Gewissen

Als sie vor dem Schloss auf Snape wartete, sah sie die Slytherin- Fünftklässler, die wie zufällig über den Hof verteilt schienen.

Sie fühlte sich in der Nähe von Draco Malfoy und seinen Kumpanen noch immer unwohl. Sie wusste, dass Malfoy sie seit ihrem ersten Tag in Hogwarts beobachtete und nur darauf wartete, ihr eins auszuwischen. Er wusste außerdem, dass ein Großteil der Punktabzüge, die Cassy als Bestrafungsmaßnahme für Slytherin an Snape weitergeleitet hatte, einfach von Snape ignoriert worden waren. Trotz des Rüffels von Dumbledore. Das machte ihn besonders selbstsicher. Snape argumentierte noch immer, dass man wegen solcher Lappalien keine Punktabzüge verhängen würde und kürzte oft die zu streichenden Punkte.

Cassy hatte auch verstanden, dass die Messlatten, was Lappalien anging, unterschiedlich hoch gehängt wurden.

Langsam schlenderte sie zur Mitte des Hofes. Als sie ihn fast erreicht hatte, hörte sie Snapes dunkle, schnarrende Stimme hinter sich.

"Können wir? Ich habe nicht viel Zeit." Also das übliche Spiel dachte Cassy seufzend und wollte zu ihm gehen.

Plötzlich war um sie herum lautes Knallen und Krachen. Überall flogen Feuerwerkskörper und Knallfrösche durch die Gegend. Cassy stand wie angewurzelt zwischen den Slytherins, die immer neue Feuerwerkskörper auf sie abschossen. Sie hatte eine tiefsitzende, panische Angst vor Feuer. Sie war vor Entsetzen völlig orientierungslos. Verschiedene Knallfrösche sprangen ihr zwischen die Füße, die Funken versengten ihre Robe und brannten sich mit dem Stoff in das Fleisch. Sie fühlte es nicht. Sie konnte nicht weggehen. In ihrer Panik war ihr klares Denken ausgeschaltet.

Snape wusste um den Streich der Slytherins und blieb erst einmal stehen, um sich selbst ein wenig zu amüsieren. So ein kleiner Schock am Abend regte die Gehirnzellen an. Dachte er. Als er jedoch Cassy's panischen Gesichtsausdruck sah, wusste er, dass hier etwas falsch lief. Sie stand wie angenagelt. Als ihre Robe durch einen Knallfrosch ein wenig Feuer fing, zeigte Cassy keine Reaktion. Sie blickte nur wild umher, wie in der Hoffnung einen Weg aus diesem Kreis zu finden. Mit schnellen Schritten war er hinter ihr und löschte das Feuer mit seiner Robe. Dann zog er sie an sich und legte seinen Arm schützend mit seiner Robe um sie herum. Ein solch panisches Gesicht hatten die Menschen immer, wenn er als Todesser bei ihnen eintraf. Es berührte ihn jedes Mal zutiefst.

"50 Punkte Abzug für Slytherin," fauchte Snape Malfoy an. Der hatte den größten Spaß an diesem Unsinn gehabt und war der Drahtzieher der ganzen Aktion. Als Cassy's Robe Feuer fing, hatte Draco den gleichen sadistischen Ausdruck seinen Augen, den Severus an Lucius so hasste.

Die Slytherins sahen Snape ungläubig an. Wieso die Bestrafung? Er hatte es doch gewusst.

"Soweit ich mich erinnern kann, ging es nur um das ungefährliche Feuerwerk für drinnen. Um ein bisschen Knallerei," erklärte Snape zornig. "Das hier ist etwas anderes!" Damit zog er seine Robe von Cassy weg und entblößte deren angesengten Umhang und ihre verbrannten Beine. Ein ekelhafter Brandgeruch lag in der Luft. Cassy drängte sich weiter eng an Snapes Brust und zitterte und weinte und er legte instinktiv wieder den Arm um sie. Sie hatte noch gar nicht mitbekommen, dass die Knallerei aufgehört hatte.

"Na und?" sagte Malfoy völlig ungerührt mit einer wegwerfenden Handbewegung und schaute ihn provozierend an. "Sind doch nur Muggelbeine."

"Ich will Sie nachher in meinem Büro sprechen, Mr. Malfoy." Snape sah Malfoy mit einem Gesichtsausdruck an, der keinen Widerspruch duldete und der Malfoy ein sehr unangenehmes Gespräch voraussagte. Er sprach leise, aber jeder hatte ihn gehört. "Gehen Sie jetzt zurück in Ihren Turm. Die Vorstellung hier ist beendet."

Dann nahm er Cassy kurzerhand auf den Arm und trug sie eilig zu Madam Pomfrey in den Krankenflügel.

Auf dem Weg dorthin sprach er mit seiner dunklen Stimme leise und beruhigend auf sie ein. Doch Cassy beruhigte sich nicht. Heftiges Zittern schüttelte ihren Körper. Sie legte ihre Arme um seinen Hals, drückte ihren Kopf in seine Halsbeuge und wimmerte vor sich hin. Die Schmerzen in ihren Beinen mussten unerträglich sein.

"Wie ist das denn passiert?" fragte Madam Pomfrey, als Snape Cassy vorsichtig auf eines der Krankenbetten gelegt hatte.

"Filibuster Feuerwerk," gab Snape zur Antwort. "Ein blöder Streich," setzte er unwillkürlich nach.

"Damit haben Sie verdammt recht," antwortete Poppy und schüttelte den Kopf, während sie vorsichtig die versengten Robenstücke von Cassy's Beinen schnitt und für die spätere Behandlung sorgsam darauf achtete, wo sich der künstliche Stoff in ihre Haut eingebrannt hatte. Cassy's Körper bebte immer noch heftig und sie krallte ihre Hände in die weißen Laken des Krankenbettes.

"Was ist mit Ihnen?" fragte die Heilerin, der das ungewöhnlich heftige Zittern nicht entgangen war. "Ich ... habe ... Angst ... vor Feuer," flüsterte Cassy.

"Sie hat einen Schock!" giftete Poppy Snape so heftig an, dass der unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. "Geben Sie mir mal die Flasche mit dem grünen Inhalt."

Snape reichte die gewünschte Flasche herüber und sah, wie Poppy ein wenig in einen Becher schüttete, Cassy aufhalf und ihr die Flüssigkeit einflößte. Nach Cassy's Gesichtsausdruck zu urteilen, schmeckte der Inhalt entsetzlich. Dann legte sie sich zurück und Madam Pomfrey setzte sich neben sie, nahm ihre Hand und redete beruhigend auf sie ein. Snape war unschlüssig, ob er gehen sollte. Zum ersten Mal seit Cassy's Ankunft in Hogwarts hatte er so etwas wie Schuldgefühle ihr gegenüber. Nebenbei bekam er mit, dass Verwandte von Cassy bei einer Gasexplosion beinahe ums Leben gekommen waren. Sie war im Nachbarhaus und hörte heute noch den Ohren betäubenden Knall und sah das viele Feuer und ihre brennenden Verwandten.

Es war, als hätte jemand Snape einen Schwinger in die Magengrube versetzt, als ihm auf einmal klar wurde, welche Qualen Cassy bei dem Kröter durchgemacht haben musste. Und er hatte sie für eine hysterische Ziege gehalten, als sie mehrfach versicherte, dass sie den Kröter eigentlich nicht sehen müsse. Sie muss völlig verängstigt gewesen sein. Er hatte sie ausgelacht und provoziert. Und doch ist sie letzten Endes mutig mit ihm zum Pferch gegangen und hatte sich das Geschöpf angeschaut. Die ganze Aktion ging ja auch prompt in die Hose.

Am liebsten hätte er sich im Moment selbst ein paar Mal herzhaft geohrfeigt. Welche Gedanken hatte er auf einmal? Sie war eine Muggel.

Als Cassy ruhiger und schläfrig wurde, nahm Poppy ihre Arbeit wieder auf. Snape ging. Es war, als hätte die Knallerei des Filibuster Feuerwerkes in seinem Gehirn ein paar verstaubte Durchgänge freigeblasen und etwas in ihm geweckt. Unwillkürlich ließ er die letzten Wochen mit Cassy Revue passieren und musste zugeben, dass sie ihn nie abweisend oder schlecht behandelt hatte - egal, wie mies er gelaunt war. Alle seine boshaften Experimente hatte sie mitgemacht, ohne zu zögern. Sie hatte ein feines Gefühl für Stimmungsschwankungen. Oftmals hatte sie einen Termin mit ihm genau dann abgesagt, wenn er gerade dachte, dass er heute diese Frau überhaupt nicht ertragen könne.

Er hatte sich unmöglich benommen, mit dem Einfühlungsvermögen eines Amboss. Und doch hatte sie ihm bei jeder Gelegenheit ihr Vertrauen entgegengebracht. Vielleicht war er genau damit überfordert gewesen?

Über was machte er sich eigentlich gerade Gedanken? Über eine Muggel? Aber auch sein zweites Ablenkungsmanöver gelang nicht.

Es war Wochenende und noch früher Nachmittag. Mit wem konnte Snape reden? Er musste mit jemandem reden. Er war durcheinander und das gefiel ihm überhaupt nicht. Mit Dumbledore? Nein. Der hatte selbst genug um die Ohren, als dass er sich jetzt noch diesen Unsinn anhören musste, der wahrscheinlich klang, wie das Geschwätz eines pubertierenden Fünfzehnjährigen.

Mit Remus! Remus Lupin hatte ihm immer seine Freundschaft angeboten und auch bei jeder Gelegenheit gezeigt. Wenn er jetzt mit einem Vorwand zu ihm kam, könnte er vielleicht versuchen, mit Remus darüber zu reden. Er würde ihn nicht auslachen und auch niemandem von diesem Gespräch erzählen.

***

Es klopfte an Lupins Tür. Wer, zum Teufel, störte ihn jetzt. Er wollte gerade ein Nickerchen machen. So schlurfte er in T-Shirt und Schlafanzughose an die Tür. Als er öffnete, stand Snape mit einer halben Flasche Whiskey davor. Das war's dann also mit dem Mittagsschlaf. Wenn Severus freiwillig und mit Alkohol kam, dann gab es einen für ihn schwerwiegenden Grund.

"Ich wollte dein Angebot zum Reden annehmen." Er sah Remus mit einem so hilflosen Blick an, der einen Stein erweicht hätte. Lupin machte die Tür frei und ließ ihn ein.

Er holte zwei Gläser und sie setzten sich an den Tisch, der in einen kleinen Erker des Zimmers eingepasst war. Es war ein heller Platz, da von drei Seiten das Tageslicht durch die Fenster fiel.

"Eis?", fragte Lupin, aber Snape schüttelte den Kopf. Dann holte Remus einen Krug mit Wasser und tippte ihn mit dem Zauberstab an. Die Flüssigkeit gefror augenblicklich und es begannen sich Risse in dem Eis zu bilden. Mit leisen krachenden und knirschenden Geräuschen zerfiel das gefrorene Wasser zu ungleichmäßig großen Eisstücken. Remus füllte sich das Eis ins Glas und schenkte sich und Severus ein.

"Über was möchtest du mit mir reden?" fragte er den Zaubertränkemeister.

"Über Cassiopeia Parker."

Na, das konnte ein interessanter und langer Nachmittag werden, überlegte sich Lupin und lehnte sich zurück. Sicherheitshalber trank er einen großen Schluck und schenkte sich noch einmal nach.

Snape nippte an seinem Whiskey und sah Remus an. Dann erzählte er ihm, was gerade vorgefallen war.

"Ich komme nicht mehr zurecht damit. Ich wollte sie nicht verletzen. Warum ist sie immer freundlich zu mir? Ich meine, wirklich freundlich. Warum macht sie den ganzen Unsinn mit, den ich mir ausdenke, um sie los zu werden?" Er blickte in sein Glas.

Diese Frage beantwortete Remus ihm noch nicht. Er sollte ruhig noch ein bisschen leiden. Das war das Mindeste, was Remus im Moment für sich selbst tun konnte.

"Sie ist eine verdammte Muggel", sagte er wie hilfesuchend, um wieder in sein altes Fahrwasser zu kommen. Aber er war schon zu weit herausgefahren, um den Weg zurück zu finden.

"Und sie ist eine attraktive Frau mit Grips und Gefühl", beendete Lupin den Satz und konnte ein leichtes Zittern in seiner Stimme nicht unterdrücken. Aber Severus war so mit sich selbst beschäftigt, dass er es gar nicht wahrgenommen hatte.

"Severus, hast du dich eigentlich schon einmal gefragt, wie du sie behandeln würdest, wenn sie eine von uns wäre?"

Warum sollte er solche Gehirnakrobatik vollbringen? Sie war keine von ihnen. Ende. Über Was-wäre-wenn, dachte er nicht gerne nach. Es brachte ihm früher oder später jedes Mal die schmerzliche Erkenntnis, dass auch er sein Leben hätte in andere Bahnen lenken können. Severus schüttelte den Kopf. Nein. Die Was-wäre-wenn-Frage mochte er nicht.

"Gut. Frage ich einmal anders herum. Kannst du Cassy nicht einfach als Menschen sehen? Nicht als Muggel. Sie hat zwar keine magischen Kräfte. Aber sie hat eine besondere Begabung."

"Und was wäre das?", fragte Snape gedehnt und betont gelangweilt und trank wieder einen Schluck. Er wollte ihr keine Besonderheiten zugestehen. Egal, was es war.

"Sie kann Stimmungen erfassen. Sie kann in Gesichtern lesen und Körpersprache verstehen. Sie weiß genau, wann du in Ruhe gelassen werden willst, wann du explodierst und wann dich Sorgen drücken. Verstehst du? Sie hat ein hoch ausgeprägtes Feingefühl für, ja, mir fällt kein anderes Wort dafür ein, Stimmungen. Das ist etwas, was sogar vielen von uns fehlt." Dabei sah er Snape direkt in die Augen und ergänzte: "Und einigen von uns ganz besonders." Severus hatte den Wink sehr wohl verstanden, äußerte sich aber nicht. Remus fuhr fort: "Sie hat Fingerspitzengefühl. Instinkt. Und es verletzt sie zutiefst, wenn man sie dauernd abweisend behandelt." Diesen letzten Satz wollte er eigentlich gar nicht sagen. Der war ihm so rausgerutscht.

"Aber wir wollten eigentlich über dich sprechen, nicht über Cassy", wechselte Lupin sofort das Thema, als er merkte, dass Snape ihn komisch ansah. War ihm hier etwas entgangen?

"Du magst sie, nicht wahr?", fragte Severus ihn gerade heraus. Remus nickte. "Ja, aber sie erwidert meine Gefühle nicht", schloss er knapp. "Was bedrückt dich also genau, Sev'?"

Severus schaute ihn noch einen Moment an. Er hatte sehr wohl gemerkt, dass Remus nicht darüber sprechen wollte. Dann fuhr er aber fort: "Als ich heute ihre verbrannten Beine gesehen habe, habe ich mich gefragt, was eigentlich in meinem Kopf vorgeht. Nachts, unterwegs mit Voldemort, zerreißt es mich jedes Mal, wenn ich jemand anderem Schaden zufügen muss. Verstehst du, Moony? Und hier in Hogwarts benehme ich mich ihr gegenüber wie ein ... ", Severus fehlten die Worte. Er konnte Remus einfach nicht klar machen, was er wollte. Aber der hatte ihn längst verstanden. Severus war mit seinen Gefühlen völlig überfordert.

"Weißt du, Remus", fing er erneut an und seine Augen bekamen einen träumerischen Ausdruck. " Als ich mit ihr mit dem Tandembesen geflogen bin, hat sie ihre Arme um mich gelegt. Es war ein schönes Gefühl. Sie war so warm und nah."

"Und als du auf der Krankenstation gelegen hast, hat sie die ganze Nacht an Deinem Bett verbracht und dich versorgt. Und als du mit ihr bei dem Kröter warst, ist sie trotz ihrer Angst mit dir zu diesem Monstrum gegangen. Mein Gott, Sev'! Wach auf!" Remus wäre am liebsten aufgesprungen, um Snape mehrmals mit den Fingerknöcheln auf den Kopf zu klopfen, damit er wach wird.

"Sie mag dich. Oder glaubst du, ein normal denkender Mensch hätte deine Schikanen alle mitgemacht, wenn es da nicht etwas Besonderes gäbe, für das sich das Schikanieren lassen lohnt?"

Snapes Atem ging schneller. Er schaute Remus mit flackerndend Augen fast panisch an. "Ich will das aber nicht."

"Weil sie eine Muggel ist, oder warum?" Remus merkte, dass er Snape provozieren musste. Dessen Kopf funktionierte erstaunlich langsam, wenn es um ihn selbst ging.

"Nein. Weil ...", hilflos starrte er in sein Whiskeyglas. Aber die Antwort stand auch nicht auf dem Grund des Glases.

"Weil du Angst davor hast, dass dich jemand um deiner Selbst willen mag", beendete Lupin den Satz leise. "Weil du Angst hast, es könnte dich noch einmal jemand so verletzten, wie Lilly Potter." Snape holte Luft und wollte etwas zu dem Thema sagen, aber Lupin schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. "Weil du Angst hast, dass du die Erwartungen, die eine neue Freundschaft oder Partnerschaft an dich stellen, nicht erfüllen könntest." Er holte Luft und sagte mit Nachdruck und Überzeugung: "Und das ist Unsinn. Es gibt nichts Schöneres auf der Welt, als wenn man sein Leben mit all seinen Unzulänglichkeiten und schönen Momenten mit jemandem teilen kann. Ob mit Freunden oder in der Liebe. Severus, nimm das Leben an. Du hast es verdient! Vertrau' ihr. Sie vertraut dir schon immer."

Snape sah ihn an. Was bei Moony so einfach klang, würde für ihn Schwerstarbeit bedeuten. Wo sollte er beginnen? Wieso kannte Moony ihn so gut? Es war alles so verwirrend.

"Ich werde jetzt zu ihr gehen und mich entschuldigen", sagte Severus, einer plötzlichen Erkenntnis folgend, und stand auf.

"Ein guter Einfall", grinste Lupin ein wenig ironisch. Er brachte den Zaubertränkemeister an die Tür und schloss hinter ihm ab.

Dann ließ er sich schwer auf den Stuhl am Tisch fallen und dachte eine Weile über seine eigenen Gefühle für Cassy nach. Und die waren wirklich tief und ehrlich. Severus hatte seinen Whiskey vergessen. Remus schenkte sich einen 8fachen ein. Er prostete einem imaginären Mittrinker zu und sagte leise: "Ich trinke auf dich, Cassy. Alles Gute." Und bevor die Träne seine Wange herunterlaufen würde, die sich gerade im Winkel seines linken Auges zu bilden begann, stürzte er den Whiskey in eine Zug herunter und schenkte sich nach.

Und in seinem Schmerz leerte er die restliche Flasche.

***

Snape lief nach seinem Besuch bei Remus trotzdem noch fast drei Stunden über das Gelände von Hogwarts, um über das Gespräch nachzudenken und vor allen Dingen, um sich Mut zu machen. Und um sich vier kleine Worte in der richtigen Reihenfolge zurechtzulegen, die er sagen wollte. Es waren zwar nur vier Worte, aber die wollten wohl durchdacht sein. Im Moment hätte er lieber für Voldemort eine Armee von Kobolden erlegt, als sich bei dieser Frau zu entschuldigen.

***

Draco Malfoy stand bereits vor seinem Büro als er zurückkam, um sich umzuziehen. Den hatte er ganz vergessen. Und eigentlich brauchte er ihn im Moment, wie ein Loch im Kopf. Aber er musste seiner Verantwortung als Hauslehrer von Slytherin nachkommen.

"Kommen Sie rein," forderte er den Schüler auf.

"Was war das heute auf dem Hof?" fragte er ihn, als beide in seinem Büro Platz genommen hatten. "Warum haben Sie das Feuerwerk ausgetauscht?"

"Ich dachte, das würde Ihnen gefallen, wenn diese Muggel sich nicht nur erschrecken würde, sondern auch so ein bisschen Schmerzen hätte", sagte Malfoy wahrheitsgemäß und sah ihn begeistert an. Der Junge hatte es also ihm zuliebe getan. Er musste jetzt vorsichtig sein mit seiner Reaktion.

"Ich werde die fünfzig Punkte Abzug auf zwanzig Punkte reduzieren. Sie müssen eine Strafe bekommen. Aber das nächste Mal, Mr. Malfoy, halten Sie sich an meine Anweisungen. Meine Entscheidungen haben in den meisten Fällen einen Sinn.", sagte er mit einem sarkastischen Tonfall. "Ich glaube nicht, dass Ihr Vater begeistert wäre, wenn er wüsste, dass sein Sohn durch sein unüberlegtes Handeln eine lange geplante Strategie zunichte machen würde." Malfoy hatte jetzt ungefähr den gleichen Gesichtsausdruck wie Goyle, wenn ein Satz aus mehr als fünf Worten bestand. Snape seufzte und sagte: "Tun Sie einfach, was ich Ihnen sage. Ich habe meine Gründe." Jetzt hatte Malfoy begriffen. Snape entließ ihn mit einer Handbewegung aus dem Büro. Als er in der Tür stand, rief er ihm hinterher: "Und schreiben Sie Ihrem Vater schöne Grüße von mir, wenn Sie ihm jetzt eine Eule schicken."

Malfoy war weg und Severus legte sein Gesicht in seine Hände. Dieser kleine Mistkerl. Er hatte es nicht ihm zuliebe getan. Er hatte die Knallfrösche ausgetauscht, weil er mittlerweile genau so ein Sadist wie sein Vater war. Wenn Severus die Möglichkeit gehabt hätte, hätte er Draco zu einer anderen Familie gegeben. Es war schade um den Jungen. Er war intelligent und noch zu erziehen.

Dann ging er in sein Quartier, um sich umzuziehen. Er hatte dieses Gefühl in seinem Bauch, das einen erfasst, wenn man etwas Unaufschiebbares hinter sich bringen musste und nicht wusste, wie es ausgehen würde.

***

Cassy kam gerade aus einem wohltuenden Entspannungsbad. Es begeisterte sie immer wieder, in diesem großzügigen, im Boden eingelassenen Becken zu baden. Gott sei Dank, hatte Poppy die Verbrennungen so verarzten können, dass keine Narben zurückblieben. Sie beruhigte ihre noch immer aufgewühlten Nerven damit, dass es sich um einen Dumme-Jungen-Streich gehandelt hatte, dem man keine Bedeutung beimessen sollte. Ein Glas Rotwein und ein gutes Buch - ein stinknormales Muggelbuch mit dem Titel "Herr der Ringe" - würden ihr jetzt beim Abschalten helfen. Sie zog sich schnell ihren Hausanzug an und wollte es sich gerade gemütlich machen, als es an die Tür klopfte.

Wer sollte jetzt noch kommen? Cassy ging zur Tür und öffnete. Vor ihr stand Severus Snape. Mit einem erstaunten Blick lud sie ihn mit einer Handbewegung zum Eintreten ein. Zögernd betrat er ihr Appartement.

"Möchten Sie sich nicht setzen?" fragte sie ihn und zeigte auf einen der beiden riesigen gemütlichen Sessel vor dem Kamin. Das Feuer darin hatte das Appartement angenehm gewärmt und warf ein goldenes Licht in den Raum. Obwohl es Sommer war, wurde es in den alten Gemäuern des Schlosses nachts empfindlich kalt. Snape zögerte, ließ sich aber dann umständlich in einem der Sessel nieder. Sie setzte sich gegenüber und schaute ihn aufmerksam an. Er sah müde aus.

"Ich wollte gerade eine Flasche meines Lieblingsrotweines aufmachen. Südafrikanischer Edelrood. Möchten Sie ein Glas mittrinken?"

Snape überlegte, ob er das tun sollte und nickte dann. "Gerne, danke," flüsterte er. Sie holte den Wein und begann ihn umständlich zu öffnen. Er sah ihr einen Moment zu und räusperte sich: "Darf ich Ihnen helfen?" Dankbar übergab sie ihm die Flasche und holte zwei Gläser. Snape murmelte etwas und tippte die Flasche mit dem Zauberstab an. Der Korken schob sich langsam und sachte aus der Flasche heraus und fiel auf den Tisch.

Sie schenkte ein wenig Wein in sein Glas und bedeutete ihm, zu kosten. Snape trank einen winzigen Schluck und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, sagte er:

"Ein hervorragender Wein."

Und zum ersten Mal, so lange sie in Hogwarts war, lächelte Snape. Er lächelte über das ganze Gesicht. Ohne Häme, ohne Ironie, ohne Zynismus, ohne Gehässigkeit. Es war ein umwerfendes Lächeln. Cassy betrachtete ihn fasziniert. Seine tiefschwarzen Haare umrahmten sein schmales Gesicht wie ein Ebenholzrahmen ein kostbares Bild. Seine schwarzen Augen schienen jegliches Licht zu verschlingen. Das Feuer im Kamin zauberte ein aufregendes Licht- und Schattenspiel auf sein ebenmäßiges Gesicht mit den hochstehenden Wangenknochen und ließ es wunderschön aussehen. Er blickte sie an und fragte - immer noch lächelnd - "Könnte ich noch etwas Wein bekommen?" Cassy wurde tiefrot, weil ihr jetzt erst bewusst wurde, dass sie ihn mit der Flasche in der Hand unverwandt angestarrt hatte. Hoffentlich hatte sie wenigstens den Mund zugelassen.

"Ich, äh, bitte entschuldigen Sie, natürlich", stotterte sie. Sie füllte beide Gläser und setzte sich in ihren Sessel. Sie hielt ihr Glas ins Licht des Kaminfeuers. Der Wein hatte eine so vollkommene, tief-dunkelrote Farbe, dass das Licht ihn nicht durchdringen konnte.

"Sie fragen sich sicher, warum ich hier bin", begann Snape leise zu sprechen. Dabei starrte er unverwandt ins Kaminfeuer. Cassy sah kurz zu ihm. Als sie jedoch bemerkte, dass er keinen Blickkontakt beim Sprechen wollte, wandte auch sie sich wieder dem Flammenspiel zu.

"Ich möchte mich ..." begann er und stockte. Dann leerte er sein Weinglas in einem Zug und schenkte sich nach.

Sie schaute ihn an. Auf einmal hatte sie das Gefühl, dass er noch niemals so verletzlich und offen war, wie in diesem Augenblick. Er hatte den Sprich- mich-bloß-nicht-an-Snape vor ihrer Türe, wahrscheinlich sogar in seinem Kerker gelassen. Sie hätte ihn jetzt gerne einfach in die Arme genommen und ihm gesagt, dass er schweigen solle. Und dass sie wisse, welche Hölle er durchlebte. Und dass sein unmögliches Verhalten nie ein Thema zwischen ihnen war. Naja. Fast nie.

Aber sie hütete sich, im Moment irgend etwas zu sagen. Er hatte endlich den Mut gefunden, sich ihr gegenüber zu öffnen. Er war zu ihr zu kommen, hatte seine Hand gehoben, an ihre Tür geklopft, gewartet und war eingetreten. Sie wollte diesen wunderbaren Moment nicht mit völlig überflüssigem Geschwätz zerstören. Sie wusste von Remus, dass er seit Jahren von seinen Mitmenschen immer wieder verletzt, benutzt, ausgebeutet und in die Ecke gestellt worden war. Niemanden - außer einigen ganz Wenigen - interessierte es, was er dachte oder fühlte, ob er Schmerzen hatte oder glücklich war, ob er gerade sein Leben riskierte oder schon längst tot war. Welche Überwindung musste es ihn kosten, aus diesen dunklen Tiefen seiner Seele, seinen immerwährenden schlechten Erfahrungen, noch einmal einen Versuch zu wagen und Vertrauen zu schenken. So oft war er enttäuscht worden.

Er holte tief Luft und setzte erneut zum Sprechen an. "Ich möchte...", wieder verstummte er und drehte nachdenklich sein Weinglas in den Händen. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper. Er merkte, wie ihn der Mut verließ. Er stellte das Glas mit einer schnellen Bewegung auf den Tisch, stand auf und ging Richtung Tür.

"Ich werde gleich morgen früh mit Professor Dumbledore reden, dass Sie von diesem unsinnigen Betreuungsauftrag mir gegenüber entbunden werden," sagte Cassy sanft und freundlich. "Ich möchte nur dann von Ihnen etwas gezeigt bekommen, wenn Sie das aus eigenen Stücken wollen."

Snape war stehen geblieben, als sie zu sprechen begonnen hatte. Jetzt drehte er sich zu ihr um und kam zurück zum Sessel. Er holte erneut Luft. Man sah ihm an, dass es ihn unendliche Überwindung kostete, was er jetzt sagte: "Ich möchte mich bei Ihnen für mein Verhalten entschuldigen." Dann packte er das abgestellte Glas Wein und stürzte auch dieses in einem Zug hinunter. Cassy nickte und lächelte. Sie machte erneut eine einladende Handbewegung auf den freien Sessel. "Bleiben Sie doch noch. Es ist so viel schöner, wenn man den Wein nicht alleine trinken muss."

Severus sah sie ein wenig verwirrt an. War das alles, was sie zu sagen hatte, nachdem er sich am liebsten aufgelöst hätte, bevor er sich entschuldigte? Dann verstand er. Er verstand, dass es in ihren Augen nichts zu verzeihen gab. Dass sie ihn so akzeptierte, wie er war. Es war ganz einfach. Die Einladung zum Bleiben war ihre Antwort. Dann machte es irgendwo in seinem Kopf "Klick". Warum sollte er nicht bleiben? Er hatte sich doch so nach Gesellschaft gesehnt - vor allem in den letzten Wochen. Sie hatte ihn eingeladen und er würde diese Einladung annehmen. Er schaute sie mit einem zaghaften Lächeln an und nickte: "Gerne."

Nach einem fragenden Blick auf Cassy zog er seine Robe aus und setzte sich wieder in den Sessel. Eine unglaubliche Spannung fiel von ihm ab. Es war für ihn ein lange verschüttetes und aufregendes Gefühl, dass jemand ganz offensichtlich Wert auf ihn als Menschen, auf seine Gesellschaft legte und er wollte dieses Gefühl genießen. Er hatte soviel Grausames und Schlimmes erlebt in den letzten Monaten. Meist ging es an die Grenzen des Verkraftbaren. Und er war es so müde. Auch er hatte ein Recht auf Glück und er wollte dieses Geschenk, das sich ihm jetzt bot, das für ihn so kostbare Gefühl, willkommen zu sein, mitnehmen, es in sein Innerstes einschließen und bewahren. Moony hatte recht. Er wollte jetzt beginnen, das Leben anzunehmen. Es würde noch früh genug wieder in seine trostlosen Bahnen zurückkehren oder vielleicht auch sehr schnell enden.

Sie saßen schweigend nebeneinander und sahen den Flammen bei ihrem verzehrenden Spiel zu. Cassy hatte sein Glas nachgeschenkt. Ab und zu sah einer zum anderen hinüber. Und ab und zu begegneten sich flüchtig ihre Blicke. Für heute war alles gesagt. Jedes weitere Wort, jede gequälte Konversation hätte dieses hauchdünne Band, das heute durch den Mut von Severus geknüpft worden war, sofort und unwiderruflich zerrissen und seine Bereitschaft, sich noch einmal vertrauensvoll jemandem zu öffnen, wäre noch tiefer in sein Innerstes zurückgedrängt oder vielleicht sogar endgültig zerstört worden.

Severus' Gesichtszüge begannen sich zu entspannen. Er schlief ein. Cassy lächelte. Der südafrikanische Rotwein tat sein Werk. Er hatte einen höheren Alkoholgehalt als normaler Wein und man durfte ihn nicht unterschätzen. Severus' gleichmäßige Atemzüge und das Prasseln des Kaminfeuers schafften eine Atmosphäre des tiefen Friedens und der Ruhe in Cassy's Zimmer und in ihren aufgewühlten Gedanken.

Sie betrachtete ihn eingehend, froh darüber, dass er es nicht wieder bemerkte. Keine Sekunde dieses friedlichen Augenblickes wollte sie verpassen. So saß sie lange Zeit und ihr Blick ruhte auf Severus' Gesicht. Als sie müde wurde, stand sie auf und wollte ihn mit einer Baumwolldecke zudecken. Das Geräusch, das sie beim Aufstehen machte, weckte ihn jedoch.

Sein Blick war gehetzt und wirr. Mit ungelenken Bewegungen versuchte er sofort nach seinem Zauberstab zu greifen, was ihm bei der ungewohnten Umgebung aber nicht gelang. Cassy ging rasch zu ihm, legte ihm die Hand beruhigend auf die Schulter und flüsterte "Schschhh. Sie sind eingeschlafen. Es ist alles in Ordnung." Er sah sie an und langsam beruhigten sich seine Bewegungen als er erkannte, wo er war.

"Ich wollte gerade ins Bett gehen," sagte Cassy. Er stand sofort auf. Auf dem Weg zur Tür zog er seine Robe an. Cassy begleitete ihn.

"Gute Nacht und danke, dass Sie heute versucht haben, mich gegen das Feuer zu schützen," sagte Cassy leise. Kurz flammte wieder das Schuldgefühl in ihm auf. Er hatte doch von dem Streich gewusst, aber er brachte es nicht fertig, es ihr zu sagen. Er drehte sich um und schaute sie an. Da war es wieder. Dankbarkeit. Freundschaft? Vertrauen! "Danke für den Wein und ... Sie wissen schon." Er deutete eine Verbeugung an und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen in Richtung seiner Räume davon.

Als Cassy im Bett lag, holte sie sich noch einmal dieses umwerfende Bild vor Augen, wie das Kaminfeuer mit den Konturen seines Gesichtes gespielt hatte, welche Aufrichtigkeit auf einmal in seinen Augen gewesen war und sie wusste, dass sie seit diesem Augenblick endgültig und hoffnungslos verloren war. Es hatte keinen Zweck mehr, sich selbst etwas vorzumachen. Severus Snape ist einfach nur interessant. Er ist eine Herausforderung. Die Wahrheit war: Sie liebte ihn. Sie hatte ihn von dem Augenblick an geliebt, als sie das erste Mal bemerkte, welche Leidenschaft, Sensibilität und Verletzlichkeit dieser Mann vor der Welt versteckte. Und als sie zum ersten Mal an seinem Krankenbett in die unergründlichen Tiefen seiner schwarzen Augen abgestürzt war. Sie schlief mit einem zufriedenen Gefühl ein.

***

Severus lag noch lange wach. Trotz der inneren Ruhe, die er aus Cassy's Appartement mitgenommen hatte, beschäftigte ihn das Gespräch mit Remus erneut. Nimm' das Leben an, hatte er gesagt. Er mag sie, aber sie erwidert seine Gefühle nicht. Auch das hatte Remus zu ihm gesagt. Wie fühlte Remus sich jetzt? Es war ihm vor lauter Durcheinander in den eigenen Gefühlen völlig entgangen, dass der Freund vielleicht selbst Hilfe brauchte. Er würde morgen noch einmal zu ihm gehen und mit ihm reden. Vielleicht wusste Remus ja auch noch mehr? Immerhin war er oft mit Cassy zusammen gewesen. Nein. Er würde ihn nicht fragen. Er würde ihm zuhören und mit ihm reden, damit diese Sache nicht ihre aufkeimende Freundschaft belasten würde. Dann schlief er endlich ein. Aber nur kurz. Denn auch diese Nacht war er für Voldemort unterwegs.

***

Als Professor Dumbledore an diesem Morgen fröhlich in sein Büro kam, saß Cassiopeia schon dort und lächelte ihn an.

"Was kann ich für Sie tun, Miss Parker?" fragte er sie.

Cassy antwortete nicht sofort. Sie hatte sich alles genau zurecht gelegt, was sie sagen wollte, aber jetzt war es doch schwieriger als sie dachte. Sie stand auf und ging zu Fawkes. Der Phoenix rieb augenblicklich seinen Kopf an ihrem Haar. Sie schlang die Arme um den großen Vogel und lehnte ihr Gesicht an seinen Körper. Dumbledore lächelte, als er sah, mit welcher Hingabe der Phoenix sich das Gefieder kraulen ließ.

"Ich möchte, dass Sie Severus von seinem Betreuungsauftrag mir gegenüber entbinden," begann sie ohne Umschweife.

Sie streichelte den Phoenix noch einmal ausgiebig und setzte sich dem Schulleiter dann gegenüber. Dieser fragte jedoch nichts, sondern blickte sie erwartungsvoll an.

"Er war gestern Abend bei mir. Wir haben ein Glas Wein getrunken und ins Kaminfeuer gestarrt. Dann ist er eingeschlafen," versuchte Cassy so belanglos wie möglich zu erzählen. Dies war mit Sicherheit keine Erklärung, warum aus 'Snape' auf einmal 'Severus' in Cassy's Sprachgebrauch geworden war.

Dumbledore grinste, sagte allerdings nichts. Er sah ihr unverwandt in die Augen. Als sie seinen Blick nicht mehr ertragen konnte sagte sie: "Naja, und er hat sich bei mir entschuldigt für sein Verhalten seit ich hier in Hogwarts bin."

Der Schulleiter nickte. Er war froh, dass Cassy es endlich geschafft hatte, ihn zum Nachdenken zu bringen und ihr Einsatz in den letzten Wochen war wirklich beachtlich hoch gewesen. Jede andere Frau hätte ihn längst zum Teufel geschickt.

"Und Sie wollen sein Verhalten jetzt damit belohnen, dass Sie ihn von der Betreuung entbinden?" fragte er sie in diesem Moment bewusst provozierend und das Bild des väterlichen Freundes, das sich gerade in ihr aufgebaut hatte, zerplatzte sofort wieder.

Einen Moment blickte sie ihn verwirrt an. "Nein, natürlich nicht. Was soll die Frage nach Belohnung? Ich verstehe Sie nicht! Ich hätte heute so oder so hier gesessen und hätte sie darum gebeten. Es war außerdem nicht meine Idee, ihn damit zu betrauen. Das haben Sie getan. Er hat so viel um die Ohren. Er braucht nicht noch einen 'Auftrag'. Ich habe es nicht mehr ertragen, dass er sich unter Zwang mit mir abgeben muss. Wissen Sie eigentlich, wie schwierig und belastend diese Situation auch für mich die ganze Zeit war? Zu wissen, dass seine kleinen und großen Gemeinheiten hauptsächlich aus dieser unsinnigen Aufgabe entstanden sind. Bis gestern Abend wusste ich nicht, ob ich überhaupt jemals die Chance bekomme, den echten Severus Snape kennen zu lernen. Ich konnte ihm all die Zeit für sein Verhalten nicht einmal böse sein." Sie dachte einen Moment nach und ergänzte: "Bis auf die Sache mit diesem blöden Besen!"

Dumbledore sah sie ernst an.

"Sie mögen ihn sehr, nicht wahr?" Das hatte er schon festgestellt, als er Cassy unter diesen unseligen Umständen das erste Mal kennen gelernt hatte. Und er hatte gesehen, wie sie ihn in der Halle beim Essen immer wieder verstohlen ansah.

"Ja," antwortete sie, blickte kurz nach unten und sah Dumbledore dann gerade in die Augen. "Ja, ich mag ihn wirklich sehr", bekräftigte sie noch einmal ihre Aussage mit fester Stimme. Der Phoenix legte den Kopf schief und sah sie an. "Er weiß immer noch nicht, dass ich ihm das Leben gerettet habe, nicht wahr?"

Dumbledore schüttelte den Kopf.

"Das soll auch so bleiben," sagte Cassy leise. "Ich möchte nicht, dass er es jemals erfährt. Und entbinden Sie ihn bitte von dieser Betreuung."

Dumbledore blickte sie lange schweigend an. Als er jedoch ihren entschlossenen Gesichtsausdruck sah, der keinen Widerspruch duldete, nickte er. "Allerdings unter einer Bedingung." Sie sah ihn kurz überrascht an. "Was meinen Sie?" Dumbledore grinste wieder. "Diese Betreuung wird nicht offiziell beendet. Das ist eine Abmachung zwischen Ihnen, Snape und mir." Cassy lachte. "Wenn das alles ist? Damit kann ich leben." Und einen Moment wunderte sie sich über diese Vereinbarung. Aber sie wusste, dass der Schulleiter für alles seine Gründe hatte.

"Gehen wir frühstücken?" fragte er und stand auf. Sie lächelte und nickte. "Gehen wir frühstücken," antwortete sie.

***

Dumbledore hatte direkt nach dem Frühstück mit Snape auf dem Flur gesprochen und sie hatte gesehen, wie ein kurzes Lächeln über sein Gesicht huschte. Dann sah er zu ihr herüber - und hob kurz grüßend die Hand.

Die nächsten Tage sahen sie sich nicht. Cassy war es Abends jetzt langweilig. Aber auch Severus saß in seinem Büro und wusste nichts so recht mit sich anzufangen. Irgendwie war die Luft raus. Es war kein Muss mehr da, sondern ein Kann.

Remus ging beiden aus dem Weg. Cassy wusste nicht warum, ließ ihn aber in Ruhe.

***

Sie hatte gerade Unterricht in der fünften Klasse. Draco Malfoy lümmelte wie immer auf seinem Stuhl mit den Füßen auf dem Tisch, als Snape in ihren Unterricht kam. "Was kann ich für Sie tun, Professor Snape?", fragte Cassy freundlich. In diesem Moment gab es einen lauten Schlag. Draco war mit seinem Stuhl umgefallen. Als er Snape die Tür hatte reinkommen sehen, wollte er so schnell wie möglich die Beine vom Tisch bekommen, was ihm aber nicht gelang.

"Zehn Punkte Abzug für Slytherin", herrschte Snape über die Tischreihen Draco Malfoy an. "Sie wissen wohl nicht, wie Sie sich im Unterricht zu benehmen haben." Und zu Cassy gewandt sagte er: "Sitzt er etwa immer so in Ihrem Unterricht?" Cassy sah ihn etwas verständnislos an. Hatte er ihr eigentlich ein einziges Mal zugehört, als sie mit den Punktabzügen zu ihm gekommen war? Nach dem Streit damals waren die Slytherins wieder alle komplett erschienen, aber Malfoy hatte ihr seinen Unmut bei jeder sich bietenden Gelegenheit gezeigt. Und das Füße-auf-den-Tisch-legen gehörte dazu. Würde sie jetzt Snape's Frage mit ja beantworten, würde Malfoy einen Rüffel bekommen und sie hätte wieder darunter zu leiden. Würde sie mit nein antworten, würde Malfoy hämisch grinsen, denken, dass Cassy Angst vor ihm hätte und sie würde trotzdem ihr Fett weg bekommen. Also sagte sie "Ja, aber wir arbeiten daran, nicht wahr Mr. Malfoy." Snape warf ihm noch einen langen, nicht deutbaren Blick zu und sagte zu Cassy: "Darf ich Sie bitte kurz sprechen?"

"Schlagt bitte eure Bücher auf Seite 112 auf und lest schon einmal das Kapitel über Telefone." Dann folgte sie Snape auf den Flur.

Es war ein komisches Gefühl. Zum ersten Mal, seit sie in Hogwarts war, stand er ihr mit einem entspannten Gesicht gegenüber. Er holte tief Luft. Wieder merkte sie, wie schwer ihm das alles fiel. "Ich habe mich gefragt, ob Sie Lust hätten, mit mir heute Abend einen kleinen Ausflug zu unternehmen?"

Cassy freute sich und das konnte er unzweifelhaft von ihrem Gesicht ablesen. Ein kribbelndes Gefühl zuckte durch seinen Magen, als er ihre offenkundige, ehrliche Freude sah. Sie verabredeten sich nach dem Abendessen. Severus drehte sich, wie immer, grußlos um und verschwand Richtung Keller. Cassy ging wieder in ihr Klassenzimmer zurück.

Nach dem Unterricht beschloss sie, endlich zu Remus zu gehen und ihn zu fragen, was mit ihm los sei. Es schmerzte sie, dass er ihr seit ein paar Tagen aus dem Weg ging.

Als sie an seinem Appartement angekommen war, klopfte sie. Die Tür ging auf und - Severus kam heraus.

"Was machen Sie hier?", fragte er erstaunt. Cassy war zu überrascht, um ihm die gleiche Frage als Gegenfrage zu stellen.

"Hmm, also. Ich wollte mit Professor Lupin reden." Sie hörte im Hintergrund ein dunkles Grollen. Snape stand in der Tür wie eine alte deutsche Eiche und dachte überhaupt nicht daran, Cassy einzulassen.

"Miss Parker, bitte gehen Sie." Er blickte kurz über seine Schulter. "Ich sehe Sie dann beim Abendessen." Ohne ein Wort von ihr abzuwarten, schloss er die Tür vor ihrer Nase und ließ sie stehen. Cassy schüttelte den Kopf und tat, wie ihr geheißen. Sie merkte, dass die Wochen in Hogwarts so langsam zu wirken begannen. Sie wunderte sich einfach nicht mehr so recht. Vielleicht würde sie beim Abendessen mehr erfahren. Aber auf jeden Fall konnte sie ihn nachher fragen, wenn er sie zum Ausflug abholte.

***

Als er zum Abendessen kam, setzte er sich - wie immer - wortlos neben Cassy. Sie tippte ihm leicht auf die Schulter und flüsterte: "Was ist mit Remus?" Er schaute von seinem Essen hoch und sagte genau so leise: "Bitte fragen Sie mich nicht. Ich kann im Moment nicht darüber reden. Aber so bald es ihm besser geht, können Sie ihn fragen." Damit zog Cassy sich auf ihren Platz zurück und ließ ihn den Rest seines Abendessens in Ruhe. Er verließ sofort die Halle als er aufgegessen hatte und eilte sich, in sein Büro zu kommen. Er musste prüfen, ob er für Remus noch Erleichterung finden konnte. Aber er stellte fest, dass er alles in seiner Macht stehende getan hatte.

Severus experimentierte seit einiger Zeit mit dem Werwolfbanntrank herum und suchte nach einer Formel, die Remus drei Monate am Stück von seinem Leiden befreite. Er hatte den festen Ehrgeiz, dem Freund zu helfen.

***

Remus Lupin war ein Werwolf. Ein Crinos. Eines jener Lebewesen, die tagsüber als normale Menschen unter den anderen Menschen lebten und sich bei Vollmond in riesige aufrecht gehende Wolfsmenschen verwandelten. Immer auf der Suche nach Blut. Nicht mehr fähig, auch nur eine einzige menschliche Regung zu spüren, bis der Vollmond um ist bzw. der Tag anbricht. Dann verwandelten sie sich zurück und konnten sich an nichts mehr erinnern. Werwölfe genossen in der Zauberergesellschaft einen schlechten Ruf. Sie galten als unzuverlässig und wahrheitsscheu.

Nachdem Severus seine neue Formel ausprobiert hatte, bat er Remus um sein Einverständnis für dieses Experiment. Remus nickte. Drei Monate am Stück ohne Verwandlung wären für ihn wie ein Gottesgeschenk gewesen. Die Verwandlungen waren immer sehr kräftezehrend und wenn Severus ihn nicht mit einem Kräfte aufbauenden Trank versorgen würde, wäre Remus in den Tagen, an denen er sich doch verwandelt hatte, krank und völlig kraftlos gewesen. Er war schon als Kind von einem Werwolf verletzt worden und hatte sich seine gesamte Schulzeit damit herumgeplagt. Dumbledore hatte ihn seine Ausbildung in Hogwarts machen lassen, obwohl er davon wusste. Man hatte ihm eine alte Hütte zur Verfügung gestellt, in der er in den drei Tagen seiner Verwandlung bleiben konnte. Damals hatte er drei sehr gute Freunde, die ihm in dieser Zeit zur Seite standen. Sie bildeten sich selbst zu Animagi aus. Das sind Zauberer, die sich in Tiere verwandeln können, denn der Werwolf greift keine Tiere an. So konnten ihm seine Freunde Gesellschaft leisten, ohne dass sie verletzt wurden und gleichzeitig aufpassen, dass Remus nicht die Hütte verließ. Wenn er sich verwandelt hatte, heulte er nachts sehr oft. Die Bewohner von Hogsmeade begannen die wildesten Geschichten um die Hütte zu erzählen. Aber keiner von ihnen traute sich in die Nähe. Man hatte das Gebäude die "heulende Hütte" getauft. Die Bewohner erschreckten ihre Kinder damit. "Wenn du jetzt nicht brav bist, kommst du in die heulende Hütte." So oder ähnlich drohte man ihnen, wenn man mit normalen Erziehungsmaßnahmen nicht weiter kam.

Der normale Werwolfbanntrank war von Severus jetzt schon so perfektioniert worden, dass Remus sich in Vollmondnächten nicht mehr verwandelte, sich nicht einmal mehr sehr müde oder träge fühlte. Er musste den Trank allerdings an diesen Tagen im Abstand von zwölf Stunden regelmäßig einnehmen und er musste immer heiß sein. Außerdem schmeckte das Gebräu widerlich und man konnte den Geschmack nicht verfeinern, da die Zugabe von Zucker ihn sofort unbrauchbar machte.

Severus hatte Remus den neuen Trank mitgebracht und der hatte ihn langsam geschluckt. Heute Abend war wieder Vollmond, allerdings war der Mond noch nicht aufgegangen. Als der Trank nach wenigen Minuten zu wirken begann, wurde Remus auf einmal blass. Er ließ den Becher fallen und griff sich an den Hals. Severus sah den Freund schockiert an und ging sofort zu ihm. Er nahm ihn an den Schultern und schüttelte ihn. "Remus! Was ist los!", rief er ihn immer wieder an. Aber Remus konnte ihm keine Antwort gegen. Er röchelte, als hätte große Schwierigkeiten beim Atmen und drehte sich um die eigene Achse. Sie hatten ausgemacht, dass Severus ihn sofort mit einem Bann belegen oder fesseln sollte, falls es schief geht. Und es ging schief. Und zwar gründlich.

Remus Körper begann sich zu krümmen. Sein Röcheln war in ein heiseres Atmen übergegangen und er stöhnte. Er musste unglaubliche Schmerzen haben. Severus fesselte ihn sofort mit den magischen Schnüren aus seinem Zauberstab und legte ihn auf sein Bett. Hektisch suchte er die Phiole mit dem normalen Werwolfbanntrank, die er eingesteckt hatte. In Remus Gesicht begannen Haare zu sprießen. Seine Nase, sein Mund und sein Kinn zogen sich langsam mit einem unangenehmen, gummiartigen Geräusch nach vorne und bildeten eine Wolfsschnauze aus. Seine Zähne wurden immer länger und seine Hände verwandelten sich in scharfe Klauen. Als die Verwandlung vollendet war, lag Remus als Werwolf im Bett. Er war hässlich, fand Severus mit einem Blick auf das Bett, während er noch immer die Phiole suchte. Der gutaussehende Freund mit den glänzenden blauen Augen war nicht mehr zu erkennen. Auf dem Bett lag eine Bestie. Er sah den lauernden, mordlüsternen Blick, der in die Augen des Werwolf einzog, als er Severus musterte. Der Werwolf begann, an seinen Fesseln zu ziehen und grollte dumpf. Severus hatte beschlossen, dieses haarige Ding nicht als Remus zu bezeichnen. Das hatte sein Freund nicht verdient. Endlich fand er den richtigen Werwolfbanntrank und hoffte, dass dieser die Rückverwandlung einleiten würde. Mit einem gemurmelten Befehl erhitzte er den Trank, den er zuvor in einen Becher geschüttet hatte. Jetzt kam der schwierigste Teil. Wie brachte er den wütenden Werwolf dazu, diesen Trank zu sich zunehmen. Der Werwolf tobte immer heftiger auf seinem Bett herum. In Severus hatte er sozusagen sein Abendessen gesehen und wollte sich auf ihn stürzen. Seine animalischen Instinkte trieben ihn zu immer größeren Kraftanstrengungen, um den Fesseln zu entkommen. Severus hoffte, dass sie hielten. Dann hob er den Zauberstab und sagte "Stupor". Der Werwolf lag augenblicklich ruhig. Severus wusste, dass Werwölfe hinterlistig waren. Er näherte sich vorsichtig dem Bett und berührte die erstarrte Schnauze des Werwolfes kurz mit dem Zauberstab. Der Werwolf bewegte die Augen nicht. Ein gutes Zeichen, dass der Fluch ihn wirklich komplett gelähmt hatte. Als Severus die Schnauze mit dem Zauberstab berührt hatte, um den Lähmzauber teilweise zurückzunehmen, zog der Werwolf sofort die Lefzen hoch und fletschte die Zähne. Severus hatte einen langen Schlauch mitgebracht. Den versuchte er dem Werwolf zwischen die Zähne zu stecken, aber es gelang ihm nicht sofort. Der Bann hatte zwar sogar den Kopf der Bestie fixiert, aber er schnappte nach dem Schlauch und der rutschte immer wieder aus seinem Maul heraus. Da klopfte es an der Tür.

Wer, verdammt noch mal, musste ausgerechnet jetzt kommen? Er öffnete und Cassy stand vor der Tür und wollte Lupin sprechen. Er konnte sie jedoch abwimmeln, aber sie hatte das dumpfe Grollen gehört, dass der Werwolf in diesem Moment ausgestoßen hatte. Er war erleichtert, dass sie ohne Fragen wieder ging.

Dann hatte er es geschafft. Der Schlauch war im Hals des Werwolfes und Snape hatte die Schnauze wieder mit dem Bann belegt. Er band die Schnauze mit dem Schlauch darin fest zu. Mit dem Lähmfluch konnte der Werwolf nicht schlucken, also musste er den Bann für die Schnauze wieder lösen, nachdem er sich vergewissert hatte, dass das Band um die Schnauze des Werwolfes fest genug war. Der Rest ging problemlos. Er schüttete den heißen Trank langsam in den Schlauch und der Werwolf musste ihn schlucken, ob er wollte oder nicht. Es dauerte eine Weile und zu Severus' Erleichterung, begannen die Haare des Werwolfes sich zurückzubilden. Er hob den Lähmzauber auf und zog vorsichtig den Schlauch aus dem Maul des Wolfes. Das Band, das sie zugehalten hatte, fiel von selbst herunter, nachdem sich die Schnauze und alle weiteren Merkmale völlig zurückverwandelt hatten, als hätte es sie nie gegeben.

Remus war wieder ansprechbar, aber er war sehr erschöpft. Er blickte sich im Bett um und meinte mit Blick auf die Fesseln. "Hat wohl doch nicht so hingehauen?" Severus schüttelte traurig den Kopf und befreite den Freund sofort von den magischen Schnüren. "Ich werde das noch hinbekommen, Moony. Glaube mir. Das ist ein Versprechen." Dann stellte er Remus die Phiole mit dem restlichen Trank auf die Anrichte neben dem Bett und schärfte ihm ein, dass er in zwölf Stunden den nächsten nehmen müsse. Remus nickte müde. Er kannte das Ritual. Es begleitete ihn schon sein Leben lang. Er stellte sich den Chronometer, dass der ihn pünktlich wecken würde und schlief augenblicklich ein.

Severus stand noch einen Moment unschlüssig vor dem Bett von Remus. Dann holte er eine Decke, deckte Remus zu, verließ leise das Zimmer und ging zum Abendessen.