namenlos, weil sie unwichtig sind. Diese Muggel hatte halblange stufig geschnittene, brünette Haare, die zwar glatt, aber offensichtlich recht widerspenstig waren, denn sie standen ihr an einigen Stellen etwas unkontrolliert vom Kopf ab. Ihr ovales Gesicht mit den hochstehenden Wangenknochen hatte eine sehr freundliche, helle Ausstrahlung. Aber beeindruckend empfand er die blaugrauen Augen, die scheinbar ständig die Farbe wechselten und den sinnlichen, feingeschwungenen Mund. Sie ging ihm gerade bis unter das Kinn und war schlank und gut proportioniert. Als Hexe wäre sie das, was er sich unter einer interessanten Frau vorstellen würde. Aber da sie keine Hexe war, verschwendete Professor Snape keinen einzigen Gedanken daran. Es war sein Unterbewusstsein, das diese Details aufnahm und sorgsam verschloss.
Cassy stand mit offenem Mund in der Halle und blickte dem "davonwehenden" Snape hinterher.
Albus Dumbledore trat amüsiert neben sie. "Verstehen Sie jetzt, warum ich Ihnen so einfach das Versprechen geben konnte, dass ich ihm nichts von Ihnen erzählen würde?" Nein. Cassy konnte es noch nicht verstehen. Dreißig Sekunden Blickkontakt mit jemandem konnten ihr noch keinen Einblick in sein eigentliches, komplexes Verhalten geben und erklären, warum er offensichtlich keine Kinderstube hatte und ihm die Grundregeln der Höflichkeit fehlten. Aber nur dreißig Sekunden waren für oberflächlich denkende Menschen ausreichend, um ein Vorurteil zu bilden und sich mit denen zu solidarisieren, die unbedingt einen "Buhmann" brauchten. Denn sein Verhalten schrie geradezu danach, ihn aus der Gemeinschaft auszusondern. Das war allerdings nicht Cassy's Art. Die Vergangenheit hatte immer wieder gezeigt, dass Vorurteile und falsche Solidarität schreckliche Katastrophen hervorrufen konnten. Und sie hatte sich von je her aus den Einheits- Meinungsgrüppchen, die nur ihr Fähnchen in den Wind hingen, herausgehalten. Das war nicht immer einfach und brachte sie oftmals in die Situation, ein Einzelgänger zu sein. Aber sie war kein Herdentier, sondern ein eigenständiger, sensibler, klar denkender Mensch (das letztere jedenfalls meistens), der seine Meinung und die Überzeugung vertrat, dass man das auch jedem anderen Menschen zugestehen musste. Selbst denen, die es einem schwer machten, an seine Prinzipien zu glauben. Und allem Anschein nach war dieser Professor Snape ein Mensch, der keinen Wert darauf legte, was andere über ihn dachten.
Nachdem ihre gesammelten Fantasien gerade so schnell, wie ein abgeschossenes Trommelfeuer geplatzt waren, fühlte sie sich etwas seltsam, leer. Und doch. Er war beeindruckend.
Sie schaute Dumbledore an und fragte, um das Thema zu wechseln: "Wann gibt es denn etwas zu essen?"
Der lächelte, bot ihr den Arm und ging mit ihr zurück in die große Halle, wo die anderen Lehrkräfte bereits beim Essen waren und heftigst über einen Artikel des Zaubereiministeriums im Tagespropheten diskutierten.
Professor Flitwick hatte gerade seine Gabel erhoben und schüttelte sie drohend Richtung Professor McGonagall. Dabei war ihm allerdings ein Stück Hackbraten entgangen, das noch auf der Spitze steckte und das flog im hohen Bogen über den Tisch und landete auf McGonagalls Robe. Sie schaute angewidert auf den Essensrest und entfernte ihn. Dann beschimpfte sie Flitwick, dass er nicht nur keine Ahnung von Politik hätte, sondern auch keine Tischmanieren.
Dumbledore sah dem Treiben einen Moment zu und setzte sich dann hin, wobei er Cassy den freien Platz neben sich zuwies. Er machte keine Anstalten, die hitzige Diskussion zu beenden, bei der der kleine Professor Flitwick mittlerweile auf seinem Stuhl stand und die Hände auf den Tisch gestützt hatte, um in Augenhöhe mit McGonagall zu zetern. Niemand achtete auf Cassy, die mit leicht fassungslosem Gesicht diesen Mittagstisch betrachtete. Fast niemand.
"Hier geht es in den Ferien immer so zu", flüsterte eine Stimme neben ihr. Sie drehte sich um und blickte in das Gesicht von ... "Remus Lupin", sagte der Mann neben ihr und hielt ihr freundlich die Hand hin. "War bei Ihrer Begrüßung vorhin noch beschäftigt. Ich lehre dieses Jahr Verteidigung gegen die Dunklen Künste."
Cassy nahm die angebotene Hand und schüttelte sie herzlich. "Freut mich sehr", sagte sie aufrichtig. Lupin war höchstens neununddreißig Jahre alt und hatte braune Haare, die allerdings schon von einigen grauen Strähnen durchzogen waren. Er hatte ein sympathisches, hübsches Gesicht und beim Lachen umspielten unzählige kleine Fältchen seine blauen Augen.
"Sie glauben gar nicht, wie inspirierend diese Diskussionen sind", bemerkte er mit einem schalkhaften Lächeln.
Inspirierend oder nicht. Um Professor McGonagalls Gemütszustand zu beschreiben, brauchte man keine große Menschenkenntnis. Sie war ärgerlich, eigentlich stinksauer. Sie stand auf, beugte sich drohend über den Tisch Richtung Flitwick und holte gerade Luft, als Flitwick sich wohl den Größenunterschied bewusst machte und sich wieder auf seinen etwas erhöhten Stuhl fallen ließ. "Minerva, beruhige dich wieder. Du hast ja zum größten Teil recht. Aber denk' wenigstens kurz einmal über meine Theorie nach." Dann ließ er Professor McGonagall links liegen und begann zu essen, als wäre nichts gewesen. McGonagall kochte, aber sie setzte sich wieder und aß weiter, wobei sie in regelmäßigen Abständen Flitwick einen giftigen Blick zuwarf.
Lupin machte eine einladende Handbewegung über den ganzen Tisch und sagte: "Greifen Sie zu, Miss Parker, und lassen Sie es sich schmecken."
Das ließ Cassy sich nicht zweimal sagen. Es schmeckte fantastisch. Und auch der Kürbissaft, den sie nicht kannte, war sehr lecker und erfrischend. Einmal entfuhr ihr ein spitzer kurzer Schrei, als mit einem leisen Plopp die Platte vor ihr wieder aufgefüllt wurde, von der Lupin das letzte Stück Braten genommen hatte. Wie von Zauberhand. Wie auch sonst? Das Gespräch verstummte kurz und alle sahen Cassy an. Sie wurde rot bis an die Haarwurzeln und murmelte eine Entschuldigung. Es gab Geschmunzel und Gelächter am Tisch und auch das eine oder andere verständnislose Kopfschütteln. Aber das konnte Cassy nicht sehen, da sie angestrengt tief in ihren Teller blickte.
Er hatte rabenschwarze Augen. Wie seine Haare. Diese Augen waren kalt und doch so anziehend. Wie das Zentrum eines Schwarzen Lochs im Universum. Alles verschlingend, was in seine Nähe kam. Bodenlos tief. Absturz gefährdend tief. Der Gedanke an Snapes Augen löste ein angenehmes Prickeln in Cassy's Nacken aus.
"Was werden Sie alles in Ihrem Unterricht behandeln?" fragte Remus Lupin neben ihr. Dann sah er, dass sie mit ihren Gedanken weit weg war.
"Zehn Penny für Ihre Gedanken", hörte sie die Stimme von Lupin, der sich ein wenig zu ihr herübergebeugt hatte. Sie drehte sich um und kam langsam in die Wirklichkeit zurück.
"Bitte entschuldigen Sie. Was haben Sie gesagt?"
"Ich sagte, zehn Penny für Ihre Gedanken. Das sagt ihr Mug ..., äh, das sagt man doch so, oder?" Remus lachte.
Cassy lachte zurück und dachte, diesen Gedanken würde sie für kein Geld der Welt verkaufen.
***
Dumbledore hatte sie nach dem Essen in sein Büro gebeten. Er wartete auf sie und ging mit ihr langsam die Treppen hinauf, damit sie sich den Weg gut einprägen konnte. Dann standen sie vor dem Wasserspeier. Cassy schaute sich die Skulptur interessiert an, als Dumbledore "Kirschdrops" sagte und der Speier zur Seite schwang. Diesmal war Cassy jedoch darauf gefasst und so fiel der Schreck nur sehr klein aus. Ein kurzes Aufflammen in ihrer Magengegend und das war es. Sie ging hinter Dumbledore zur Wendeltreppe, die sich von alleine aufwärts bewegte. Wie feudal, dachte Cassy, eine Rolltreppe.
Im Büro angekommen, bot Dumbledore ihr den Platz vor seinem Schreibtisch an. Aber Cassy war wie angewurzelt stehen geblieben. Sie hatte den Vogel gesehen. Und der Vogel hatte Cassy gesehen. Beide schauten sich mit schief gelegtem Kopf an. Dann ging Cassy auf ihn zu. Sein Gefieder, das in allen Schattierung von Rot, Gelb und ein wenig Braun meliert war, schillerte in der hereinfallenden Sonne, wie ein lebendiges Feuer. Auf seinem Kopf hatte er eine kleine Krone aus einzelnen Federn hochstehen, die sich an ihren Enden zu kleinen Federbüschen verbreiterten, die wie weiche Kugeln aussahen.
"Ein Phoenix", flüsterte Cassy. Sie wollte ihren Augen nicht trauen. "Ein echter Phoenix", sagte sie wieder und blieb dicht vor dem Phoenix stehen. Ihr Vater hatte ihr von diesen Wesen erzählt, die für ihn natürlich nur in der Sage existiert hatten. Aber dieser hier lebte. Es gab ihn wirklich. Der Phoenix beugte sich ein wenig nach vorne und schaute Cassy genau an. Er stieß einen kurzen klangvollen Ton aus und neigte den Kopf auf die andere Seite.
"Sein Name ist Fawkes", sagte Dumbledore, der die Szene aufmerksam beobachtet hatte. "Sie können ihn ruhig berühren. Er ist zahm. Allerdings seien Sie vorsichtig. Fawkes hat seinen eigenen Kopf. Wen er nicht mag, dem kneift er auch mal in die Hand." Dabei fiel ihm ein, wie er Snape mal am Ohr gezogen hatte, weil er ihm gegenüber laut geworden war. Unwillkürlich musste er wieder grinsen, wenn er an Snapes überraschtes Gesicht dachte. Denn an sich war der Phoenix auch bei ihm sehr anschmiegsam.
Cassy ging noch ein Stück dichter heran und drehte sich gerade zu Dumbledore um, weil sie ihn fragen wollte, ob sie ihn wirklich streicheln dürfe, als der Phoenix begann, seinen Kopf an Cassy's Kopf zu reiben. Dabei stieß er dunkle, ruhige Töne aus. Dumbledore grinste. Cassy hatte ihren ersten Freund auf Hogwarts gefunden. Es war wieder ein Vogel. Sie hatte mit diesen Tieren anscheinend ein Händchen. Sie hob die Hand und begann Fawkes Gefieder zu streicheln. Der Phoenix hielt still und ließ sich die Schmuseeinheiten gerne gefallen.
Dann ging Cassy zu dem angebotenen Stuhl und sah Dumbledore an. Fawkes war scheinbar nicht damit einverstanden, dass seine Streichelei schon vorbei war. Er spannte seine mächtigen Flügel und ließ sich mit einem kurzen Abstoßen von seiner Stange direkt in Cassy's Schoß gleiten. Dort zog er Flügel, Füße und alles was so im Weg war ein und kuschelte sich an sie. Sie schaute ihn erstaunt an und begann, ihn wieder zu streicheln. Dabei hatte sie die Arme um den Vogel gelegt, der genüsslich die Augen geschlossen hielt.
Dumbledore schüttelte den Kopf. "Sie wissen, dass Phoenixe äußerst scheu sind? Allerdings haben diese Geschöpfe die besondere Gabe, gute und schlechte Schwingungen in Menschen zu erkennen. So lange ich Fawkes habe, und das ist fast eine Ewigkeit, hat er sich nur einer Handvoll Menschen so genähert, wie Ihnen jetzt. Wenn er sie so mag, dann weiß ich, dass mein Gefühl mich nicht getrogen hat", schloss er lächelnd.
Dann fuhr er fort: "Ich habe Sie hier her gebeten, weil es noch ein paar Dinge gibt, die Sie wissen müssen. Hier an der Schule gibt es ein Punktesystem. Schüler, die besonders herausragende Leistungen erbringen, deren Häuser werden mit Punkten belohnt. Wenn Schüler gegen die Regeln verstoßen oder schlechte Leistungen erbringen, werden die Häuser mit Punktabzug bestraft. Das Punktebarometer können allerdings nur Magier bedienen. Daher haben die Kollegen und ich ausgemacht, dass Sie zu vergebende oder abzuziehende Punkte entweder an die Hauslehrer weiterleiten oder an mich. Das sind für Gryffindor Professor McGonagall, für Slytherin Professor Snape, für Hufflepuff Professor Flitwick und für Ravenclaw Professor Sprout. Hier in diesen Pergamenten finden Sie die wichtigsten Regeln für die Schule. Und machen Sie sich vor allem mit dem Gelände vertraut.
Damit reichte er ihr einige Rollen Pergament, die eng beschrieben waren.
"Haben Sie noch Fragen?"
Cassy schüttelte den Kopf. Sie nahm die Pergamente, verabschiedete sich von Dumbledore und ging zurück. Sie schaffte es ohne Zwischenfall bis zu ihrem Appartement und legte die Rollen in ihr Schlafzimmer. Heute Abend wollte sie sich damit eingehend beschäftigen.
Dann streifte sie über das Schulgelände. Es waren malerische Ländereien, die zu Hogwarts gehörten. Angefangen vom See, bis hin zu den einfassenden Hügeln und Wiesen rund um dieses imposante Schloss.
***
Als sie nach dem Abendessen an ihrem Appartement ankam, stand sie vor dem nächsten für sie unlösbaren Problem. Es gab keinen Lichtschalter. Wie sollte sie ihr Appartement betreten. Es war stockdunkel. Die Dobby-Klingel lag im Dunkeln auf dem Tisch. Sie konnte sie nicht erreichen. Aber da sie jetzt fachmännisch Wasser in ein Waschbecken einlaufen lassen konnte, würde sie wohl auch Licht machen können. Nur, wo sollte sie die Hände drauf legen, um das Licht einzuschalten? Auf der Anrichte neben der Tür stand ein Kerzenleuchter. Sie legte also die Hand darauf und sagte mit fester Stimme: "Licht an." Aber es tat sich nichts. Sie ging einen Schritt in das Appartement, ließ aber den Leuchter nicht los und sagte "Licht", "Hell", "Anmachen", "Beleuchten", "Strahlen", "Entzünden". Dann klatschte sie. Sie schnippte. Aber das Ergebnis war ein ums andere Mal das Gleiche. Es blieb stockdunkel. Hoffentlich sah und hörte sie niemand.
"Was tun Sie da?" Cassy fuhr so zusammen, dass sie einen Schritt zur Seite machte. Remus Lupin stand mit der Schulter an die Wand gelehnt, mit einem ungeheuer breiten Grinsen. Sie hatte sich also gerade zum Vollidioten gemacht.
"Wie lange stehen Sie schon da?", fragte Cassy. "Ich glaube, seit 'Anmachen'", gab er zur Antwort. "Ich bin begeistert, welchen Einfallsreichtum Sie haben."
"Ich weiß nicht, wie das Licht angeht", sagte Cassy mit gesenktem Kopf. Das hatte Remus allerdings schon bemerkt. Er grinste immer noch und trat zum Appartement. "Darf ich?" fragte er sie. Sie nickte und machte ihm den Weg frei. Er griff um die Ecke und nahm etwas von der Anrichte im Appartement. Die war vom Flurlicht noch hell genug erleuchtet, dass man sehen konnte, was darauf lag. Er hatte geholfen, das Appartement für Cassy fertig zu machen, daher wusste er auch, was wo zu finden war.
"Wissen Sie, hierfür haben wir einen ganz besonders schwierigen Zauber. Sie nehmen diese Schachtel hier und machen sie auf. Dann entnehmen Sie der Schachtel eines dieser langen Hölzchen und reiben es mit dem roten Kopf ruckartig über diese raue, braune Fläche hier an der Außenseite der Schachtel. Dann können Sie Licht machen." Damit zündete er das Streichholz an und entflammte die Kerze. Cassy wäre am liebsten im Erdboden versunken. Die Schachtel mit den Streichhölzern hatte sie zwar gesehen, aber das war zu profan. Als diese Kerze brannte, entflammten sich im ganzen Appartement an allen möglichen Ecken weitere Kerzen, bis der Raum hell erleuchtet war.
"Sie können die Kerzen einzeln ausmachen. Wenn Sie aber alle auf einmal aus haben wollen, müssen Sie diese hier wieder löschen. Merken sie sich die Kerze gut. Sie brennt niemals herunter."
"Also, den Trick mit den magischen Hölzchen werde ich mir merken", sagte sie zu Remus mit einem leicht sarkastischen Unterton.
Der trat wieder zurück in den Flur, deutete ihr immer noch lachend eine Verbeugung an und meinte: "Wir sehen uns morgen, beim Frühstück. Gute Nacht."
Sie schloss die Tür und ging zum Kamin. Auf dem Tisch zwischen den beiden Sesseln lag ein versiegeltes Pergament. Wer schickte ihr Hauspost? Sie betrachtete das Siegel genauer. Es waren zwei ineinander verschlungene Schlangen, die bei genauem Hinsehen zwei große S darstellten. Das Siegel von Severus Snape.
Vorsichtig zerbrach sie das Siegel und öffnete das Pergament.
Kommen Sie morgen nach dem Frühstück in mein Büro. S. Snape
Er hatte eine deutliche, akkurate Handschrift.
Also dann, sagte sich Cassy, auf ein Neues. Hoffentlich war er morgen besser gelaunt.
Dann ging sie ins Bad und beäugte misstrauisch die Wasserhähne, aber alles funktionierte einwandfrei, wie man es ihr gezeigt hatte. Dobby hatte ihr bereits den Schlafanzug zurecht gelegt und das Bett aufgedeckt. Auf ihrem Nachttisch fand sie einen Krug mit Wasser und ein Glas.
Völlig überwältigt von den heutigen Eindrücken schlief sie sofort ein.
